Auf dem Weg zu mehr reproduktiver Gerechtigkeit?
Der Rat der EKD bezieht in der Abtreibungsdebatte Stellung. Er empfiehlt zwar Änderungen im Strafrecht, bleibt aber hinter den Forderungen evangelischer Frauen zurück.
Der Rat der EKD hat sich dankenswerter Weise der Aufgabe angenommen, sich zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs zu äußern, die zurzeit in Deutschland intensiv diskutiert wird – und sich – entgegen zum Beispiel der Position der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD, PDF) – für ein „sowohl als auch“ ausgesprochen.
Die Bundesregierung hat im März 2023 eine „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ einberufen. In zwei voneinander getrennten Arbeitsgruppen werden sowohl „Möglichkeiten der Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches“ als auch „Möglichkeiten zur Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft“ diskutiert. Der Kommission gehören Expert*innen aus Medizin, Recht, Gesundheits- und Sexualwissenschaft sowie Psychologie an. Die Kirchen sind in der Kommission – anders als bei vergleichbaren Vorgängerprojekten – nicht vertreten.
Die Erklärung des Rates der EKD richtet sich zunächst an die entsprechende Arbeitsgruppe dieser Kommission, die um Stellungnahme auch der Evangelischen Kirche gebeten hatte. Zugleich bietet sie eine Grundlage für eine weiterführende innerevangelische Debatte. Eine Stellungnahme des Rates der EKD gilt nicht als verbindliches Recht, sondern entfaltet ihre Wirkung als Diskussions- und Arbeitsgrundlage für die EKD-Gliedkirchen und diakonischen Werke.
Evangelische Position(en)
Der Rat der EKD will zugunsten des Rechts des ungeborenen Lebens nicht vollständig auf den Gehalt von § 218 StGB verzichten, schlägt aber vor, dass Fristenlösungen – wie sie § 218a StGB auch regelt – nicht Teil des Strafgesetzbuchs sein müssen. Damit geht eine relative Vorordnung des Schutzes ungeborenen Lebens vor die Selbstbestimmungsrechte der schwangeren Person einher (Anm.: In der Stellungnahme wird „die“ Schwangere oder „schwangere Frauen (und Paare)“ genutzt). Zugleich formuliert der Rat in seiner Stellungnahme umfassende Forderungen an Staat, Gesellschaft und Kirchen und möchte einen „breiten und inklusiven gesellschaftlichen Diskurs“ (S. 1) befördern.
Ganz eindeutig weicht diese Stellungnahme des Rates davon ab, was nur fünf Tage zuvor die Mitgliederversammlung der EFiD beschlossen hat. Die EFiD fordern, § 218 StGB zu streichen und schließen sich damit auch in Rücksprache mit dem Deutschen Juristinnenbund dessen Grundsätzen an.
Trotz dieser unterschiedlichen Forderungen nach gesetzesverändernden Maßnahmen, bestehen jedoch bemerkenswerte Übereinstimmungen zu einzelnen Themen. Rat und EFiD fordern, dass gesellschaftlich und politisch Lebensumstände geschaffen werden müssen, die ein gutes Leben mit Kind(ern) ermöglichen. Der Rat stellt fest, dass dafür u.a. sichere Bedingungen hinsichtlich von Wohnraum, Kinderbetreuung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die finanzielle Unterstützung von Familien, aber auch ein insgesamt kinderfreundliches Gesellschaftsklima nötig sind (5.). Um diese Ziele zu erreichen, sieht der Rat der EKD auch die Kirchen in der Pflicht.
Reproduktive Gerechtigkeit als Leitbild?
Es ist klar, dass die Kirche und auch die Diakonie als großer kirchlicher Wohlfahrtsverband in diesem Sinne umfangreiche interne Veränderungsprozesse anstoßen oder beschleunigen müssten. Es ist ein großes Vorhaben, die Lebensumstände von („potentielle[n]“) Menschen mit Kindern insgesamt zu verbessern, und sehr erfreulich, dass dieses Anliegen in beiden evangelischen Stellungnahmen einen hohen Stellenwert einnimmt bzw. früh in beiden Dokumenten genannt wird (I. + III. bei der EKD, 2. Satz der EFiD). Dieser Selbstverpflichtung muss Folge geleistet werden, weshalb es nötig ist, konkrete Arbeitsschritte auf diesem Weg zu formulieren.
Hierbei könnte die vom Juristinnenbund eingebrachte Zielvorstellung der reproduktiven Gerechtigkeit Anknüpfungspunkte für eine dezidiert intersektional begründete und gestaltete Ausrichtung gesellschaftlicher und politischer Veränderungen bieten, die die EKD nach innen und außen mit antreibt. Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit, das insbesondere die Erfahrungen von marginalisierten Gruppen in die Diskussionen um den Schwangerschaftskonflikt einträgt, ruft dazu auf, sozio-ökonomische Kontexte und Bedrängnisse stärker mitzubedenken. In diesem Sinne handelt es sich durchaus auch um eine aktivistische Forderung, die sich der Rat der EKD implizit in seiner Stellungnahme zu eigen macht.
Fristenregelung, Beratung und Verhütungsmittel
Sowohl der Rat der EKD als auch die Evangelischen Frauen benennen deutlich die Möglichkeit einer Fristenregelung für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches (3. Satz der EFiD, EKD S. 1 und Abschnitt 11). Der Widerspruch zwischen der StGB-“Logik“ eines Straftatbestands und einer anschließenden Ausnahmeregelung wird deutlich, wie ihn auch der Juristinnnenbund schildert (s. Abschnitt D hier). Ein möglicher alternativer Gesetzesort könnte, so die EFiD, das Schwangerschaftskonfliktgesetz sein, in dem schon jetzt die in § 218a (4) StGB genannte Beratung expliziert wird (in Abschnitt 2 „Schwangerschaftskonfliktberatung“ bzw. §§ 5–11).
Hier unterscheiden sich die Positionen von Rat und EFiD jedoch deutlich: Der Rat plädiert für eine Beratungspflicht, die EFiD jedoch für einen Rechtsanspruch auf Beratung (3. Satz der EFiD, IV. in der EKD-Stellungnahme). Der Rat begründet sein Votum für eine Pflicht zur Beratung im Schwangerschaftskonflikt damit, dass es bei der Abwägung nicht nur um „die Schwangere“ gehe und daher ein solcher Beratungsprozess nötig sei. Eine Pflicht sei auch notwendig, um überhaupt genügend Beratungsstellen vorzuhalten.
Einig sind sich EFiD und Rat der EKD in der Forderung nach kostenfreien (!) Verhütungsmitteln. Bisher gibt es bspw. für die „Pille“ nur eine Kostenübernahme / Erstattungsmöglichkeit bis zum 22. Lebensjahr. Das „für alle“ der EKD-Stellungnahme ist also auch ein gesundheitspolitisches Aufbruchssignal und bedeutet außerdem, dass hier entsprechende Konsequenzen für kirchliche / kirchennahe Versorgungskassen zu ziehen wären, sofern dies bisher nicht schon der Fall ist.
Die Bedeutung der Religion
Beide Stellungnahmen würdigen die Bedeutung, die verschiedene „kulturelle Hintergründe und migrantische Perspektiven“ (EKD, 7.) haben, die EFiD fordern, das sexuelle Bildung hier Rücksicht nehmen müsse (6. Satz, EFiD). Der Rat wiederum ist offenbar bemüht, sowohl Erfahrungen aus Krankenhäusern wahrzunehmen als auch den Kultur-Begriff antirassistisch zu reflektieren (vgl. u. a. Susan Arndt: Rassismus begreifen, Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen, München 2021, 338–340). Wäre es nicht zudem auch notwendig, in diesem Kontext explizit verschiedene religiöse Einflüsse zu benennen? Spräche nicht insbesondere die durch die beiden Stellungnahmen erneut öffentlich dokumentierte evangelische Uneinigkeit für eine solche Anerkennung unterschiedlicher religiöser Positionierungen, die für den Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch entscheidend sind?
Die Arbeit an einer Stellungnahme des Rates der EKD ist komplex, langwierig und zeitsensitiv. Eine aktualisierte evangelische Positionierung – wie vorläufig auch immer, wie der Rat betont – war sowohl für die Debatte der Regierungs-Kommission als auch für die weitere gesellschaftliche Diskussion dringend notwendig. Dass ihre Veröffentlichung so eng mit der Stellungnahme der Evangelischen Frauen korrespondiert, lässt Fragen nach wechselseitigen Beeinflussungen und divergierenden inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zu.
Der Vergleich beider Stellungnahmen zeigt nicht zuletzt, dass die EFiD auch darin, dass sie von schwangeren Personen und nicht lediglich Frauen schreiben, bewusst den aktuellen feministischen Diskurs rezipieren, und auch, dass der tendenziell geschlechterparitätisch besetzte Rat der EKD in dieser Frage zu anderen Ergebnissen kommt als ein evangelischer Dachverband, der sich – so die Selbstaussage – für Frauen und Personen jenseits der geschlechtlichen Binarität einsetzt.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat in der vergangenen Woche eine ausführliche Stellungnahme zur Abtreibungsgesetzgebung veröffentlicht (vollständiger Text als PDF). In einer Reihe von Beiträgen diskutieren verschiedene Autor:innen Aspekte der EKD-Stellungnahme in den kommenden Tagen in der Eule. A. Katarina Weilert fragt hier in der Eule, für wessen Schutz sich die EKD in ihrer Stellungnahme eigentlich ausspricht.
Alle Eule-Artikel zum Thema Schwangerschaftsabbruch.
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