Eine „Werkstatt“ als Auftakt
Eine Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum befasst sich mit den Ergebnissen der „ForuM“-Studie. Soll der Kulturwandel gelingen, braucht es mehr dieser Begegnungen.
„Für die meisten Betroffenen hat sich in ihrer persönlichen Wahrnehmung zwölf Monate nach Veröffentlichung der Studie […] wenig zum Positiven verändert“, erklärt der Betroffenenbeirat im Erzbistum Freiburg in dieser Woche laut KNA. Vor einem Jahr hatte ein 600-seitiger Bericht „die Dimension von sexualisierter Gewalt und deren jahrelanger Vertuschung schonungslos“ offengelegt. Personalakten wurden durchsucht und hunderte Zeug:innen befragt. Aufregung erregte der Freiburger Bericht im Frühjahr 2023 vor allem, weil dem inzwischen emeritierten Erzbischof Robert Zollitsch, der von 2008 bis 2014 auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) war, eine prominente Rolle bei den Vertuschungen von Missbrauchsverbrechen zukommt (wir berichteten).
Nach einem Jahr Freiburger Missbrauchsstudie ziehen die Sprecher:innen von Betroffenen im Erzbistum eine „ernüchternde Bilanz“. Das lässt über Konfessionsgrenzen hinweg fragen: Wie wird die evangelische Kirche im Frühjahr 2025 auf die Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ über sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie zurückschauen? Werden Betroffene in einem Jahr sagen können, dass „es heute keine Vertuschung mehr geben kann“? Wie werden sie auf die Bemühungen von Kirche und Diakonie zurückschauen, die Ergebnisse der „ForuM-Studie“ zu verarbeiten?
Mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Missbrauchsverbrechen und den (häufig ausgebliebenen) kirchlichen und diakonischen Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt ist es nicht getan, das betonen nicht zuletzt die „ForuM“-Forschenden (wir berichteten). Wissenschaftliche Aufarbeitung kann die persönliche Aufarbeitung von Betroffenen und die institutionelle Aufarbeitung von Kirche und Diakonie sicher orientieren und damit auch fördern, darf aber nicht mit der Aufklärung von konkreten Taten, der (auch rückwirkenden) Sanktionierung von Täter:innen und der Anerkennung des Leidens von Betroffenen verwechselt werden. Dafür entscheidend ist, wie in der evangelischen Kirche und Diakonie mit den Ergebnissen der „ForuM-Studie“ weiterverfahren wird.
Vom 12. bis 14. April 2024 lud die Evangelische Akademie Loccum im Anschluss an „ForuM“ zu einer „Werkstatt Aufarbeitung“ ein. Dass es der Akademie der Hannoverschen Landeskirche zufiel, zur ersten größeren Tagung nach Veröffentlichung der evangelischen Missbrauchsstudie einzuladen, ist dabei eine bemerkenswerte Ironie dieser Tage. Erst im März hatte eine unabhängige Kommission einen Bericht über die jahrelange Vertuschung von sexualisierter Gewalt in der Kirchengemeinde Oesede veröffentlicht (s. #LaTdH vom 3. März). Sichtbar wurde auch das Versagen des hannoverschen Landeskirchenamtes und des Landesbischofs, Ralf Meister (s. hier & hier in der Eule).
„Werkstatt Aufarbeitung“
Die Vorbereitung der Loccumer Tagung wurde gleichwohl lange vor „ForuM“ und Oesede vom Studienleiter für Theologie und Ethik Christian Brouwer gemeinsam mit Betroffenenvertreter:innen begonnen. Im Fokus der Tagung sollten die „Möglichkeiten umfassender Aufarbeitung“ stehen (Tagungsprogramm als PDF). Zu den Referent:innen der Tagung gehörten u.a. Martin Wazlawik, Professor an der Hochschule Hannover und Koordinator des Forschungsverbunds, der die „ForuM-Studie“ erstellt hat, die Sprecher:innen der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum in der EKD (BeFo), Nancy Janz und Detlev Zander, der Leiter der Fachstelle sexualisierte Gewalt im EKD-Kirchenamt, Helge Staff, Akteur:innen aus landeskirchlichen Fachstellen und Leitungspersonen aus Diakonie und Kirche, inklusive Landesbischof Ralf Meister, der an einem Podium am Freitagnachmittag teilnahm.
Personaltableau und Tagungsdesign versprachen die Einbindung von Betroffenen. Betroffene können, so Nancy Janz zu Beginn der Tagung, „eine Perspektive einbringen, die der Organisation sonst fehlt, nicht nur aus der Opferrolle heraus“, sondern als Expert:innen auf dem Themenfeld. Immer wieder schalteten sich Betroffene aus dem Kreis der Teilnehmer:innen mit Fragen und Hinweisen in das Tagungsgeschehen kritisch ein. Eine notwendige Korrektur der zumeist kirchenamtlichen Vorträge.
Der Rahmen einer Akademietagung an sich ist dabei sicher eine Herausforderung: Die Ansprüche von Betroffenen, Perspektiven von Kirchenmitarbeitenden, Leitungskräften und Forschenden und eine Fülle von fachlichen Informationen und Diskussionsgegenständen werden in einem prinzipiell öffentlichen Forum miteinander verhandelt. In den Austauschrunden der Teilnehmer:innen wurden nicht nur unterschiedliche persönliche Kenntnisstände, sondern auch Defizite der unterschiedlichen Kirchen und diakonischen Werke sowie Desiderate auf Handlungsfeldern der Aufarbeitung offenbar. Dies an zweieinhalb vollgepackten Tagungstagen in der Umgebung einer evangelischen Akademie mit ihren spezifischen Eigenheiten miteinander vermitteln zu wollen, ist eine Unternehmung, die nicht vollständig gelingen, aus der man aber für künftige Tagungen und Foren zur sexualisierten Gewalt lernen kann.
Martin Wazlawik erinnerte während seines Eingangsvortrags über die „ForuM-Studie“ daran, dass Aufarbeitung einen „Kontrollverlust“ für die Institution beinhalte: „Aufarbeitung ist immer ein öffentlicher Prozess.“ Zugleich sollten sich insbesondere Betroffene auf einer Tagung zu sexualisierter Gewalt sicher fühlen. Auch Mitarbeitende von Kirche und Diakonie, deren Handeln in Studien und Berichten wie „ForuM“ und zu Oesede zum Teil scharf kritisiert wird, benötigen Foren für den kollegialen Austausch. Fehler und Defizite müssen geäußert werden können, ohne „unter die Räder zu kommen“. Zwischen diesen Polen changierte der Austausch unter den Teilnehmer:innen insbesondere in den Kleingruppenphasen.
Das Tagungsdesign sah nach einer eingehenden Befassung mit Ergebnissen der „ForuM-Studie“ die Vorstellung von mehreren kirchlichen Handlungsfeldern vor: Helge Staff von der Fachstelle im EKD-Kirchenamt informierte über die regionalen Aufarbeitungskommissionen, die sich bis März 2025 konstitutieren sollen (wir berichteten). Auf einem Podium über die (unabhängige) Begleitung von Betroffenen bei ihren Auseinandersetzungen mit der Institution Kirche sprachen Nancy Janz, Lisa Meyer (Pseudonym, Betroffene aus der Missbrauchsstudie Oesede) und Claudia Chodzinski, die als kirchenunabhängige Beraterin Betroffene der Hannoverschen Landeskirche bei ihren Bemühungen um Anerkennung des Leids und ihrer persönlichen Aufarbeitung begleitet.
Über „Prävention und Erinnerungskultur“ sprachen Sabine Schwemm (Landeskoordinatorin Verschickungsheime Niedersachsen) und Rainer Kluck von der Stabsstelle Prävention der Nordkirche. Die – vor allem juristischen – Herausforderungen für die Diakonie erläuterte Jens Lehmann, bisher juristischer Vorstand des Diakonischen Werks evangelischer Kirchen in Niedersachsen und ab Mitte des Jahres neuer Präsident des Landeskirchenamts der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Am Samstagvormittag stellte Birgit Mangels-Voegt das Beteiligungsforum der EKD (BeFo) vor. Die Politikwissenschaftlerin hat das Beteiligungsmodell entworfen und wirkt dauerhaft als Moderatorin des BeFo.
Kulturwandel und/oder Strukturreform
Die Tagung bemühte sich, die Ergebnisse der „ForuM-Studie“ zur Kenntnis zu nehmen. Gleichwohl wurde deutlich, wie schwer es den kirchlichen Akteur:innen fällt, die in der Studie zusammengeführte Kritik am eigenen Handeln wahr- und ernstzunehmen. Wenn Mitarbeiterinnen der kirchlichen Fachstellen und Akteur:innen aus der Diakonie die eigene Arbeit ihren Kolleg:innen und Vorgesetzten vorstellen, gerät ihr Bedürfnis nach Anerkennung ihrer Bemühungen leicht in den Vordergrund. Zugleich machten Betroffene immer wieder deutlich, dass deren Früchte bei weitem noch nicht ausreichen.
„Für Aufklärung, Intervention und Prävention muss Geld in die Hand genommen werden“, forderte Detlev Zander auf dem Podium erneut ein. Von den Mitarbeitenden der Fachstellen hörte man an dieser Stelle keinen Widerspruch. Aber hörten auch diejenigen hin, an die diese Forderung vor allem adressiert ist? Mitglieder der Hannoverschen Landessynode waren auf der Tagung nicht aktiv und die anwesenden Leitungskräfte von Kirche und Diakonie warben um Geduld.
Es bräuchte, stellte Landesbischof Meister bei der Podiumsdiskussion am Freitagnachmittag fest, einen „Kulturwandel“, ohne den die vielfältigen kirchenamtlichen Anstrengungen fruchtlos bleiben müssten. Dass die Rede von einer notwendigen kulturellen Transformation, die abzuwarten sei, zu einer Ausrede werden kann, konkrete strukturelle Veränderungen nicht ausreichend zügig und konsequent anzugehen, stand damit als Befürchtung im Raum. Ergebnis eines solchen Kulturwandels müsse es sein, die Realität sexualisierter Gewalt als „selbstverständlichen Teil des Institutionenwissens“ mitzuführen: „Es ist normal, dass ich mich mit dem Thema befasse.“
Kulturwandel und Strukturveränderungen laufen, so ein Ergebnis der Tagung, jedoch nicht nacheinander ab, sondern sind als wechselseitige Prozesse aufeinander bezogen. Als ein Beispiel wurde die Erstellung von Schutzkonzepten für Kirchgemeinden genannt, die „partizipativ und situationsgenau“ sein müssten. Wenn in Gemeinden und Einrichtungen unter breiter Beteiligung von Kirchenmitgliedern, Ehren- und Hauptamtlichen sowie unter Einbezug des Sozialraums an Schutzkonzepten gearbeitet wird, leistet dies selbst einen Beitrag auch zur kulturellen Transformation. Wo Schutzkonzepte aber unter Ausschluss einer weiteren Öffentlichkeit im Schnellverfahren per Copy-und-Paste erstellt würden, blieben sie in ihrer Wirkung beschränkt.
Was ist (gute) Aufarbeitung?
Im Eule-Podcast gibt Professorin Friederike Lorenz-Sinai, die an der „ForuM“-Studie mitgearbeitet hat, Auskunft über die Frage, was (gute) Aufarbeitung ausmacht. Im Gespräch mit Eule-Redakteur Philipp Greifenstein geht es darum, woran die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche bisher gescheitert ist – und wie sie gelingen kann.
Ein Beitrag zum Kulturwandel
Die Loccumer Tagung hat gezeigt, wie wichtig es ist, Kirche und Diakonie nicht im engen Kreis vor sich hin arbeiten zu lassen. Auch wenn die Einsprüche von Betroffenen und aus der Öffentlichkeit für die handelnden Personen in der Institution keinesfalls „leicht zu verdauen“ sind, kann der Austausch doch einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis leisten. Betroffenen wird dadurch transparent, unter welchen Einschränkungen Mitarbeitende in den Fachstellen selbst agieren und an welchen organisationellen und juristischen Fragestellungen gearbeitet wird. Leitungskräfte und Mitarbeitende können anhand der Betroffenen-Expertisen überprüfen, ob und wie ihre Arbeit Früchte trägt.
Von solchen Foren braucht es in der evangelischen Kirche sicher mehr und die Akademien können, wenn sie es denn wollen, Orte solcher (Selbst-)Verständigung sein. Wie in Loccum versucht, bedarf es dazu der Betroffenen als aktive Teilnehmer:innen und Referent:innen. Ein Setting, bei dem Kirchenvertreter:innen vortragen und Betroffene zuhören, ist zu vermeiden. Auch der Vernetzung von Akteur:innen aus unterschiedlichen kirchlichen und diakonischen Handlungsfeldern und von verschiedenen Ebenen der Institution können Akademie-Tagungen dienen. Dass hier, insbesondere beim Wissens- und Erfahrungstransfer über Landeskirchengrenzen hinweg, noch viel zu tun ist, hat die Loccumer Tagung gezeigt.
(S)eine Grenze findet das Format Akademie-Tagung sicher, wenn es um die Vernetzung von Betroffenen geht. Die Notwendigkeit eines solchen Erfahrungsaustauschs wurde auf der Loccumer Tagung mehrfach bekundet. Die Betroffenenforen, die den neuen regionalen Aufarbeitungskommissionen zugeordnet sind und zu denen in den kommenden Monaten regional von den Landeskirchen und Diakonie-Landesverbänden eingeladen wird, können diese Lücke vielleicht ein Stück weit schließen. Darüber hinaus braucht es jedoch, erklärten Betroffene mehrmals, niedrigschwellige und an ihren Bedürfnissen entlang gestaltete Veranstaltungen, zu denen auch Menschen ohne Vorwissen und „kirchlichen Stallgeruch“ Zugang finden können.
Eine umfassende Bearbeitung des Themenfeldes verlangt zudem die Differenzierung der unterschiedlichen Dimensionen von Aufarbeitung (Aufklärung, Intervention, Anerkennung, Prävention), die sich bei der Planung und Durchführung von Foren und Tagungen niederschlagen muss. Unter der schillernden Überschrift „Aufarbeitung“ wird viel verhandelt, das einer gründlichen Betrachtung wegen methodisch voneinander getrennt diskutiert werden müsste. Was kann ich als Teilnehmer:in einer Tagung erwarten? Welche konkreten Fragen werden im Fokus stehen, welche Probleme werden adressiert? Welche Themenvielfalt und welches Tempo können die anvisierten Teilnehmer:innen „mitgehen“?
Die Loccumer „Werkstatt Aufarbeitung“ war ein gelungener Auftakt zu einer verstärkten Arbeit am Themenfeld sexualisierte Gewalt in Akademien, Kirchenkreisen und -Gemeinden und Verbänden, weil sie deutlich gemacht hat, dass eine konstruktive Begegnung möglich ist. Die Weiterarbeit als „Werkstatt“ zu verstehen, wo eben nicht alle Mühen direkt in zufriedenstellende Ergebnisse münden und die als ein Raum für das gemeinsame Streiten entworfen wird, kann dabei allen Mut machen, die sich auf diesen schwierigen Weg begeben.
Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“ .
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Philipp Greifenstein hat als teilnehmender Beobachter an der Tagung in Loccum teilgenommen. Alle entstandenden Kosten hat Die Eule übernommen. Solche Dienstreisen sind nur durch die Unterstützung unserer Abonnent:innen möglich.