Angst(t)räume?! – Anti-Gender-Diskurs und Migration
Die Radikalisierung der Migrationspolitik und der Anti-Gender-Diskurs bauen auf den Verlustängsten von Menschen auf, die politisch aufgestachelt und instrumentalisiert werden. Was kann man dagegen tun?
In der hiesigen Fußgänger*innenzone bin ich jetzt schon zwei Mal am Stand von „Stoppt Gendern in Niedersachsen“ vorbeigekommen. Ich merke: Ich belächele die Menschen – ich lese sie als ältere Männer –, die sich dafür in den Regen stellen, und bin gespannt, wie viele Menschen in ihrer „Volksinitiative“ denn wirklich mitmachen wollen und dem Aufruf zur Unterzeichnung einer Petition an den niedersächsischen Landtag folgen. Dass es hier auch bayerische Verhältnisse geben könnte, bezweifle ich. Aber vielleicht ist es wirklich nur eine Frage der Zeit.
Es ist ja so einiges ins Rutschen gekommen in letzter Zeit: Wer hätte vor zehn, zwölf Jahren gedacht, dass sich SPD, Grüne, FDP und die Union darin einig sind, es brauche Grenzkontrollen an deutschen Grenzen. Was ist aus den hehren europäischen Werten wie Partnerschaftlichkeit und Freizügigkeit geworden? Räumungen von Kirchenasylen, Grenzkontrollen, verstärkte Abschiebungen: Alles, weil parlamentarische und außerparlamentarische Nazis alle Probleme des Landes auf Migrant:innen als Ursache schieben. Sicher, an den wackeligen Brücken und verspäteten Zügen haben „die Flüchtlinge schuld“ und nicht ein über Jahrzehnte andauernder Investitionsstau!
Gender und Migration sind zweifellos die beiden bestimmenden politischen Buzzwords dieser Tage, die vor allem von rechten und konservativen Akteur:innen ins Spiel gebracht werden. Gibt es Gemeinsamkeiten des Anti-Gender-Diskurses und der Debatten über Migration? Was können wir aus ihnen lernen, um an einer gerechten Gesellschaft zu bauen?
Die Angst vor dem (Macht-)Verlust
Manchmal habe ich den Eindruck, viele Menschen wollen nicht (mehr) menschenfreundlich sein, sondern menschenfeindlich. Oder wie kommt es, dass Hetze gegen Migrant:innen – wie z.B. vom CDU-Vorsitzenden und -Kanzlerkandidaten Friedrich Merz – ganz ohne Scham geäußert wird? In vielen Kreisen ist es auch völlig ok und wird offenbar als lustig empfunden, sich über „das Gendern“ lustig zu machen. Auch in der Kirche, auch unter Menschen, die eigentlich wissen müssten, wie verletzend und schal ihre Witze sind („Muss man das jetzt auch gendern?! Ha ha ha ..“).
Nur nebenbei: Es geht ja nicht „nur“ um Sprache! „Nur“ passt an dieser Stelle nicht. Durch Sprache schaffen und ordnen wir Wirklichkeit. Sprache hat Gestaltungskraft. Das müssten wir gerade in der Kirche doch wissen (s. „Sektion F“ von April 2023). Menschenfreundlichkeit heißt auch, die eigene Sprache darauf hin zu hinterfragen, wo sie Menschen verletzt, und sich in dieser Hinsicht auf den Weg zu machen, auch wenn es einer*m erst mal schwerfällt.
Aber den Willen zur Veränderung bringen scheinbar immer weniger Menschen auf. Expert*innen erklären das psychologisierend mit den Verlustängsten der Menschen. Wähler*innenuntersuchungen zeigen immer wieder, dass Rechtspopulisten und -extreme von Menschen gewählt werden, die Angst haben, erst noch „abgehängt“ zu werden. Es gibt angesichts der vielen Krisen in unserer Zeit ein Gefühl dafür, dass es mit unserem (unglaublichen) Wohlstand so nicht weitergeht. Und das ist wahrscheinlich nicht ganz falsch.
Die Angst vor dem Wohlstandsverlust ist ein Reflex auf eine ungerechte Verteilung von Besitz und Entlohnung. Wenn das Grundgefühl davon geprägt ist, zu kurz zu kommen, bekommen Fragen danach, wer womöglich „unverdient“ auch etwas bekommt, obwohl dafür vielleicht „weniger geleistet“ wird, eine andere und schärfere Brisanz. Natürlich gibt es eine soziale Schere. Aber gegen diese Ungerechtigkeit ist eine konsequente Umverteilungspolitik wohl effektiver, als Ängste vor jenen zu schüren, die wenig oder nichts haben. Die Angst vor dem Wohlstandsverlust ist nicht vollständig irrational, aber sie wird politisch absichtlich falsch kanalisiert.
Angst vor dem Verlust der (eigenen) Identität
Aber es geht wohl auch um den Verlust von Eindeutigkeiten. Geschlechterbilder des 19. Jahrhunderts, die vermeintlich biologisch festgeschrieben wären und so quasi seit der Schöpfung in Geltung stünden, geraten ins Wanken. Es wird lieber nicht genauer betrachtet, dass die Häuslichkeit von Frauen überhaupt erst mit einem breiteren Aufkommen des Bürger*innentums idealisiert und möglich wurde und die westdeutsche Wirtschaftswunder-Familie mit dem sogenannten „Ernährermodell“ nicht seit Anbeginn aller Zeiten bestand. Festlegungen machen alles leichter. Komplexität strengt an.
Sowohl bei Migration als auch im Anti-Gender-Diskurs geht es um Identitätsverlustangst. Das kann ich strukturell nachvollziehen. Ich möchte auf wichtige Aspekte, die mein Leben ausmachen, auch nicht verzichten. Ob das mein Feeling als „Nordlicht“ ist, das die Schleswig-Holsteinische Kampagne, „der echte Norden“ zu sein, konterkariert; oder ob das der blöde Spruch „Ach du zeigst, wie man Mandalas malt?“ ist, wenn ich erzähle, ich dass ich an der Religionslehrer*innenausbildung beteiligt bin. Das trifft mich schon auch. Aber nicht so sehr, wie wenn mich jemensch durchgängig misgendern würde, also mit einem falschen Pronomen oder Namen anspräche.
Anscheinend nehmen es Menschen als Angriff auf sie in ihrer eigenen Identität wahr, wenn eine andere Person sagt: „Ich bin weder männlich noch weiblich.“ Eigentlich betrifft das ja nur diese Person. Anderen Personen bleibt es unbenommen, sich männlich oder weiblich zu identifizieren. Was geht denn verloren, wenn jemensch nicht binär oder cis ist? Welche Konsequenzen hat die Selbstidentifikation einer anderen Person für Dein Leben? Eine Antwort darauf bleiben die „Gender-Kritiker*innen“ häufig schuldig.
Auch Männer leiden unter dem Patriarchat
Und doch: Zumindest Männer haben doch in den letzten Jahrzehnten „Verluste“ einstecken müssen: Durch die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern, durch einen Feminismus, der das Patriarchat nicht seinem Schicksal überlässt, sondern aufbegehrt, wurden manche Alleinherrschertendenzen von Männern durchbrochen und Neues ist entstanden. Ich kenne viele Menschen, die das nicht als Verlust, sondern als Bereicherung, nicht als „Niederlage“, sondern als Gewinn empfinden. Aber ja, Macht teilen, das fällt schwer.
Im SPIEGEL (€) reagierte vor wenigen Tagen Ralf Neukirch sehr angegriffen, weil seine Kollegin Elisa von Hof laut von einer Welt ohne von Männer geträumt hatte (€). Elisa von Hof hatte – meiner Meinung nach zu recht – festgestellt, dass „fast alle großen Probleme eine Gemeinsamkeit teilen“, nämlich Männer als Täter. Neukirch verwahrt sich in seiner Replik gegen „Männerhass“ und macht darauf aufmerksam, dass auch Männer und Jungen Opfer von Gewalt werden und nicht allein Täter sind. Und er kritisiert, dass bei Frauen das strukturelle Moment von Gewalt in den Vordergrund gerückt werde, bei Gewalt an Männern und Jungen aber von Einzelfällen gesprochen würde.
In der Eule-Podcast-Episode mit Safiye Tozdan geht es auch um die sexualisierte Gewalt durch Frauen. Ein Aspekt, der in der Kirche sicher nicht so im Vordergrund steht. Besonders in der Evangelischen Kirche halten viele sich noch an vereindeutigenden Tätertypen (männlich, Pfarrer) und Betroffenentypen (weiblich, jugendlich) fest, obwohl die Forschung darauf aufmerksam macht, dass die Lage viel komplexer ist.
Trotzdem irrt Ralf Neukirch, weil er nicht ausreichend in den Blick nimmt, dass auch die Gewalt von Frauen an Jungen und Männern, zum Beispiel in der Erziehung oder in Pflegekontexten, sich in zutiefst patriarchal geprägten Systemen ereignet, die mitursächlich für die Gewalt sind. Auch Jungen und Männer sind Opfer des Patriarchats. Das ist keine neue Erkenntnis. Und spätestens der „Barbie“-Film im vergangenen Sommer hat popkulturell leicht zugänglich gezeigt, dass eine bloße Verkehrung der Verhältnisse auch nicht das Beste sein kann. Es geht nicht um eine Welt ohne Männer. Eine Befreiung von einengenden Geschlechterbildern für alle, wäre der beste Weg.
Wo sich Migrationskritik und Anti-Gender-Diskurs überkreuzen
Machen wir uns nichts vor: Damit wären jene Leute immer noch nicht zufrieden, für die das vermeintlich „Natürliche“ einer binären Geschlechterwelt das einzig Wahre ist, das es zu Geschlecht zu wissen gibt. Sie müssen wir weiter fragen: Wann hört es auf, dass Menschen anderen Menschen die Existenz absprechen? Warum kann nicht hingenommen werden, dass ein Mensch die eigene geschlechtliche Identität wohl am besten einschätzen kann? Wieso wird nach Beurteilungsmaßstäben für andere gesucht – und zwar nicht nur im genderspezifischen Marketing, sondern als Kriterium für die Anerkennung eines anderen Menschen als Mensch?
In den Migrationsdebatten ist eine Antwort auf diese Fragen leicht auf den Begriff zu bringen. Des Pudels Kern ist Rassismus. Rassismus ist der Glaube daran, manche Menschen seien aus fiktiv-biologistischen Gründen lebenswerter als andere. Das ist beim Anti-Genderismus ganz ähnlich.
Migrationsdebatte und Anti-Gender-Diskurs kreuzen sich noch auf andere Weise: Denn die Ablehnung von Zuwanderung wird teilweise damit rationalisiert, weil durch sie auch abzulehnende Geschlechterrollen wieder mehr Zulauf bekämen. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Von Rechten wird nun, um sich gegen Migration zu positionieren, eine Offenheit für Geschlechterdiversität gemimt. An dieser Stelle ist die Position rechter Migrationskritiker*innen in Deutschland wohl nicht konsistent.
Aus der Forschung über Radikalisierungsdynamiken wissen wir: Anti-Gender-Gedankengut ist oft ein Einstieg in weitere extrem rechte Gedankenwelten und Aktivitäten. Aus intersektionaler Perspektive betrachtet, steht für queere Migrant*innen mehrdimensionale Diskriminierung zu befürchten. Zudem migrieren gerade queere Personen, wenn sie in ihren Herkunftsländern unter politischen Druck geraten. Männer, die als Migrierte gelesen werden, werden als „Gefahr“ chiffriert und so zum Argument gegen Migration stilisiert.
Migrationsdebatten und Anti-Gender-Diskurs sind auf vielfältige Weise miteinander verzahnt. Rechte Politik nutzt Verlustängste von Menschen aus, verstärkt und instrumentalisiert sie. Die Angst(t)räume Anti-Gender und Migration sind miteinander verbunden: Es dreht sich alles um die Angst vor dem Verlust der eigenen Identität, die rassistisch oder patriarchal heteronormativ und biologistisch konstruiert wird. Was heißt das alles aber für kirchliche und the*logische Kontexte? Meiner Meinung nach muss es darum gehen, …
- nicht die Armut der einen gegen das Leben der anderen argumentativ aufzuwiegen: Ja, zu wenig Geld ist scheiße, aber Menschenleben sind eine andere Kategorie!
- Diskussionen und Experimente zu anderen Verteilungslogiken zu unterstützen: Wie jede Gemeinde mit ihrem Gemeindehaus schon eine Gemeinschaft mit geteiltem Eigentum ist, können wir Bestrebungen supporten, die anderes Wirtschaften mit weniger Ausbeutung einüben.
- aufzupassen, wo die „Vergangenheit“ idealisiert wird: Welche „Vergangenheit“ ist gemeint? Und aus welchen Gründen? Was war an ihr wirklich gut? Was vielleicht schlicht praktisch und was bequem, weil weniger komplex?
- Komplexitätsreduktionen zu kritisieren.
- die Erfahrung von binären cis-Geschlechtsidentitäten heterosexueller monogamer Personen nicht als die schöpfungsgemäße Form darzustellen: So wie es Dämmerung und Sümpfe gibt, gibt es auch zwischen verschiedenen Geschlechtern ein Spektrum. „Homosexualität“ und die sogenannte romantische Ehe wurden in ihrem heutigen Verständnis erst in den vergangenen 150 bis 250 Jahren geformt. Ebenbildlichkeit (be-)trifft jeden Menschen!
Alle Ausgaben von „Sektion F“ hier in der Eule.
Eule-Podcast Q & R mit Carlotta Israel
Wie können wir mit Mansplaining in der Kirche umgehen? Welche feministischen Themen sind für Theologie und Kirche wichtig? Kommt die (Frauen-)Quote? Im „Eule-Podcast Q & R“ beantwortet Carlotta Israel Fragen aus der Leser:innen- und Hörer:innenschaft der Eule.
Carlotta schreibt seit 2021 die Eule-Kolumne „Sektion F“ und ist vielfältig engagiert für einen intersektionalen Feminismus in Theologie und Kirche. In diesem Jahr wird sie mit dem Dorothee-Sölle-Preis ausgezeichnet.
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