Eine Bibel für alle Kinder – oder nur für Erwachsene?

Die „Alle-Kinder-Bibel“ will rassismus- und diversitätssensibel von Gott erzählen. Das gefällt nicht allen, doch wir brauchen unsere Kinder nicht vor Vielfalt zu beschützen.

Von vielen Leser*innen wurde die Veröffentlichung der „Alle-Kinder-Bibel“ herbeigesehnt. Nur zwei Wochen nach der Erstveröffentlichung gibt es die neue Kinderbibel aus dem Neukirchener Verlagshaus schon in einer zweiten Auflage. Zur Entstehung der Bibel als Teamwork mit Beteiligten aus Kirche, Theologie und Pädagogik sei unbedingt die entsprechende Folge des „Stachel & Herz“-Podcast empfohlen. Ebenso sehr wie die „Alle-Kinder-Bibel“ von einigen freudig erwartet wurde, wird sie von anderen für ihr Anliegen kritisiert, Vielfalt umfassend abzubilden. Denn in der Kinderbibel werden der Verlagsankündigung zufolge Bibelgeschichten nicht nur „einfühlsam und poetisch, lebendig und kindgerecht“, sondern vor allem „rassismus- und diversitätssensibel“ neu erzählt.

An der „Alle-Kinder-Bibel“ wird seit ihrem Erscheinen aufgrund dieses Anliegens zum Teil heftige Kritik geübt. Manche Kritik ist überhaupt nicht wert, auf sie näher einzugehen, weil sie erkennbar darauf beruht, den Bibeltext (welchen?!) als unveränderbar hinzustellen. Die „Alle-Kinder-Bibel“ versündige sich am Wort G*ttes, erklären solche Kritiker*innen. Die Bibel soll als ein Buch verteidigt werden, in dem exklusiv cis-heteronormative, weiße Menschen repräsentiert werden. So war die Bibel aber noch nie!

Dasselbe gilt für Kritik, die den Autor*innen der „Alle-Kinder-Bibel“ „wokes Vokabular und unbiblische Ethik“ vorwirft. Mit „unbiblischer Ethik“ ist natürlich die Queerfreundlichkeit der Kinderbibel gemeint und zur negativen Verwendung von woke habe ich im Januar ja schon geschrieben, dass sie bedeutet, „sich auf die Seite der Diskriminierenden zu stellen und die Augen vor verschiedenen Diskriminierungsstrukturen zu schließen.“

Andere Kritiken, wie z.B. die von Anna Lutz im christlichen Medienmagazin Pro und auf Instagram, betonen ihre grundsätzliche Sympathie für das Anliegen der „Alle-Kinder-Bibel“, bevor sie dann das Ergebnis als irgendwie zu kompliziert oder zu ambitioniert kritisieren. Der Teaser zu Anna Lutz‘ Kommentar fasst diese Haltung prägnant zusammen: „Die ‚Alle-Kinder-Bibel‘ ist antirassistisch, genderneutral und überhaupt in jedem möglichen Sinne inklusiv. Die Welt braucht ein Kinderbuch wie dieses. Und dennoch will das Projekt zu viel.“

Aus der intersektionalen Ausrichtung der „Alle-Kinder-Bibel“ nimmt Lutz also gleich zu Beginn zwei der drei „Ur-Kategorien“ von Intersektionalität auf, nämlich race und gender. Class wird von ihr überhaupt nicht benannt. Dass es sich um ableismuskritische Darstellungen handelt, wird im Fließtext nur an einer Stelle im Kontext der Befassung mit Sensitivity Reading benannt.

Ein Sensitivity Reading, also eine Lektüre durch Erfahrungsexpert*innen vor Veröffentlichung, die auf Diskriminierungspotentiale aufmerksam zu machen versucht, wäre vielleicht auch eine Idee für den Instagram-Post oder den Artikel von Anna Lutz gewesen, in dem verschiedene Hautfarben sehr unglücklich beschrieben werden. Auch „genderneutral“ ist ein unpassender Begriff, denn es geht eben nicht um eine „Neutralisierung“ von Geschlechtern, sondern im Gegenteil um Repräsentanz und Einbezug verschiedener Geschlechter.

Ach ja, die Grammatik!

Anna Lutz äußert große Anerkennung für das Anliegen und die geleistete Arbeit, sie findet vieles an der „Alle-Kinder-Bibel“ gut, auch die Darstellung von Vielfalt als „normal [… und] von Gott gewollt“. Und doch wärmt sie zwei altbekannte Thesen auf, um die neue Kinderbibel zu kritisieren: 1. die „Unvorlesbarkeit“ wegen der „gegenderten Sprache“ und 2. dass Kinder mit der abgebildeten und verschriftlichten Komplexität nicht umgehen könnten. Angesichts dessen, dass Lutz selbst das generische Maskulinum für die Autor*innen verwendet, ist eine Präferenz im persönlichen Sprachgebrauch erkennbar, die dann durch ihren zweiten Kritikpunkt plausibilisiert werden soll: Kinder und Vorlesende würden überfordert.

Lutz‘ zentrales Beispiel dafür, dass die „Alle-Kinder-Bibel“ „unvorlesbar“ sei, ist, dass in der Selbstvorstellung Gottes gegenüber Mose „dein*e Gott“ steht. Klassische Entgegnung: Auch Vanille-eis wird ausgesprochen und zwar mit der gleichen Pause (Glottisschlag) wie bei „dein*e“. Zweitens problematisiert sie, dass aus der Selbstbezeichnung Gottes als „queer“ im brennenden Dornbusch eine „Engführung“ resultiere, so dass Gott als schwul verstanden werden könnte. Wirklich problematisch wäre es hingegen, Gott exklusiv als schwul zu verstehen und darüber andere Aspekte von Queersein zu vergessen!

„Das Wort Gott mit einem weiblichen Artikel zu belegen wiederum liest sich doch dramatisch schlecht und ist gerade für Kinder, die gerade das Lesen lernen, maximal irritierend“, stellt Lutz außerdem fest und schlägt eine abwechselnde Nennung vor, wie sie auch in ihrem Artikel in Beispielen verwendet wird, also „Gott und Göttin. Herr und Herrin. Dann wäre doch zumindest der Grammatik Genüge getan.“ Ach ja, die Grammatik! Jede Person, die einmal – vielleicht sogar mit Kindern! – eine „der“-„die“-„das“-Nutella-Diskussion geführt hat, weiß darum, dass es offensichtlich Begriffe gibt, für die unterschiedliche Menschen verschiedene Artikel verwenden. Sogar der für Sprachkritiker*innen offenbar sakrosankte Duden bestätigt das!

Dass es bei G*tt eine andere Relevanz hat, von Geschlecht zu reden, ist aber offensichtlich. In einer Kinderbibel, in der Namen ein so großer Stellenwert zukommt, dass in ihr wieder konsequent von „Noach“ statt „Noah“ geschrieben wird, kommt „Gott“ auch die Funktion eines Eigennamens zu. Verschiedene Pronomen zeigen daher die innere Vielfalt G*ttes an. Ich befürchte vielmehr anders als Lutz – aber dafür habe ich persönlich keine Kinder befragt im Gegensatz zum „Alle-Kinder-Bibel“-Team übrigens -, dass eine Beidnennung („Gott und Göttin“) auf einen Dualismus hinausliefe, der nicht dem christlichen Gottesbild entspricht.

Das Ziel: Einfache und gendersensible Sprache

Anna Lutz schlussfolgert schließlich, dass die „Alle-Kinder-Bibel“ durch ihre Sprache doch ausschließe und nur dann zum Vorlesen geeignet sei, wenn man dabei alternative Begriffe verwendet. Damit sitzt sie einem Problem auf, das in der „Alle-Kinder-Bibel“ selbst thematisiert wird: Adultismus, d. h. erwachsene Menschen als Norm zu setzen und von da aus Kinder nicht wahrzunehmen oder ihre Fähigkeiten zu unterschätzen. Ziel der „Alle-Kinder-Bibel“ ist nicht allein, rassismus- und diversitätssensibel von G*tt zu erzählen, sondern Kinder in der Bibel stärker zu repräsentieren. Wer das ernst nimmt, wird Kindern auch eigene Gedankenleistungen und Gesprächsinitiative zutrauen.

Gendersensible Sprache per se als zu schwierig für Kinder darzustellen, unterstellt, allein Menschen mit einer hohen Sprach- bzw. Schriftkompetenz hätten ein Interesse daran, dass Geschlecht in Texten präzise ausgedrückt wird. Kinder, die sich diese Fähigkeiten erst erwerben, bleiben so genauso außen vor wie z.B. die Zielgruppen der „Leichten Sprache“: Menschen mit Sinnesbehinderungen, mit kognitiven Beeinträchtigungen und Sprachlernende.

Die Ideen von „Leichte Sprache“ und gendersensibler Sprache müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden, denn beiden geht es um Inklusion. „Kann man Leichte Sprache Gendern?“, fragt darum das Studienzentrum der EKD für Genderfragen und hat in einem Factsheet zusammengefasst, wie man „die Kriterien „Gendersensibilität“ und „Barrierefreiheit“ ausbalancieren“ könnte.

Werd‘ Du erstmal erwachsen!

Manche Kritik an der „Alle-Kinder-Bibel“ aber erschöpft sich nicht in Sprachkritik, sondern zielt darauf ab, die neue biblische Vielfalt wieder einem klaren Regelkatalog zu unterwerfen. Antirassismus sei zwar ein ehrenwertes Ziel, kann man dann lesen, sexuelle Vielfalt soll besser Tabu bleiben. Aber können Kinder tatsächlich so wenig mit geschlechtlicher und/oder sexueller Vielfalt umgehen?

Ich bin keine Expertin, aber im zweiten Buch meiner Eule-Kolumnenkollegin Daniela Albert „Kleine Kinder, starke Wurzeln“ finde ich Antworten zu Kindern und Geschlecht. Sie weist auf das Problem hin, dass Kinder quasi nirgendwo ohne geschlechtsspezifische Stereotype dargestellt werden bzw. Produktplatzierungen sehr starke Dichotomisierungen reproduzieren (S. 157 f.). Eine ausführliche Sammlung hierzu bietet u.a. @rosahellblaufalle auf Instagram.

Dass in der Folge Kinder jeden Geschlechts in ihrer Entfaltung eingeschränkt sind, weil jede Vorstellung von Männlich- oder Weiblichkeit einengt, verdeutlicht sie am Beispiel einer kleinen Carlotta – da habe ich einen kleinen positiven Namens-Bias (S. 159): Diese Carlotta klettert gern und spielt „Ritter“. Doch das hört eines Tages auf und sie äußert, lieber ein Junge sein zu wollen. In der Beispielgeschichte kommt in der Beratung heraus, dass Carlotta kein transidentes Kind ist, sie aber auch dann noch „Ritter“ mitspielen will, wenn die Jungs behaupten, dass Mädchen das nicht könnten. Zwischen zwei und fünf Jahren, so schreibt Daniela, sei Geschlechtsidentität ein großes Thema für Kinder (S. 161).

Für mich ist die Rede vom geschlechtsspezifischem Hang zu diesem oder jenem Spielzeug vor allem als soziales Konstrukt relevant, da ich nicht davon ausgehe, dass Biologie bzw. Genetik frei von soziokulturellen Einflüssen erforscht werden könnten. Daniela nimmt in ihrem Buch den Genderbegriff auf und weist damit auf genau diese soziale Dimension verschiedener Prägungen hin (S. 164). Ich würde vermutlich versuchen, weniger binär zu formulieren und statt „beide“ „alle Geschlechter“ vorschlagen (S. 162). Aber der Anspruch, gendersensibel zu erziehen ist genau der, den ich an meine eigene Erziehung stelle (S. 162f.).

Die Verbindung von antirassistischen, genderspezifischen, dis-/abilitysensiblen, queerfreundlichen, anti-adultistischen und weiteren Motiven in einer diversitätsbewussten „Alle-Kinder-Bibel“ ist ein wahres Geschenk. Und so lässt sich für diese verschiedenen Anliegen gut mit Danielas Worten sagen:

„Letztlich geht es ja auch bei der Frage nach gendersensibler [bzw. antirassistisch-intersektionaler] Erziehung darum, einen kleinen Menschen beim Wachsen und Werden zu begleiten und ihn so sein zu lassen, wie Gott ihn sich ausgedacht hat, anstatt ihn in eine Richtung zu zwingen […].“

Kindern durch fehlende Repräsentation in Kindermedien Diversität vorzuenthalten, in der Annahme, sie würden sie „einfach noch nicht verstehen“, scheitert an diesem Anspruch. Es ist Adultismus in Reinform, ihnen solche Anknüpfungspunkte zu verheimlichen, weil sie „zu schwer“ wären.

Dahinter verbirgt sich mindestens, dass es den Kritiker*innen eigentlich um etwas anderes geht: Wer diversitätsfeindlich ist, sucht sich entsprechend vereinfachende (Kinder-)Medien aus, damit Kindern überhaupt keine Referenzpunkte dafür gegeben werden, dass Leben facettenreich ist, dass G*tt kein alter weißer heterosexueller cis Mann ist und nur solche Menschen in der Bibel vorkommen. Wer meint, Kinder vor der „Komplexität“ von Vielfalt „in Schutz nehmen“ zu müssen, will dahinter nur seine Angst vor eben dieser Vielfalt verbergen – vielleicht sogar vor sich selbst. In jedem Fall ist die „Alle-Kinder-Bibel“ eine mehr als gelungene Möglichkeit, um neue und weitere Gesprächsimpulse für die Bibellese von Leuten jeden Alters mit verschiedenen Sinnen aufzunehmen.


Alle Ausgaben der Kolumne „Sektion F“ hier.

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