Fruchtbarer Schoß – Die #LaTdH vom 12. August
In der Debatte: Antisemitismus ist im Aufschwung, auch derjenige religiöser Prägung. Außerdem: Rockende Seelsorger_innen, heldenhafte Weißhelme, mächtige #digitaleKirche & Richard Rohr.
Zu den „höchst anspruchsvollen“, aber im Hinblick auf den christlich-jüdischen Dialog auch höchst unsensiblen bzw. unwissenden Aufsatz Joseph Ratzingers (aka Papst emeritus) zur „Gnade und Berufung ohne Reue“ (PDF-Download) meinten wir, hätte Benjamin Bartsch auf y-nachten alles Wesentliche aufgeschrieben (s. #LaTdH vom 29. Juli). Nun steht die Veröffentlichung des Textes in englischer und italienischer Sprache bevor, und damit nimmt die Debatte erst richtig Fahrt auf.
Im Grunde entspricht das alles einem unguten Bauchgefühl von mir, das sich im Angesicht der lauten Kritik am Antisemitismus von (jungen) Muslimen entwickelte. Wie sieht es eigentlich bei den Christen aus? Sind wir ehrlich so weit, dass religiöser Antisemitismus bei uns keine Rolle mehr spielt? In der Karwoche bin ich deshalb der Frage nach den Wurzeln christlichen Judenhasses im Neuen Testament nachgegangen.
Debatte
Der Schattenpapst brüskiert die Juden – Michael Meier (Tages-Anzeiger)
Michael Meier, Redaktor Religion des Züricher Tages-Anzeigers, fasst das Echo auf den unter unglücklichen Umständen enstandenen Text Ratzingers zusammen. Dieser wurde von Kardinal Kurt Koch in der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio veröffentlicht, obwohl er eigentlich für den internen Dienstgebrauch gedacht war. Der Schweizer Koch steht dem „Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen“ vor und deshalb qua Amt auch der „Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum“. Schon dies ist eine seltsame Regelung, sei’s drum.
Dass der Aufsatz nun ausgerechnet von Koch ins Spiel gebracht wird, haben wir mit Benjamin Bartsch (s.o.) schon kritisch bedacht. Kardinal Koch steht auch im Fokus eines weiteren Kirchenskandals: der gewünschten Kanonisierung des ehemaligen polnischen Primas Kardinal August Hlond, dem u.a. ebenfalls Antisemitismus vorgeworfen wird (wir berichteten ausführlich & in den #LaTdH vom 15. Juli). Michael Meier zitiert in seinem Artikel die zahlreichen Kritiker des Aufsatzes aus Theologie und interreligiösem Dialog.
Ausgerechnet der emeritierte deutsche Papst! Sein Aufsatz […] über das Verhältnis von Juden- und Christentum kann dieses nur verschlechtern. Christliche wie jüdische Gelehrte sprechen von Rückschritt und Regression. Als „anschlussfähig für religiösen Antijudaismus“ bezeichnet Papstberater Gregor Maria Hoff den Text. Für Walter Homolka, Rektor des Rabbinerseminars an der Universität Potsdam, öffnet er gar „das Gruselkabinett christlichen Hochmuts“ und baut mit am „Fundament für neuen Antisemitismus auf christlicher Grundlage“.
Zur Problematik rund um die sog. Substitutionstheorie, nach der die Kirche heilsgeschichtlich an die Stelle Israels getreten sei, hat Benjamin Bartsch in der Tat alles gesagt. In den Fokus rückt nun ein anderes seltsames Ungleichgewicht:
[Ratzinger/Benedikt] versteht die zionistische Staatsgründung Israels rein säkular, nicht aber theologisch – obwohl viele Juden im modernen Staat Israel das in der Bibel verheissene Land sehen. Die Zerstreuung des jüdischen Volks interpretiert Benedikt demgegenüber theologisch. Der Schweizer Jesuiten-Obere Christian Rutishauser hält es in der NZZ für problematisch, das Exil der Juden trotz der Schoah positiv zu deuten. Tatsächlich hätte man „nicht erwartet, von einem deutschen Theologen nach Auschwitz noch einmal so etwas lesen zu müssen“, wie der Theologe Michael Böhnke sagt.
Differenzierung tut not. Oder: Ratzingers schräge Bibelkunde – Philipp Graf (y-nachten)
Doch damit noch nicht genug der von Ratzinger angehäuften Missverständnisse: Über den gesamten Aufsatz hinweg setzt er die jüdische Bibel leichtfertig mit dem Ersten Testament der christlichen Bibel gleich. Was daran nicht stimmt? Dazu muss man sich die Entstehung des jeweiligen Kanons des Tanach und des Alten Testaments anschauen. Das hat Philipp Graf (@graf_ph) unter dem Hashtag #bibelnachhilfe getan.
AT und TaNaK offenbaren also eigenständige Perspektiven auf die Geschichte Gottes mit den Menschen, die angesichts des menschlichen Unwissens über das Ziel der Geschichte legitim bleiben und nicht aufeinander reduziert werden können. Die Eigenständigkeit der jüdischen Geschichtstheologie verbietet es, dem TaNaK durch die Gleichsetzung mit dem AT die christliche Perspektive aufzudrücken und ihn de facto zu christianisieren. […] Er hätte vor dem Schreiben seine sicherlich welk gelesene Vulgata-Ausgabe neben die Hebräische Bibel legen sollen, um diesen fundamentalen Unterschied zu bemerken.
Religiös begründeter Antisemitismus hat eine lange Tradition, der christliche Anteil an ihr ist naturgemäß älter als der muslimische. Beide sind in erstaunlicher Weise aufeinander bezogen. Erinnert sei an dieser Stelle an den elendigen Text „Unterdrückung: über Ausbeutung hinaus“ von Ulrich Duchrow, Theologieprofessor em. der Universität Heidelberg, der nun schon zwei Mal unter reger Beteiligung protestantischer Prominenz (Bedford-Strohm, Käßmann, Huber) und dank Beihilfe der EKD erschienen ist (s. #LaTdH vom 3. Juni). Auch der vermeintlich aufgeklärte Protestantismus ist vor antisemitischen Reflexen nicht gefeit.
Die doppelte Fremdheit
Eine ganz andere Wurzel hießigen Antisemitismus‘ ist der religiöse Analphabetismus – der als Schlagwort meines Wissens von Wolfgang Huber (s.o.) in Anlehnung an Jürgen Habermas ins Spiel gebracht wurde („Hat der Glaube noch Zukunft“, 2003). Jenes Phänomen, das mit der Menschen mit geringem (Erfahrungs-)Wissen in Sachen Religion gegenüber wenig schmeichelhaften Zuschreibung beschrieben wird, ist immer dann im Spiel, wenn – wie im Falle einer Radiomoderatorin – aus Missachtung oder Geringschätzung religiösen Traditionen und Ritualen gegenüber antisemitisches (und islamfeindliches) Potential erwächst.
Tobias Graßmann (@luthvind) wagt die Vermutung, dass es sich dabei um „Antisemitismus ohne Antisemiten“ handeln könnte. Sei’s drum: Die Fremdheit einer wachsenden Menge von Menschen allen religiösen Lebensgestaltungsmustern gegenüber trägt zur gegenseitigen Vorurteilsbildung erheblich bei. Diese „doppelte Fremdheit“ hat Andreas Fincke am Beispiel des Islams in Ostdeutschland hier in der Eule erklärt.
„Mit Hass auf Israel großgezogen“ – Dirk Löhr (Jüdische Allgemeine)
Dazu, die Zeichen anderer Religionen zu respektieren, hat der Thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke, @bodoramelow) im Vorfeld seines Besuches der KZ-Gedenkstätte Auschwitz aufgerufen. In Auschwitz diskutierte er mit jungen Juden und Muslimen aus Deutschland. Was der Ministerpräsident in die gegenwärtigen Antisemitismus-Debatten hineinspricht, ist grundiert von einer politischen Vernunft und Aufgeklärtheit, von der ich mir wünsche, sie würde weiten Raum greifen:
[Ramelow] macht für das Erstarken des Antisemitismus in Deutschland nicht allein Flüchtlinge aus muslimisch geprägten Ländern verantwortlich. Judenhass sei in Deutschland „immer präsent“ gewesen und mittlerweile „in der gesellschaftlichen Mitte angekommen“ und „wieder alltagstauglich“ […]
Antisemitismus dürfe nicht ausschließlich muslimischen Flüchtlingen zugeschoben werden, aber auch als Problem nicht aus dem Blick verloren werden.
Ramelow sprach sich zudem gegen verpflichtende Besuche in Gedenkstätten im Rahmen des Schulunterrichts aus. Diese hätten bei jungen Deutschen zu Selfies mit erhobenem rechten Arm geführt, was genauso schwer zu ertragen sei wie etwa der Fangesang „Juden Jena“ im Erfurter Fußballstadion. „Der Weg hin zu Respekt und Toleranz kann nur der Weg der persönlichen Erkenntnis sein, Verpflichtungen als Zwang sind da nicht hilfreich“ […]
„Das Tragen religiöser Zeichen – wie Kippa, Kopftuch oder Kreuz – zu respektieren, ist ein Schritt dahin, gesellschaftliche Vielfalt als Bereicherung zu empfinden und Toleranz auch zu leben.“
nachgefasst
#digitaleKirche: Ein Kommentar – Michael Greder (NThK)
Nachdenkenswert treibt Michael Greder (@derGreder) die Debatte um #digitaleKirche voran. Im Anschluss an diesen Artikel von mir zum Digitalen Ehrenamt differenziert er, was mit #digitaleKirche in unterschiedlichen Zusammenhängen gemeint sein kann. Außerdem legt er die Axt an die gewohnheitsmäßige Inanspruchnahme des „Priestertums aller Gläubigen“ durch die Digitalapostel:
Ich möchte auf die einseitige Verwendung des allgemeinen Priestertums aufmerksam machen. In erster Linie handelt das allgemeine Priestertum nicht von der Kommunikation der Gläubigen untereinander und auch nur vermittelt von kirchlichen Organisationsformen, sondern von der persönlichen Beziehung zu Gott. Die Funktion des Priesters als Mittler zwischen Gott und der Welt kann von jeder und jedem selbst ausgelebt werden. Das betrifft neben der persönlichen Gottesbeziehung auch die theologische Urteilsbildung.
Wenn also das Priestertum aller Gläubigen als theologischer Ausgangspunkt von Demokratisierungsforderungen genutzt wird, dann ist das nach Michael Greder nur fruchtbringend, wenn wir gleichzeitig neu entstehende Machtstrukturen reflektieren:
#digitaleKirche verliert ihr kritisches Potenzial, wenn es ihr nicht gelingt die eigenen Strukturen der Einflussnahme und die neuen Hierarchien des Netzes offenzulegen. Das Leugnen von Macht stärkt die Mächtigen.
Buntes
Was machen eigentlich die Weißhelme? Der kleine und der große Gott – Daniel Fetzer (Der Plaza)
Ein großartiger Text von unserem #LaTdH-Autor Daniel Fetzer (@danufetz): Daniel schreibt dem Weißhelm Khaled Omar Harrah zum Gedächtnis, der am 11. August 2016 in den Bomben umkam. Die Weißhelme sind Syrer, die dorthin rasen, wo die Bomben einschlagen und zu retten versuchen, wen es noch zu retten gibt. Die Rettungshelfer selbst mussten inzwischen aus Syrien in Sicherheit gebracht werden, ein Teil von ihnen wird in absehbarer Zeit nach Deutschland kommen. Daniel schreibt über den Liebesdienst, den sie leisten:
In der Sprache meiner religiösen Tradition – dem Christentum – nennt man Menschen wie Khaled Märtyrer; Mission heißt das Engagement für die Rettung von Anderen, und wenn das eigene Leben dabei nicht verschont bleibt, gab man es als Opfer. Diese religiösen Begriffe fußen auf dem Leben und Sterben von Jesus Christus und beschreiben einen hingebungsvollen Lebensstil.
Was heißt Religion, und was Glaube? Wo finden wir in unserer Welt und Zeit Gott am Werk? Fragen, denen Daniel nachdenklich und in schöner Sprache nachgeht. Lesen!
Seelsorgeeinsatz beim Wacken-Open-Air war erfolgreich (Jugendpfarramt der Nordkirche)
Auf dem mit 75 000 Besuchern weltweit größten Heavy-Metal-Festival in Wacken sind auch Seelsorger_innen des Jugendpfarramts der Nordkirche (@JupfaNordkirche) unterwegs. Sie ziehen nach dem diesjährigen Festival ein positives Fazit:
„Bei der W:O:A Seelsorge geht es nicht ums Missionieren, sondern um Hilfe durch Gespräche. Egal worum es geht, wo immer Hilfe benötigt wird, das Seelsorge Team ist rund um die Uhr für euch ansprechbar“, steht im Festival ABC auf der Internetpräsenz des Festivals. Und auch in der Festivalzeitung „Festival Today“ wird das Seelsorgeangebot vorgestellt.
„Ich freue mich“, sagt [Landesjugendpastor] Lautzas, „dass in diesem Jahr zwei katholische Seelsorger mit dabei waren. Damit hatten wir erstmals ein ökumenisches Team in Wacken“.
Techno-Pfarrer feiert an der Street Parade: „Gott hat auch die halbnackten Raver geschaffen“ – Helena Schmid (Blick am Abend)
Wir bleiben noch kurz bei Musikrichtungen, die unter Christen vermeintlich selten Gefallen finden. Aber es muss ja nicht immer die Bachmotette sein! Der Pfarrer Hans Rudolf Felix (61) treibt sich aus reiner Tanzleidenschaft auf Raves herum:
An der Street Parade gibt man Vollgas – auch mit Alkohol und viel nackter Haut. Hält man sich als Geistlicher nicht vor solchen Anlässen fern? Er sei nicht prüde, so der Techno-Pfarrer. „Zudem hat Gott ja alle Menschen geschaffen. Auch die halbnackten an der Street Parade.“ […] Sobald die Bässe am Bürkliplatz dann aber verstummen, fahre er wieder nach Hause – zu seiner Frau und den Kindern. „Dann muss der alte Mann ins Bett“, sagt er.
Bibel
Chladni, Francke, mein Grossvater und ich – Marko Demantowsky (Meine Paralipomena)
Marko Demantowsky (@mdemanto) schreibt über die Entdeckung des seiner Bibelausgabe beigegebenen Vorworts August Hermann Franckes, nämlich seines „kurzen Unterrichts, wie man die Heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen solle“. In Demantowskys Text rücken hermeneutische Grundüberlegungen (welche Bedeutung hat in diesem Fall eigentlich die gehörte Bachsche Matthäus-Passion?), deutsche Geschichte und Gegenwart zusammen.
Nun aber zum Text, zum einen eine Tirade gegen die religiöse und moralische Bigotterie, die morgens oder abends sich von der Jesusgeschichte erheben lässt, ein Tränchen vergiesst, eine Spendchen gibt, aber schon auf dem Weg zum Mittagstisch die absolute Radikalität der Botschaft dieses Lebens vergessen hat. Wie kann man eigentlich weiterwerkeln und weiterhassen, weiterprofitieren und weiterdaddeln, wenn man sich doch scheinbar gerade erst hat ernstlich rühren lassen?
Predigt
Richard Rohr / Andreas Ebert über männliche Spiritualität
Der von uns anlässlich seines 75. Geburtstages mit einer Themenwoche bedachte Richard Rohr war vor kurzem zu einem allerletzten Besuch in Europa. Seinen Vortrag übersetzt sein Weggefährte Andreas Ebert (Interview in der Eule).
Richard Rohr, zum letzten Mal in Deutschland, übersetzt von Andreas Ebert https://t.co/owdRlRNb9n
— Marthori (@marthori) July 24, 2018
Ein guter Satz
„Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt‘ einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
– Bertolt Brecht, Epilog aus „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“