Kultur

Zum Glück mit Lesebändchen!

In „Nur die Wahrheit rettet“ beschreiben und erklären Doris Reisinger und Christoph Röhl die Missbrauchskrise der katholischen Kirche und die entscheidende Rolle, die Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. in ihr spielt.

Das Buch kommt mit einem Lesebändchen und 42 Seiten Anmerkungen. Was sonst nur besonders bibliophile Menschen interessiert, ist hier Programm. Doris Reisingers und Christoph Röhls neues Ratzinger-Buch ist ein Kompendium der Kirchenkrise, die sich notwendigerweise um jene Person entfaltet, die als Theologe, Präfekt der Glaubenskongregation und Papst die römisch-katholische Kirche der Gegenwart geprägt hat: Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI.

„Nur die Wahrheit rettet“ ist keine Papst-Biographie, wie Reisinger und Röhl zu Beginn des Buches in einem programmatischen Vorwort klarstellen. Sie interessiert vielmehr: „Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljahrhundert die katholische Kirche entscheidend prägte, ihr ihrem Versagen in der Missbrauchskrise?“ Um diese Frage zu beantworten, sei es notwendig, „sich nicht auf einzelne isolierte Fälle“ zu beschränken, sondern „ein größeres Bild“ zu zeichnen.

Das Vorhaben gelingt und so ist „Nur die Wahrheit rettet“ ein Denkmal gegen die immerwährende These von „Einzelfällen“, die Kirchenleute im Angesicht der Missbrauchskrise ins Feld führen. Weil in der katholischen Kirche alle Fäden von Papst und Klerikern in Händen gehalten werden, funktioniert das Buch auch als Zusammenfassung der weltweiten Missbrauchs-Krise seit den 1980er-Jahren.

Konsequente Gegenüberstellung

Dabei wird auf Einzelfalldarstellungen, allzumal der schweren Verbrechen, zugunsten einer systematischen Darstellung des kirchlichen Handelns in den USA, Irland, Deutschland und vor allem im Vatikan verzichtet. Auch darin folgt das Buch der eigenen Prämisse: Denn der Skandal des Missbrauchs stellte sich Joseph Ratzinger über Jahrzehnte entpersonalisiert in Form von Briefen, Vermerken und Gesprächsgesuchen dar.

Aus diesem Material wird zitiert, Kirchenpapiere wie „Sacramentorum sanctitatis tutela“ (SST) werden kontextualisiert und ihre Bedeutung für den Kampf gegen sexuellen Missbrauch bewertet. Die AutorInnen schöpfen zum einen aus den Recherchen, die schon Röhls Ratzinger-Dokumentation „Verteidiger des Glaubens“ (Rezension in der Eule) zugrunde lagen, darunter einige Interviews mit Betroffenen und anderen Akteur:innen. Das ermöglicht den AutorInnen kirchenamtlichen Verlautbarungen und den wenigen persönlichen Einlassungen Ratzingers konsequent die Sicht der Betroffenen entgegenzustellen.

Ein anderer Rezensent bemängelt dieses Vorgehen: Auch Gutes im Handeln Ratzingers oder des Vatikans würde von den AutorInnen so schnell abgewertet. Tatsächlich allerdings gelingt es auf diese Weise, die Kirchenposition einmal nicht für sich stehen zu lassen. Die Leser:in versteht, was selbst die in der Öffentlichkeit und nicht zuletzt von der kirchlichen Publizistik gelobten „Fortschritte“ im Kampf gegen den Missbrauch für die Betroffenen bedeuteten – welcher Zynismus ihnen, für die meisten Beobachter:innen unbemerkt, innewohnt.

Zum anderen nutzen Reisinger und Röhl Berichte von Nachrichtenmedien aus der ganzen Welt. Zu Beginn ihres Buches weisen die beiden explizit darauf hin, dass nur die wenigsten Fakten unbekannt und bisher unveröffentlicht sind. „Nur die Wahrheit rettet“ bündelt und kontextualisiert diese Nachrichten, die als Fragmente sicher auch in Deutschland schon zur Kenntnis genommen wurden. Weil die AutorInnen auch reichlich spanisch-, englisch- und italienischsprachige Quellen heranziehen, dürfte sich vielen Leser:innen erstmals so etwas wie ein Überblick über die Missbrauchskrise der katholischen Kirche bieten.

Zum Glück mit Lesebändchen!

Richtig gelesen wird dieses Buch also im ständigen Wechsel zwischen Text und Anmerkungen. Zum Glück gibt es ja ein Lesebändchen! Die Lektüre verlangt der aufmerksamen Leser:in einiges an Zeit und Kraft ab. Wer von der Neugier immer wieder in die Anmerkungen getrieben wird, muss jedenfalls deutlich mehr Zeit aufbringen, als der eigentlich überschaubare Umfang des Bandes vermuten lässt. Auch die gut gemeinte und sinnvolle Unterteilung in acht Kapitel hilft dem Detektiv nur bedingt weiter. In den besten Passagen entwickelt die Lektüre einen Sog, der über Kapitelgrenzen hinwegträgt.

Die 300 Seiten Text lesen sich daher ganz und gar nicht schnell weg, das Buch lädt vielmehr zum engagierten Studieren ein. Immer wieder erschaudert man dann mit Blick auf die Quellen: Wie kann es sein, dass Berichte der New York Times und anderer angesehener Medien in Deutschland bisher so wenig Widerhall gefunden haben? Hätten denn nicht wenigstens englischsprachige Berichte ein größeres Medienecho auch in Deutschland auslösen müssen?

Einen beträchtlichen Teil der Sammelarbeit dürfte Röhl bereits für seine Dokumentation erledigt haben. Von besonderem Wert sind auch die Interviews, von denen schon im Film einige Ausschnitte zu sehen sind. Die Leistung des Buches besteht im Vergleich zum Film darin, Fakten, Eindrücke und Bewertungen stärker zu systematisieren. Zwar folgt auch das Buch lose der Chronologie der römischen Wirksamkeit Ratzingers als Präfekt der Glaubenskongregation und Papst, aber regelmäßig wird auch einen Gang zurückgeschaltet, werden Bezüge zur jüngeren und älteren Vergangenheit erläutert, die Auswirkungen des Handelns oder Nicht-Handelns beleuchtet.

Im Vergleich zum Film kommt das Buch auch wesentlich theologischer daher, was sich der Co-Autorinnenschaft von Doris Reisinger verdankt. Die analytische Handschrift der Theologin und promovierten Philosophin Reisinger ist vor allem in jenen Passagen evident, die Ratzingers theologisches Denken mit seiner Biografie und letztlich mit konkreten Entscheidungen vor allem im Amt des Präfekten der Glaubenskongregation verschränken.

Der erwartbare Vorwurf, Reisinger wäre als ehemaliges Mitglied der neuen geistlichen Gemeinschaft „Das Werk“ und Betroffene sexueller Gewalt befangen, läuft angesichts des sachlichen Tons und logischen Beweisführung ins Leere. Bei „Nur die Wahrheit rettet“ handelt es sich mitnichten um eine „Abrechnung“ mit Ratzinger oder der katholischen Kirche, sondern um eine fachlich kompetente Dekonstruktion des Ratzinger-Mythos und Darstellung der Missbrauchskrise.

Schwere Kost

Das macht „Nur die Wahrheit rettet“ wie auch den Dokumentarfilm „Verteidiger des Glaubens“ zur schweren Kost. Hätte man es den Leser:innen nicht leichter machen können? Oder verlangt das komplexe und emotional belastende Thema nach einer anspruchsvollen Darstellung?

Vielleicht ist es darum ein wenig zu optimistisch, von Reisingers und Röhls Buch einen Wandel in der Ratzinger-Rezeption hierzulande zu erwarten, wenngleich gerade die Bewunderer des Ex-Papstes die Lektüre besonders nötig hätten. Das Buch ist aber im besten Sinne ein Werkzeug für all diejenigen, die sich mitdenkend (und schreibend!) mit der Missbrauchskrise der katholischen Kirche und der Biografie Joseph Ratzingers auseinandersetzen.

Das Buch leistet für die deutschsprachige Leser:innenschaft dringend benötige Aufklärung über die Hintergründe der Missbrauchskrise in der katholischen Kirche und ist zugleich der Versuch einer Historisierung der Gestalt Joseph Ratzingers / Benedikt XVI., die als entscheidende Person der jüngeren Zeitgeschichte jedenfalls mehr verdient hat als ehrerbietige Veneration. Hinter die hier gebotene Komplexität und kritische Aufmerksamkeit sollte man nicht wieder zurückfallen. Wer Reisinger / Röhl widersprechen will, der muss es jedenfalls mit ihrem Faktenstudium aufnehmen.

Joseph Ratzinger in den Medien

In den vergangenen Jahren sind gleich zwei Filme zur Biografie Joseph Ratzingers erschienen, die wir auch in der Eule besprochen haben:

Der Dokumentarfilmer Christoph Röhl bietet in „Verteidiger des Glaubens“ eine sehr kritische Lebensgeschichte des ehemaligen Papstes. Der Film reiht sich damit in eine Serie „katholischer Filme“ ein, schreibt Philipp Greifenstein in seiner Rezension.

Anfang 2020 sorgte der Netflix-Film „Die zwei Päpste“ für Furore, in dem das Mit- und Gegeneinander von Jorge Bergoglio / Franziskus und Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. dramatisch in Szene gesetzt wird (Rezension hier).

Die ausführliche Ratzinger-Biografie von Peter Seewald „Benedikt XIV. – Ein Leben“ hat ebenfalls Philipp Greifenstein für die Eule rezensiert.


Nur die Wahrheit rettet
Doris Reisinger, Christoph Röhl
348 Seiten (inkl. Anhang)
22 € (Hardcover), 18,99 € (eBook)
Piper Verlag