Letzte Generation: Radikalität statt moralischer Empörung

Über eine vermeintliche Reise zweiter Klimaaktivist:innen nach Bali per Flugzeug wird heftig gestritten. Eine solche moral panic verhindert die Frage nach tatsächlichen Lösungen beim Klimaschutz. Ein Kommentar.

Zwei Klimaktivist:innen fliegen nach Asien und die mediale Öffentlichkeit dreht durch. Yannik S. und Luisa S. sollen sich per Flugzeug auf die indonesische Insel Bali begeben haben, statt zu einem Termin am Amtsgericht Bad Cannstatt zu erscheinen. Dort war Yannik S. gemeinsam mit drei weiteren Aktivist:innen angeklagt, weil sie im September 2022 den Berufsverkehr in Stuttgart gestört hatten. Luisa S. war als Zeugin ebenfalls vom Gericht vorgeladen. Der Einspruch von Yannik S. gegen den Strafbefehl wurde verworfen, er muss nun 1000 € Geldstrafe zahlen.

Soweit die wenig bemerkenswerten Fakten: Weder die geringe Geldstrafe noch die keineswegs unübliche Abwesenheit von Angeklagten vor Gericht rechtfertigen die mediale Aufregung um den Vorfall. Es ist vielmehr die „Doppelmoral“ der Aktivist:innen, die Kommentator:innen in moral panic versetzt. Da sind natürlich diejenigen Kritiker:innen, die Klimaschutz und -Aktivismus gegenüber ohnehin feindlich gesinnt sind. Für sie ist die reißerische Berichterstattung der BILD – immerhin Titelseite für diese Provinzposse – ein gefundenes Fressen. Aber da sind auch reichlich Klimaschutz-Sympathisant:innen, die in den Chor der Empörten einstimmen. Ihr Tenor: Yannik und Luisa, mithin die gesamte „Letzte Generation“, schadeten mit ihrem Verhalten „der Sache“.

„Selten dämlich“ findet zum Beispiel Nils Husmann bei der Chrismon * ihren Abstecher nach Südostasien. Weil die „Letzte Generation“ sich bei ihren Protesten doch gerade auf Gerichte berufe, insbesondere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Generationengerechtigkeit beim Klimaschutz, sei es kontraproduktiv durch Nichterscheinen „Respekt vor rechtsstaatlichen Institutionen“ vermissen zu lassen. Dass sich die „Letzte Generation“ auf geltendes Recht berufe, sei „seit heute unglaubwürdig“, meint Husmann. Noch einen Schritt weiter geht der Theologe und Publizist Stephan Anpalagan auf Twitter. Er meint: „Wer sich für den Klimaschutz auf die Straße klebt und anschließend einen Gerichtstermin verpasst, weil er in den Bali-Urlaub geflogen ist, hat alle Häme dieser Welt verdient.“

„Bali-Gate“ als Diskursverschiebung

Wirklich alle Häme? Natürlich ist die Flugreise der beiden Aktivist:innen politisch unklug – und klimaschädlich obendrein. Sie steht im Widerspruch zu den Zielen, die sie mit ihren Protesten verfolgen. Daran ändert auch die Erklärung eines „Letzte Generation“-Sprechers nichts, die beiden hätten die Reise als „Privatleute, nicht als Klimaschützer“ unternommen. Aktivismus als Lebenshaltung großer Dringlichkeit lässt sich nicht einfach abstreifen. Aber „alle Häme“ aufgrund polemisierender Berichterstattung? Ist es wirklich nötig, über alle Stöckchen zu springen, die BILD der Öffentlichkeit hinhält?

Inzwischen erklärte die „Letzte Generation“ auf Twitter, Yannik S. sei dem Verhandlungstermin in Absprache mit dem Gericht ferngeblieben. Außerdem halte er sich nicht auf Bali, sondern in Thailand auf, „um dort mit seiner Freundin viele Monate zu bleiben“. Also doch keine überflüssige Urlaubsreise ins Partyparadies Bali? Kein mangelnder Respekt vor den Gerichten?

Bezeichnender Weise beginnt Nils Husmann seinen Chrismon-Kommentar mit dem Verweis auf „Fake News“: „Die Geschichte klingt so verrückt, dass man denkt: Das müssen doch ‚Fake News‘ sein – eine Falschmeldung also, die den Klimaschutz in Misskredit bringen soll“. Der „Urlaub auf Bali“ schade – „wenn dem so ist“ – der Glaubwürdigkeit der Aktivist:innen. Am Ende seines Kommentars informiert Husmann, man habe bei der „Letzten Generation“ nachgefragt, ob die BILD-Meldung „in der Sache zutreffend ist“. Eine Antwort stünde noch aus. Na ja, die Antwort kann die Redaktion ja nun nachtragen.

„Bali-Gate“ legt erneut die Gefahren eines hyperventilierenden Kommentariats offen, denn natürlich wird in einer breiteren Öffentlichkeit vor allem die erste Schlagzeile hängen bleiben. „Bali-Gate“ ist allerdings auch eine Wiederholung der Diskursverschiebung, die Proteste der „Letzten Generation“ schon im vergangenen Jahr begleitet hat: Statt über die (erstaunlich moderaten) Forderungen der Aktivist:innen und den Klimaschutz wird über Legitimität und Legalität ihrer Protestformen diskutiert. Wie der Soziologe Nils C. Kumkar in einem sehr lesenswerten Essay bei Soziopolis erklärt, ist „die Themenverlagerung der moral panic funktionsäquivalent zur Themenverlagerung durch alternative Fakten“. Dass sich die moralisierende Empörung wie so häufig auch noch an Halbwahrheiten der BILD entzündet, beweist den bedauerlichen Zustand der Klimadebatte aufs Neue.

Wirklich radikal werden

Jenseits der moral panic angesichts der Proteste der „Letzten Generation“ und dem Radikalisierungs-Diskurs, der sie seit Monaten als Begleitmusik begleitet, verstellt „Bali-Gate“, d.h. die medial aufbereitete Diskursverschiebung anlässlich eines lächerlich kleinen Vorfalls, den Blick auf politische Lösungen der eigentlich zu thematisierenden Klimaschädigung.

Gestern forderte Tobias Foß hier in der Eule ein aktualisiertes „radikales Christentum“: Das Evangelium sei „radikal“, „weil es nicht nur ungerechte Oberflächenstrukturen bekämpft, sondern die Wurzel ihrer Ungerechtigkeit umstürzen will“. Ganz bürgerlich nähert sich Foß der Radikalität von der Wortbedeutung her, also vom lateinischen radix „Wurzel, Ursprung“. Folgerichtig früge ein tatsächlich radikaler Klimaschutz nicht nach Protestformen oder ihrer medialen Rezeption, sondern nach dem klimaschädlichen Verhalten selbst.

Flugreisen eignen sich dafür nicht nur deshalb hervorragend, weil sie einen enormen CO2-Fußabdruck hinterlassen, sondern weil sich in ihnen exemplarisch das Problem der individuellen Mobilität verdichtet. Wie auch andere Begrenzungen des Individualverkehrs (z.B. Tempolimit) stellt ein – auch nur diskursiv angemahntes – Flugreise-Verbot in unserer hoch-individualisierten Gesellschaft ein Skandalon dar. Persönliche „Freizügigkeit“ und ständige Mobilität werden deutlich höher gewichtet als Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit. In einer Gesellschaft, die persönlichen Freiheiten einen solchen kategorischen Vorrang vor kollektiven und ökologischen Bedürfnissen einräumt, werden Klimadebatten in einem störenden Ausmaß ausschließlich auf der Ebene der Individualethik geführt. Die Einladung der „Letzten Generation“, „jetzt den Blick voneinander ab- und dem wirklich Wichtigen zuzuwenden“, bleibt ein frommer Wunsch.

Dabei liegen für den Individualverkehr, anders als für andere Handlungsfelder des Klimaschutzes, bereits politische Lösungen auf dem Tisch. Sie sind freilich höchst unbequem, wenngleich sie als Ideen zum Teil auf hohe gesellschaftliche Zustimmung stoßen. Im Kern geht es darum, dass der Preis individueller Mobilität ihre tatsächlichen Kosten widerspiegelt. Im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur generationellen Klimagerechtigkeit gehören dazu auch Langzeitfolgen, die die Lebensmöglichkeiten unserer Kinder drastisch einschränken.

Deutlich teurere Flugreisen unternähme dann niemand mehr zum Spaß, sondern nur noch zu wenigen unabwendbaren Anlässen. Auch würde das Auto häufiger stehen gelassen oder ganz abgeschafft, weil auch das Zuparken des öffentlichen Raumes angemessen bezahlt werden müsste. Auf nur scheinbar soziale Wohltaten wie „Tankrabatte“ und „9-Euro-Tickets“ müsste gleichwohl ebenfalls zugunsten einer sozialen Abfederung der steigenden Mobilitätskosten für tatsächlich Bedürftige verzichtet werden. Individuelle Mobilität muss drastisch teurer werden und in einer klimaneutralen Gesellschaft wird allgemein deutlich weniger gereist werden müssen, denn eine Umleitung auf kollektive Beförderungsformen verringert das klimaschädliche Verkehrsaufkommen nicht im ausreichenden Maß.

Wer radikal mit dem Ende des Individualverkehrs zu denken beginnt, der stößt vor bis zur „Wurzel der Ungerechtigkeit“: Dass nämlich manche nicht auf ihn verzichten können, egal wie teuer er auch wird, und andere ihn sich selbst dann noch leisten werden können, obwohl er ihnen ein reines Vergnügen darstellt. Solange wir aber die ambulante Pfleger:in, die sich hinter das Steuer ihres kleines Dienstwagens setzt, von jenen nicht unterscheiden können, die auf weniger stressigen Dienstfahrten nicht einmal ein moderates Tempolimit einhalten wollen, kommen wir keinen Schritt weiter.


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*Die Chrismon hat den Kommentar in der Zwischenzeit um die neuen Erkenntnisse ergänzt.