Analyse Trauer-Hysterie um Rechtsradikalen

Warum Charlie Kirk kein Märtyrer ist

Nach seinem gewaltsamen Tod wird der rechtsradikale Aktivist Charlie Kirk zum „Heiligen“ und „Märtyrer“ erklärt. Seine Botschaften und Methoden aber sind dessen unwürdig.

Am Mittwoch wurde der rechtsradikale Empörungsunternehmer Charlie Kirk während einer Propagandaveranstaltung seiner Organisation „Turning Point USA“ auf dem Campus der Utah Valley University erschossen. Die Polizeibehörden haben den Täter noch nicht festnehmen können. Die konkreten Hintergründe der Tat sind bisher ungeklärt. Kirk hinterlässt seine Frau und zwei kleine Kinder.

Seit den Schüssen von Utah überschlagen sich Medien mit Meldungen und Einordungen zum Tode Kirks und seiner Bedeutung für die US-amerikanische Politik. Auf Social-Media-Plattformen wird öffentlich um Kirk getrauert. US-Präsident Donald Trump hatte Kirk bereits kurz nach dessen Tod als „Märtyrer der Wahrheit und Freiheit“ bezeichnet. Republikanische Politiker:innen und Influencer:innen rufen in Reaktion auf das Attentat zum Bürgerkrieg „gegen Links“ auf und wollen die Demokratische Partei verbieten lassen.

In liberalen und konservativen Medien in den USA und auch in Deutschland herrscht ob der unübersichtlichen Lage offenbar Verwirrung darüber, wie Kirks Wirken und Sterben richtig eingeordnet werden können. Die allermeisten Menschen in Deutschland, die außerhalb rechtsradikaler, digitaler Filterblasen leben, werden von Kirk vor dieser Woche noch nie gehört haben. Man hätte gehofft, die Faszination, die rechtsradikale evangelikale Influencer:innen auch hierzulande auf Medien entfaltet, habe dazu geführt, sich eingehender mit dem Phänomen und seinen Hintergründen zu befassen. Leider nein.

Auch deutschsprachige evangelikale und rechtsradikale Influencer:innen haben in den vergangenen Stunden öffentlich um Kirk getrauert und ihr Mitgefühl mit den Hinterbliebenden bekundet. Einige von ihnen verbinden ihre Trauernotizen jedoch auch mit einer Fortschreibung der Propaganda, die Kirk Zeit seines öffentlichen Wirkens verbreitet hat. Am Donnerstagabend trafen sich rechtsradikale Politiker:innen und Aktivist:innen in Berlin zu einer „Trauerandacht“, auf der die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch sprach, unter ihnen auch Leonard Jäger („Ketzer der Neuzeit“) und Lukas Furch („Furchensohn“). Alle drei sind – wie Kirk – in einem internationalen Netzwerk von rechtsradikalen Akivist:innen verbandelt.

Furch schrieb auf Instagram illustriert mit Fotos von Stolpersteinen, viele seiner „konservativen und rechten Freunde“ hätten aufgrund des Attentats „gerade enorme Angst“, sich am „öffentlichen Diskurs“ zu beteiligen. Damit reklamiert er für seine Szene der rechtsradikalen Aktivist:innen eine Opferrolle und verharmlost den Holocaust. Ein Move, der direkt aus dem Playbook von Charlie Kirk stammen könnte, der Abtreibungen auch nach Vergewaltigungen als „schlimmer als der Holocaust“ bezeichnete.

Kirk wird in zahlreichen Meldungen und Social-Media-Posts als „Held der Meinungsfreiheit“, „Trump-Unterstützer“, „Freund Israels“, als „rechtskonservativer“ oder „christlicher Influencer“ und von seinen Unterstützer:innen und „Make America Great Again“-Vertreter:innen auch als „Heiliger“ und „Märtyrer“ bezeichnet. Der US-amerikanische römisch-katholische Bischof Robert Barron (s. hier in der Eule) nannte ihn nach seinem Tod einen „Apostel des zivilisierten Diskurses“.

Solche Kirk bis zur Unkenntlichkeit entstellenden Beschreibungen – auch und gerade in großen Medien wie der New York Times (€) oder durch christdemokratische Politiker:innen wie Caroline Bosbach (MdB) – sind deshalb fatal, weil sie für viele Leser:innen den Erstkontakt mit Kirk und seinem Umfeld darstellen dürften. Was ist also an ihnen dran? Und wie sind Kirk und sein Schaffen korrekt einzuordnen?

Ein Grifter mit Millionen von rechtsradikalen Mäzenen

Im Zentrum des Wirkens von Kirk steht die Organisation „Turning Point USA“ (TPUSA), die er im Jahr 2012 mit Hilfe von rechtsradikalen Großspendern im Zusammenhang mit der „Tea-Party“-Bewegung gegründet hat. TPUSA organisiert an Highschools und Colleges in den USA Aktivist:innen-Gruppen, die sich an ihren Bildungseinrichtungen dem „Kulturkampf gegen Links“ widmen. Die nationale Organisation unterstützt die einzelnen Gruppen und organisiert regelmäßig Podiumsdiskussionen, Social-Media-Kampagnen und große Konferenzen. Diese gleichen „Happening[s] der Indoktrination“, wie Lukas Hermsmeier in Florida für die ZEIT beobachtet hat.

Ein wichtiges Propagandainstrument von „Turning Point“ ist eine Liste, auf der unliebsame Universitätsmitarbeiter:innen geführt werden, denen vorgeworfen wird, sie würden „linke“, „kulturmarxistische“ Ideologie und lgbtqi+-Politik an den Universitäten vertreten. Mit diesem modernen Pranger werden Mitarbeiter:innen und ihr familiäres und berufliches Umfeld eingeschüchtert und als „unamerikanisch“ markiert. Wer auf der Liste landet, erhält nicht nur Drohungen per Post und auf Social-Media-Plattformen, sondern muss mit Konsequenzen für das eigene Berufsleben und die körperliche Unversehrtheit rechnen. Sieht so „Meinungs-“ und „Wissenschaftsfreiheit“ aus?

Dass Kirk von liberalen Kommentator:innen wie Ezra Klein in der New York Times oder von Bischof Barron als Held der Meinungsfreiheit und Vorbild der Debattenkultur gefeiert wird, gründet in einem Missverständnis seines medialen Auftretens. Erste öffentliche Aufmerksamkeit erregte Kirk, weil er sich auf Universitätscampus scheinbar zum offenen argumentativen Schlagabtausch positionierte („Proof me wrong!“). Diese „Einladungen“ wurden zunehmend nicht nur von Studierenden, sondern auch von liberalen Diskursteilnehmer:innen angenommen. Integraler Bestandteil der Strategie ist die Verwertung der aggressiv geführten Gespräche auf Social-Media-Plattformen. Kirks Social-Media-Formate sind mit „Debatte“ überschriebene Propagandafilmchen, in denen Andersdenkende vorgeführt werden. Unter dem Deckmantel einer Diskussion auf Augenhöhe werden die Zuschauer:innen überwältigt und Hetze verbreitet.

In den vergangenen Jahren ist das „Turning Point“-Unternehmen gewaltig angewachsen, hat auch internationale Ableger zum Beispiel an britischen Universitäten etabliert und ist zu einem festen Knotenpunkt im Aktivismus-Netz des rechtsradikalen Kulturkrieges (culture wars) geworden, der in den USA vor allem auch als „Campus-Krieg“ geführt wird. Zu Kirks erfolgreichsten Formaten gehört sein Podcast, mit dem er Millionen von jüngeren Hörer:innen erreicht, die traditionellen Medien entwöhnt sind. Kirks Fans und Nachfolger:innen befleissigen sich, seinen Stil und auch sein Geschäftsmodell nachzuahmen – TPUSA macht inzwischen rund 100 Millionen Dollar Jahresumsatz.

Angeschoben durch massive Zahlungen von rechtsradikalen Mäzenen hat TPUSA ein eigenes Medien- und Aktivismusnetzwerk aufgespannt, das vor allem junge Menschen in eine Parallelwelt aus rechtsradikalen und oberflächlich christlich-frommen Botschaften hineinzieht. Wie alle profilierten Online-Grifter waren Kirk und TPUSA bisher rund um die Uhr, 24/7 auf Sendung und sprangen immer wieder auf neue Trends und Debatten auf. Mit dem Wachstum der „MAGA“-Bewegung um Donald Trump ergaben sich für TPUSA neue Allianzen – und Erlösmöglichkeiten.

Kirk gehörte zu jeden rechten und evangelikalen Influencer:innen, die sich bereits während der ersten Präsidentschaft Donald Trumps als dessen getreue diskursive Handlanger erwiesen haben. So war Kirk auch unter denjenigen Aktivist:innen, die zum „Sturm auf das Kapitol“ am 6. Januar 2021 bließen. Inzwischen soll Kirk laut US-Medien zu den engsten Vertrauten von Präsident Trump gehören und wöchentlich mit ihm im Austausch über Ziele und Strategien stehen. Grausamkeiten der Trump-Regierung wie Abschiebungen und Kürzungen der US-Entwicklungshilfe wurden von Kirk als gut „christlich“ ausdrücklich unterstützt.

Der außergewöhnliche Erfolg von Kirk sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine eigene (wirtschaftliche) Strategie keineswegs originell oder neu ist: Durch den Verkauf von teuren Tickets für Events und Konferenzen und dem Vertrieb von Merchandising-Artikeln finanzieren die jungen Fans den Reichtum ihrer Influencer-Helden – und werden in einer Art Double-Bind an die Organisation gebunden. An der Etablierung solcher Erlösmodelle arbeiten rechtsradikale Influencer:innen in Deutschland, wenngleich weniger erfolgreich, seit vielen Jahren. Online-Pranger für missliebige Lehrer:innen und Dozent:innen wurden hierzulande von der AfD und im Umfeld der Identitären Bewegung eingerichtet. Rechtsradikalen Influencer:innen ist Kirk auch aufgrund seines massiven medialen und finanziellen Erfolgs eines der größten Vorbilder. Von daher werden die große Trauer und der massive Schock in rechtsradikalen Influencer:innen-Kreisen verständlich.

Antisemitimsus, Verschwörungsglauben und Hass gegen LGBTQI+

Doch es sind nicht allein die Methoden, derer sich Kirk bedient hat, die wenig mit dem Auftreten von authentischen Heiligen und Märtyrern zu tun haben. Jene werden in der von Kirk so oft konstruierten „jüdisch-christlichen Tradition“ mit materieller und geistiger Armut, Friedfertigkeit und Demut in Zusammenhang gebracht. Es sind auch die Botschaften, die Kirk während seines öffentlichen Wirkens verbreitet hat, die im krassen Widerspruch zu dem Bild stehen, das (sozial-)medial von ihm nach seinem Tod gemalt wird.

Wie inzwischen mehrere englischsprachige Medien ausführlich dargestellt haben (The Guardian, TeenVogue, New York Times (€)), hat Kirk an der Verbreitung so ziemlich aller inzwischen populär gewordenen rechtsradikalen Propaganda-Botschaften mitgewirkt, die den sozial-medialen und politischen Raum in unserer Gegenwart verpesten. Dazu gehören rassistische Bemerkungen über schwarze Flugzeugpiloten, abwertende Äußerungen über People of Color und lgbtqi+-Personen, insbesondere die Verneinung von Rechten von Transpersonen, und islamfeindliche Verschwörungstheorien. Und immer wieder Holocaust-Verharmlosungen wie jene, es bedürfe eines „Gerichts wie in Nürnberg“ für Ärzt:innen, die geschlechtsangleichende Maßnahmen durchführen.

Besonders ins Auge sticht der Antisemitismus, der zahlreichen Äußerungen Kirks zugrundeliegt und den er ganz offen bekundet hat. So sah er in Film-, Kultur- und Medienbranchen eine jüdische Übermacht am Werk. Er unterstellte „den Juden“, durch massenhafte Einwanderung an der „Überfremdung“ der USA zu arbeiten (Great Replacement Theory). Jüdische Investoren, so Kirk, steckten hinter liberalen Initiativen an Colleges und der „Black Lives Matter“-Bewegung. Übersetzt in traditionelle Begrifflichkeiten bedeutet das: Charlie Kirk glaubte und verbreitete den Mythos von einer „jüdischen Weltverschwörung“.

Weil er bis zuletzt die Kriegsführung Israels im Gaza-Streifen verteidigte, bezeichnete der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ihn in einem Statement nach seinem Tod als einen „löwenherzigen Freund Israels“. Ein unfreiwillig treffendes Statement, denn Kirk stand dem evangelikal-messianischen Zionismus nahe, der alte Kreuzfahrer-Tropen ausschlachtet und demzufolge durch einen großen Krieg im Heiligen Land der jüngste Tag anbrechen soll. An Kirks Antisemitismus wird inzwischen auch in israelischen Medien erinnert.

Nicht zuletzt muss Kirks Tod durch ein Schusswaffenattentat auch in den Kontext seiner bisherigen Äußerungen zum US-amerikanischen Waffenrecht gestellt werden. Den Tod von Kindern und weiteren unschuldigen Opfern durch die in den Staaten ubiquitäre Waffengewalt bezeichnete er mehrfach als notwendiges Übel für den Erhalt des sehr weitreichenden Rechts auf Waffenbesitz, das mit dem zweiten Verfassungszusatz begründet wird. Es sei „vernünftig“ und „umsichtig“, einige Tote pro Jahr durch Schusswaffen in Kauf zu nehmen, um „unsere gottgebenen Rechte zu erhalten“.

Ein gen-KI-Propagandabild von Charlie Kirk inmitten der gerade erst von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochenen Carlo Acutis (links) und Pier Giorgio Frassati (rechts). (Quelle: @drseantobin auf Instagram)

Hysterie der Trauer

Über ein Attentat erschrocken und entsetzt zu sein, zeugt von einer intakten Sensibilität für den Wert des Lebens und die Gewalthaltigkeit der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung. Dass auch im Falle des Todes von Charlie Kirk Kinder als unschuldige Betroffene von Waffengewalt zurückbleiben, ist bedauernswert. Die demonstrative öffentliche Trauer und die mediale sowie politische Instrumentalisierung des Todes von Kirk aber sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier kein friedens- und freiheitsliebender „Apostel“ oder „Heiliger“ als „Märtyrer“ für eine gute Sache gestorben ist.

Wer Kirk in eine Reihe mit anderen – neuerdings heiliggesprochenen – religiösen Idolen stellt, betreibt damit die gleiche rechtsradikale Kulturkrieg-Agenda, der sich Kirk verschrieben hat. Diese ist eine Gefahr insbesondere für junge Menschen und eine Herausforderung für den politischen Diskurs – nicht nur in den USA. Verantwortliche Medienschaffende und geistliche Leiter:innen sollten sich ihr entgegenstellen.

Die Propaganda-Maschinerie zu Kirks Tode ist allerdings auch deshalb so erfolgreich, weil liberale „Mainstream“-Medien aus Unbedarftheit, mangelndem Orientierungswissen oder selbstverordneter Zaghaftigkeit rechtsradikale Botschaften und Aktivist:innen nicht zutreffend als solche benennen. (Daran krankt die mediale Befassung mit sog. „christlichen Influencer:innen“ insbesondere im zunehmend säkularen deutschsprachigen Raum schon länger.)

„Wahrheit und Freiheit“ brauchen keine Märtyrer, sondern Diskursteilnehmer:innen und Medien, die auch angesichts der Hysterie der Trauer sagen, wofür Kirk eingestanden ist: Eine rechtsradikale Agenda der Ungleichwürdigkeit von Menschen, die mit einer Soße von pseudo-christlicher Frömmigkeit übergossen wird, um fromme junge Menschen in einem Netz von finanzieller, aufmerksamkeitsökonomischer und ideologischer Abhängigkeit zu fangen. Charlie Kirk ist kein Märtyrer und Heiliger und kein gutes Beispiel für christliche Menschenfischer.

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