Totengedenken statt Luther-Jubiläum: Die Kirche steht richtig
Statt bei Sekt und Häppchen des Reformators zu erinnern, werden die Vorsitzenden von EKD und Bischofskonferenz an der zentralen Gedenkfeier für die Corona-Opfer teilnehmen. Ein Kommentar.
In Krisen und bei Katastrophenfällen schauen sich immer noch viele Menschen nach der Kirche um. Nach Amokläufen und Terroranschlägen sind nicht nur ihre Notfallseelsorger:innen gefragt, sondern auch ihre Kompetenz, in der Öffentlichkeit gute Worte – überhaupt Worte – für das Leid, die Trauer und die Hoffnungen der Menschen zu finden. Deshalb fordern seit einem Jahr Publizist:innen und Kirchenmitglieder, dass die Kirchen auch für die Corona-Toten und diejenigen, die unter der Pandemie am stärksten zu leiden haben, einen solchen öffentlichen Trauerort schaffen.
Immer wieder haben seitdem Binnendebatten um Gottesdienst und digitale Formate die Not der Kranken und Sterbenden sowie ihrer Angehörigen bedenklich in den Hintergrund rücken lassen. Damit hat sich die Kirche kleiner gemacht, als es nötig war. Denn überhaupt schon und erst recht in Krisenzeiten interessiert sich kaum jemand für die Feinheiten digitaler Liturgien, die Ausgestaltung von Hygienekonzepten für den Sonntagsgottesdienst und interne Kommunikations-Fails. Will die Kirche sich als „Kirche für alle“, als „Lobbyistin der GOTT-Offenheit“, verstehen und wahrgenommen werden, muss sie vom Eigenen absehen.
Totengedenken statt Luther-Jubiläum
Auf der Höhe des 2. Lockdowns entsprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier diesem Bedürfnis aus der Bevölkerung, indem er zu einem staatlichen Gedenken an die Corona-Toten einlud. Anvisierter Termin ist der 18. April, an dem eigentlich ein ökumenischer Festakt zum 500. Jubiläum des Reichstags-Auftritts Martin Luthers hätte stattfinden sollen. Wie Reinhard Bingener in der FAZ schreibt, fand die Terminierung zunächst ohne Rücksprache mit den beiden großen Kirchen statt.
Auf der EKD-Synode im Herbst 2020 hatte der evangelische Christ Steinmeier in seinem Grußwort die Umsicht der Kirchen während der Corona-Pandemie gelobt. Die Zuversicht des Glaubens sei wichtig, um die Herausforderungen der Krise zu bestehen. Über die Anerkennung aus dem Bundespräsidialamt, wo mit Stephan Steinlein zudem ein evangelischer Theologe als Staatssekretär wirkt, war man erkennbar stolz. Das ausdrückliche Lob war Balsam auf die Seele der Protestanten, denen von einer kleinen, aber lauten konservativen Minderheit ein „Einknicken vor dem Staat“ und seinen Corona-Maßnahmen vorgeworfen wird.
In ähnlichem Duktus kritisiert nun Stephan-Andreas Casdorff, Herausgeber des Berliner Tagesspiegels und Mitglied im Beirat der Evangelischen Akademie Berlin, dass die Evangelische Kirche (EKD) davon abgesehen hat, ihren Festakt zum Luther-Stehakt wie geplant durchzuziehen. Der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, wird stattdessen in Berlin am staatlichen Gedenken teilnehmen. So wie auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bischof Georg Bätzing (Limburg). Sie werden dort nicht im Mittelpunkt stehen.
Plötzliche Planänderung
Im Vorfeld der staatlichen Trauerfeier werden die beiden Bischöfe einen Ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken an die Corona-Opfer in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche feiern, zu dem auch Vertreter:innen anderer Religionsgemeinschaften eingeladen sind und der in der ARD übertragen wird. Ziemlich viel Aufmerksamkeit also. Trotzdem meint Casdorff, „die evangelische Kirche macht sich zu klein“, sie verzichte „auf [ein] Lutherjubiläum mit Ökomenecharakter“ [sic!].
Casdorff stößt vor allem auf, dass Bätzing aufgrund der spontanen Vorverlegung des Luther-Gedenkens auf den 16. April nun nicht mehr nach Worms reisen wird. Als Trostpflaster für den Kuddelmuddel kommt allerdings der Bundespräsident zum neuen Termin. Anlass genug für Casdorff, die trübe Suppe der Diskussion um die Staatshörigkeit der Protestanten noch einmal aufzuwärmen. Die Evangelen klüngeln lieber mit der Obrigkeit, anstatt sich gemeinsam mit den katholischen Geschwistern freudig der Reformation zu erinnern?
Die Evangelische Kirche macht sich gerade nicht klein oder verleugnet durch die minimale Terminverlegung ihr Eigentliches, wie Casdorff meint. Indem die Kirche ihr Partikularpläsier Luther-Gedenken hintenanstellt, gibt sie dem public service Vorrang vor der Binnenorientierung. Das fällt in diesem Fall besonders leicht, da das Wormser Luther-Gedenken so binnig ist, wie es kaum mehr binniger geht. Auch in den evangelischen Kirchen hat bisher kaum jemand davon Notiz genommen. Und es bleibt eine gute Planänderung, trotzdem es sich nicht um einen strategischen Entschluss, sondern um eine vergleichsweise flexible Reaktion auf die Entscheidungen Dritter handelt.
Im vierten, mit „Mission“ überschriebenen Leitsatz der „Zwölf Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“, die von der EKD-Synode im Herbst als inhaltlicher Rahmen der Reformbemühungen der Evangelischen Kirche beschlossen wurden, heißt es: „Die Identität unserer Gemeinschaft liegt darin, dass wir Gottes Versöhnung in Jesus Christus annehmen, ihm ‚mit Herzen, Mund und Händen‘ danken und die Schwachen und Bedrückten in den Mittelpunkt stellen.“ (Hervorhebung von mir)
Wofür steht die Kirche?
Wie ein blindes Huhn, das doch auch einmal ein Korn findet, sind die Kirchen in diesem Fall dazu gekommen, an prominenter Stelle den Bedrückungen und Sorgen der Menschen angesichts der Corona-Pandemie Ausdruck geben zu dürfen. Die beteiligten Liturg:innen und Prediger:innen werden sich bemühen, dafür nicht einfach nur gute Worte zu finden, sondern das Schicksal der „Schwachen und Bedrückten“ in den Horizont der göttlichen Verheißung zu stellen.
Von mir aus hätte das Luther-Gedenken in Worms auch ganz ausfallen können. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, ist als Leitspruch sowieso missverständlich und entwertet. Viel mehr als auf das Feststehen, kommt es auf das Beweglichsein an. Auf die Berührbarkeit. In einer Krisenzeit, in der Menschen mit begnadeter Starrsinnigkeit an widersinnigen Überzeugungen festhalten, kommt es sowieso vor allem darauf an, wofür man einsteht, wenn man denn schon stehen will.
Mir ist eine Evangelische Kirche, die sich solidarisch an die Seite der Bedrückten und Trauernden stellt, lieber als eine Sekt-und-Häppchen-Kirche, die sich auf einem Stehempfang mitten in der Pandemie selbstbeglückwünscht. Einer Kirche, die gar nicht anders kann, als den Nöten der Menschen hinterherzugehen, gehöre ich jedenfalls gerne an.