Interview Kirchenasyl unter Druck

„Es wird in Zukunft häufiger zu Räumungen kommen“

Seit einigen Monaten werden vermehrt Kirchenasyle von den Behörden geräumt. Welche Zukunft hat das Kirchenasyl, in der sich verschärfenden Migrationsdebatte? Warum brauchen Geflüchtete jetzt die Hilfe der Kirche?

Eule: Herr Kern, vor wenigen Tagen wurde ein Kirchenasyl in Wuppertal geräumt. Sie setzen sich im Bundesland Nordrhein-Westfalen für Kirchenasyle ein und beraten Gemeinden, die Kirchenasyl gewähren. Es ist binnen weniger Monate nun bereits die mindestens siebte Räumung eines Kirchenasyls in Deutschland. Ist das ein neuer Trend?

Kern: Tatsächlich waren Räumungen von Kirchenasylen bis vor anderthalb Jahren eher unüblich. Es gab immer mal wieder einzelne Räumungen, alle zwei, drei Jahre einen Fall. Häufig konnten wir, obwohl eine Ausländerbehörde ein Kirchenasyl vorzeitig beenden wollte, eine andere Lösung finden, wie zum Beispiel die Aufnahme in ein Krankenhaus bei Menschen mit psychischer Destabilität. Es gibt zwar heute immer noch erfolgreich abgewendete Räumungsversuche, aber die Lage hat sich verschärft. Anfang des Jahres waren gleich acht Kirchenasyle durch das Vorgehen einer Ausländerbehörde bedroht, die für ein Fünftel von NRW zuständig ist. In diesen Fällen konnten wir noch intervenieren.

Eule: Der ordentliche Ablauf von Kirchenasylen basiert auf einer Verabredung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Kirchen. Es muss zum Beispiel bei den Behörden Bescheid gegeben werden, wo sich die Menschen im Kirchenasyl befinden und warum. Es werden auch Dossiers für die Härtefallbewertung erstellt. Insofern könnten die Ausländerämter doch einfach Bescheid sagen, wenn sie ein Kirchenasyl beenden wollen, statt mit der Polizei vor der Tür zu stehen, oder?

Kern: Ja, wobei der Eindruck täuscht, dass Kirchenasyle im großen Stil geräumt würden. Im letzten Jahr 2023 hatten wir in NRW einen absoluten Höchststand von Kirchenasylen, über 500 Fälle. 98 % der Kirchenasyle enden so, wie wir uns das vorstellen. In Dublin-Fällen heißt das zum Beispiel, dass die Überstellungsfrist abläuft und die Menschen hier in Deutschland in das reguläre Asylverfahren kommen.

Der Vereinbarung von 2015, die Sie angesprochen haben, lag das staatliche Interesse zugrunde, die Zahl der Kirchenasyle zu verringern. Damals gab es ja auch die Kritik am Kirchenasyl von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der das Kirchenasyl mit der Scharia verglichen hat. Seitdem sollen in jedem Fall Dossiers eingereicht werden, die den Härtefall nachweisen, und es wurden zentrale kirchliche Ansprechpersonen benannt. Trotzdem gab es in der Folge nicht weniger Kirchenasyle.

Im Juli 2023 hatten wir die erste größere Räumung hier in Nordrhein-Westfalen nach einigen Jahren. Da hat die Ausländerbehörde Viersen ein Ehepaar aus dem Kirchenasyl rausgeholt ohne eine vorherige Ankündigung. Ein Erlass der NRW-Landesregierung, dass das Kirchenasyl prinzipiell zu respektieren sei, war zuvor ausgelaufen. Dieser Erlass wurde im vergangenen November aber erneuert und sogar zugespitzt: Ausländerbehörden sollen in allen Fällen den Kontakt zur Kirchgemeinde vorab suchen und dürfen sich darüber nicht einfach hinwegsetzen.

Eule: Überraschende Räumungen dürfte es dann ja eigentlich gar nicht geben, erst recht nicht mit Unterstützung von Spezialkräften der Polizei wie in Schwerin.

Kern: Im Vergleich zu anderen Bundesländern haben wir in NRW eine entspanntere Situation. Eine ähnlich gewaltsame Räumung wie in Schwerin hat es zum Beispiel auch in Rheinland-Pfalz gegeben. Das sind aber alles Beispiele dafür, dass Ausländerbehörden nicht mehr prinzipiell davor zurückschrecken, gegen das Kirchenasyl vorzugehen.

Zum anderen zeigt diese Entwicklung auch, dass die Debatten, die in Richtung einer weiteren Verschärfung der Migrationspolitik und damit Entrechtung von Geflüchteten vorangetrieben werden, mit dazu beitragen, dass die öffentliche Skandalisierung dieser Kirchenasylräumungen auch nicht mehr so verfängt, wie das vor einigen Jahren noch der Fall war. Diese Tendenz, die wir im vergangenen Jahr beobachten konnten, wird sich sicher weiter zuspitzen. Es wird in Zukunft häufiger zu Räumungen kommen.

Eule: Nun gibt es auch jene, die sagen, der Staat übe ja nur sein gutes Recht aus mit solchen Räumungen. Das Kirchenasyl steht nicht über dem Recht. Warum kritisieren Sie die Räumungen trotzdem?

Kern: Zum einen sind die Räumungen massive Eingriffe in die Selbstbestimmung einer Kirchgemeinde, die ja aus Gewissensgründen ein Kirchenasyl erklärt hat. Zum anderen natürlich auch in das Selbstbestimmungsrecht der Personen, die aus dem Kirchenasyl herausgeholt werden sollen. Dafür gibt es formal rechtlich natürlich die Möglichkeit. Das Kirchenasyl ist kein Rechtsinstrument, das den Staat daran hindert, eine Abschiebung durchzuführen.

Aber trotzdem ist eine Räumung natürlich ein ethisch-politischer Skandal. Durch die Räumungen in den vergangenen Monaten wurden Familien getrennt, kranken Menschen wurde medizinische und psychologische Hilfe verwehrt – und im schlimmsten Fall laufen solche überraschenden Räumungen gewaltsam ab wie in Schwerin. Aus meiner Sicht wird hierbei deutlich, dass der bürgerliche Staat bereit ist, seine Interessen ohne Rücksicht durchzusetzen.

Eule: Wie sollten die Kirchen auf diese neue Situation reagieren?

Kern: Sie sollten sich umso entschiedener und eindeutiger den Behörden gegenüber und in der Öffentlichkeit für den Respekt des Kirchenasyls und gegen diese Abschiebungspolitik einsetzen. Es wäre genau der falsche Umgang mit dem erhöhten Druck, sich konfliktscheu zurückzuziehen. Es muss klargestellt werden, warum es eigentlich nötig ist, dass sich immer wieder mutige Gemeinden in einem Akt zivilen Ungehorsams mit einem Kirchenasyl für Geflüchtete engagieren und Gastfreundschaft üben.

Wir bekommen jeden Tag zwischen 20 und 30 Anfragen von Menschen, die ein Kirchenasyl suchen. Daran kann man sehen, wie groß die Not im Moment ist. Viele Menschen erleben auch Abschiebungen in ihrer Umgebung und haben deshalb natürlich Angst. Wenn Kirchgemeinden selbstbewusst für das Kirchenasyl einstehen, dann können sie einen Unterschied machen, sowohl für die von Abschiebung bedrohten Personen als auch in der politischen Debatte. Durch ein Kirchenasyl macht die Gemeinde nach außen hin sichtbar: Wir stehen hier für die Betroffenen ein mit einem bestimmten Menschenbild und einer Kritik an diesem festungskapitalistischen Grenzregime und seinen tödlichen Auswirkungen.

Eule: Es werden allerdings nicht aus allen Anfragen auch Kirchenasyle.

Kern: Nein, das wäre schön, aber es gibt einfach nicht genügend Kirchgemeinden, die sich auf ein Kirchenasyl einlassen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wenn sich ein Presbyterium oder ein Kirchenvorstand für ein Kirchenasyl ausspricht, dann ist das auch innerhalb der Gemeinden nicht konfliktfrei. Die politischen Debatten werden ja auch in den Kirchen geführt. Zudem bemerken auch wir die gemeindlichen Erosionsprozesse. Es gibt deutlich weniger Ehrenamtliche in den Gemeinden, die ein Kirchenasyl unterstützen können. Vor zwanzig Jahren waren zudem Klöster Hauptplayer beim Kirchenasyl. Aufgrund der Überalterung der Orden ist das heute fast nicht mehr möglich, obwohl die Räumlichkeiten in Klöstern optimal wären.

Eule: Gibt es für das Kirchenasyl genügend Unterstützung aus den Kirchenleitungen?

Kern: Ich erlebe zu wenig Ermutigung von den Leitungen in Richtung der Gemeinden, gerade jetzt in dieser angespannten Situation Kirchenasyl zu gewähren, auch wenn es gegen den chauvinistischen Zeitgeist geht. Es stünde den Kirchen gut an, wenn sie deutlich und parteilich Position beziehen. Man wird in der gegenwärtigen Lage wahrscheinlich nicht erwarten dürfen, dass sich die Kirchenleitungen hinstellen und laut sagen, dass wir das Kirchenasyl mehr denn je brauchen, auch wenn das wünschenswert wäre. Aber das Kirchenasyl war von Anfang an, also seit den 1980er Jahren in der Bundesrepublik, immer auch eine Praxis jenseits des Rechts und von unten her, von den Kirchgemeinden ausgehend. Dieses Selbstbewusstsein zu stärken, ist wichtig, und nimmt einen Großteil meiner Arbeit ein.

Eule: Ein Kirchenasyl soll die individuelle Härtefallprüfung ermöglichen und gibt dem Staat damit auch die Möglichkeit, sich zu korrigieren. Im Moment ist es so, dass viele Menschen im Kirchenasyl sog. Dublin-Fälle sind. Sie haben schon erwähnt, dass das Kirchenasyl auch genutzt wird, um über die Überstellungsfrist von 6 Monaten hinwegzukommen. 

Kern: Ich würde sagen, dass momentan 95 % aller Kirchenasyle diesen Dublin-Hintergrund haben. Tatsächlich geht es darum, dafür zu sorgen, dass diese Menschen in Deutschland in ein Asylverfahren kommen, weil ihnen in einem Asylverfahren in einem anderen Dublin-Staat, in den sie abgeschoben werden sollen, inhumane Härten drohen würden.

Ich komme gerade aus Bulgarien zurück, wo wir über die Schicksale von Dublin-Rückkehrer*innen recherchiert haben. Uns ist deutlich geworden, dass es sowohl rechtlich auch sozial eine völlige Perspektivlosigkeit gibt für Menschen, die dorthin zurück abgeschoben werden: Sie landen in der Wohnungslosigkeit, haben nur extrem eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt. Die Chancen für Familienzusammenführungen sind sehr schlecht. Auch am deutschen Asylsystem habe ich viel zu kritisieren aber die drohenden Härten in anderen Staaten wie Bulgarien sind viel schlimmer als das, was den Menschen hier bevorsteht.

Eule: Die meisten Dublin-Staaten sind Mitglieder der Europäischen Union. Was ist denn an Litauen, Bulgarien, Rumänien und Griechenland so gefährlich, dass man Menschen dahin nicht zurückschicken kann? 

Kern: Da muss man einfach mal hinfahren und sich das anschauen, dann wird das klar! Es gibt in vielen Fällen keine staatliche Unterbringung für Geflüchtete. Daher droht dann Wohnungslosigkeit, wenn nicht sogar Inhaftierung, weil ihnen die Ausreise nach der Erstregistrierung vorgeworfen wird. So macht das zum Beispiel Dänemark.

Eine große Rolle für Menschen aus Syrien, die die meisten Kirchenasylfälle stellen, spielen Familienmitglieder, die manchmal schon seit 2015 in Deutschland sind. Und die können hier natürlich unterstützen. Diese Menschen sind in einem anderen Staat völlig auf sich selbst gestellt. Das hohe Gut des Familienzusammenhalts wird durch Dublin-Abschiebungen gefährdet. Das ist in vielen Fällen eine der Begründungen für Gemeinden, sich dafür zu entscheiden, Kirchenasyl zu gewähren.

Und zum Schluss: Die medizinische Versorgung ist in zahlreichen Dublin-Staaten extrem schlecht, besonders für Menschen mit Traumata, die eine psychologische Behandlung brauchen. Die Versorgung hier in Deutschland ist schon schlecht genug, aber in Bulgarien gibt es oft überhaupt keinen Zugang für Geflüchtete.

Eule: Die BAG Asyl in der Kirche sagt, dass die mit großem Aufwand erstellten Dossiers für die Härtefallprüfung vom BAMF gar nicht mehr gewürdigt würden. Das ist aber Teil der Vereinbarung zwischen dem BAMF / dem Bundesministerium des Innern und den Kirchen. Ist das die handfeste Seite des politischen Stellschraubenandrehens bei der Migrationspolitik?

Kern: Die miserable Entscheidungspraxis bei den Dossiers gibt es schon länger. Bereits in den Jahren 2016/2017 sind die Bewilligungen in den Keller gerauscht. Nachdem das Verfahren 2015 eingeführt wurde, lag die Prüfung der Dossiers zunächst bei der Qualitätssicherung im BAMF. Das hatte zur Folge, dass viele der ursprünglich abschlägigen Bescheide zurückgenommen wurden. Das hat der BAMF-Spitze politisch nicht gepasst und so wurde die Prüfung in die Dublin-Abteilung delegiert. Die Revision erledigt nun also das Referat, das zuvor schon in der Sache entschieden hat. Das erbringt die zu erwartenden miserablen Ergebnisse. Mittlerweile ist es allerdings so, dass die allermeisten Dossiers nicht mehr abgelehnt werden, wie es zwischenzeitlich war, sondern gar nicht erst bearbeitet.

Eule: Dann kann man sich das Bohei mit den Dossiers doch aber sparen? 

Kern: Viele Kirchgemeinden wären wohl froh, wenn sie sich diese aufwendige Arbeit sparen könnten, ja. Andererseits helfen die in den Dossiers zusammengeführten Informationen dabei, gegenüber den Behörden einen Härtefall nachzuweisen, wenn ein Kirchenasyl in die Gefahr einer Räumung gerät.

Eule: Die zuständige Ministerin in NRW, Josefine Paul (Grüne), sagte gegenüber Correctiv, sie bringe sich derzeit in Diskussionen „auch auf höchster politischer Ebene“ ein, mit dem Ziel, „die Akzeptanz für das bewährte Instrument zu erhalten“. Dafür sei, so Correctiv, „Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten sei nötig, beim BAMF ebenso wie bei Kirchen“. Die Forderungen, es mit dem Kirchenasyl nicht zu übertreiben, werden zahlreicher. 

Kern: Das ist aus meiner Sicht eine schwache Kritik an den Kirchen. Will man etwa eine Obergrenze für Kirchenasyle? Ich halte diese Forderung außerdem für ein Ablenkungsmanöver: Im Jahr 2023 sind 38.000 Dublin-Überstellungen nicht durchgeführt worden, gerade einmal 2.200 Personen davon waren in Kirchenasylen untergebracht. Die allermeisten Dublin-Rückführungen scheitern, weil ein Dublin-Mitgliedstaat nicht mitmacht, weil die Ausländerbehörden es nicht organisiert bekommen, weil jemand untergetaucht ist, weil ein Verwaltungsgericht die Abschiebung stoppt oder weil die Leute nicht angetroffen werden oder es keine Flugverbindungen gibt. Das Kirchenasyl fällt jedenfalls nicht so ins Gewicht, dass man sagen könnte, es wäre die große Allzweckwaffe, die das Dublin-System aus den Angeln hebt.

Eule: Wie geht es jetzt weiter? Werden wir noch zehn Jahre über Dublin-Fälle streiten?

Kern: Die Reform, die jetzt auf europäischer Ebene kommen soll [sog. GEAS, Anm. d. Red.], mit den Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen, soll ja das Dublin-System massiv beeinflussen. Viele Menschen werden wahrscheinlich gar nicht mehr in die nördlichen und zentralen Staaten Europas kommen können, weil sie schon in den Lagern an den Außengrenzen abgefertigt werden. Die Zahl der Dublin-Fälle in Deutschland wird also mit der GEAS unter Umständen sinken.

Andererseits haben uns die Gesprächspartner*innen in Bulgarien vom dortigen Pendant des BAMF gesagt, man sei fest davon überzeugt, Dublin sei nach wie vor eine funktionsfähige Einrichtung innerhalb Europas: Es könnten mehr Abschiebungen durchgesetzt werden, wenn man das nur wollte. Sie als Migrationsbehörde in Bulgarien würden ihre Arbeit da schon leisten und man bemerke auch, dass es inzwischen mehr Rückführungen nach Bulgarien gäbe. Europa könne sich nicht beschweren, dass ihr Land nicht mitmachen würde.

Hintergrund ist der dringende Wunsch Bulgariens, Vollmitglied im Schengen-Raum zu sein. An die Erfüllung dieses Wunschs bindet die EU den Schutz der Außengrenze, was mit massiver Gewalt und illegalen Pushbacks einhergeht, und die Kooperation bei der Rücknahme von Dublin-Fällen. Dabei wissen die anderen EU-Länder natürlich, dass die soziale Situation in Bulgarien so schlecht ist, dass die Menschen nicht dort bleiben werden. Nach einer Dublin-Abschiebung nach Bulgarien macht sich ein großer Teil der Menschen erneut auf den Weg, obwohl das mit hohen Schlepperkosten verbunden ist. Die gegenwärtige EU-Migrationspolitik ist eine organisierte Entmenschlichung und muss grundsätzlich überwunden werden.


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Das Interview führte Philipp Greifenstein.