Kirche

Evangelische Allianz: Dem Irrsinn entgegen?

Führende Evangelikale sprechen sich gegen eine Impfpflicht und eine „pauschale Diffamierung von Nichtgeimpften“ aus, gleichzeitig wollen sie die Demokratie und ihren Glauben gegen Instrumentalisierung verteidigen. Eine Analyse.

In einer Stellungnahme von Montag sprechen sich die führenden Männer der Evangelischen Allianz für das Impfen, aber gegen eine allgemeine Impfpflicht aus. Die Positionierung des evangelikalen Netzwerks ist erneut Anlass, die Rolle von frommen Christ:innen in der Corona-Pandemie zu diskutieren. Kommentator:innen werfen den Autoren der Stellungnahme vor, den Pfad der Tugend zu verlassen.

Ekkehart Vetter, erster Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Deutschland, deren zweiter Vorsitzender Siegfried Winkler und Generalsekretär Reinhardt Schink sowie Uwe Heimowski, der die Allianz in der Bundeshauptstadt vertritt, haben sich am Montag mit einer gemeinsamen Stellungnahme in der Debatte um eine allgemeine Impfpflicht positioniert. Näher dran an eine verbindliche Stellungnahme des evangelikalen Netzwerks kommt man kaum. Die Evangelische Allianz umfasst die Mehrheit der evangelikalen Bewegung in Deutschland; Gemeinden und kirchliche Werke, in denen ca. 1-1,3 Millionen Menschen organisiert sind.

In ihrer Stellungnahme sprechen sich die evangelikalen Führungskräfte dafür aus, „sich freiwillig impfen zu lassen“ und thematisieren, warum sich die Evangelische Allianz zum Thema Impfen „sehr zurückhaltend geäußert“ hat. Sie sprechen sich „deutlich dagegen aus, die Impffrage zu einer Bekenntnisfrage zu machen“ und verwahren sich gegen eine „theologisch-endzeitliche Überhöhung der Impfdebatte“, der mit „geistlicher Nüchternheit zu begegnen“ sei.

Kritiker:innen, wie die konservative Publizistin Liane Bednarz (zuletzt hier in der Eule), deuten die Stellungnahme als „Fehlschluss der goldenen Mitte“, als verfehlten Versuch, eine „false balance“ zwischen den unterschiedlichen Positionen zur Corona-Impfung herzustellen. So erwähnen die Autoren in ihrer Stellungnahme unter anderem die Nebenwirkungen von Corona-Impfungen, ohne hingegen ihre herausragende Schutzwirkung ausdrücklich zu würdigen. So entsteht der Eindruck, man könne zum Impfen als Christ:in gut verschiedener Meinung sein.

In der Tat sprechen sich die Autoren gegen eine „pauschale Diffamierung von Nichtgeimpften als „Pandemietreiber“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „Querdenker““ aus. Es gäbe vielfältige Gründe, sich nicht impfen zu lassen, und die „Entscheidung für oder gegen die Impfung“ liege „in der Freiheit des Einzelnen“. Nichtgeimpfte dürften daher „nicht pauschal vom öffentlichen und kirchlichen Leben ausgeschlossen werden“, gleichwohl müssten sie mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung leben. „Wer sich gegen eine Impfung entscheidet, muss dazu bereit sein, dass zusätzliche Tests oder andere Regelungen seinen Alltag erschweren“, „negative Auswirkungen einer persönlichen Entscheidung“ dürften nicht „automatisch auf die Allgemeinheit abgewälzt werden“.

Botschaft an die Schwurbler in den eigenen Reihen

Glaube sollte Brücken schlagen, auch zu den Nichtgeimpften“, erklärt Co-Autor Uwe Heimowski auf Facebook die Intention der Stellungnahme. In der Tat richtet sich der Text erkennbar an diejenigen Menschen innerhalb der evangelikalen Bewegung, die von der Aussicht auf eine allgemeine Impfpflicht beunruhigt sind und nicht zuletzt mit dieser „Bedrohung“ ihren Protest gegen die Pandemie-Bekämpfung als Ganze begründen. Über den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie ist die evangelikale Bewegung hierzulande tief gespalten.

Im November 2020 hatten sich führende Evangelikale mit acht Thesen zur Corona-Pandemie positioniert und „Verschwörungstheorien und unsolidarische Verhaltensweisen“ ausdrücklich zurückgewiesen. Anlass waren damals vermehrte Berichte über die Missachtung von Corona-Schutzmaßnahmen unter frommen Christen, die zu einigen wenigen, aber heftigen Hot-Spots in christlichen Gemeinden führte. Bei den sog. „Corona-Protesten“ sind bis heute auch Christ:innen involviert, vor allem in pietistisch geprägten Regionen wie Schwaben und dem Erzgebirge. In evangelikalen Gemeinden wird nicht nur über den Sinn einzelner Schutzmaßnahmen gestritten, sondern auch über die Bedeutung der Pandemie als solche, die nicht wenige Evangelikale als Zeichen einer anbrechenden Endzeit deuten.

Apokalyptisches Denken, Staatsferne und libertäre Überzeugungen sind in evangelikalen Szenen seit Jahren vor allem durch US-amerikanische Einflüsse virulent. Teile der evangelikalen Bewegung radikalisieren sich entlang der traditionellen Politikinteressen konservativer Christ:innen: Lebensschutz, Erhalt der „traditionellen“ Familie, Ablehnung von LGBTQ*, Christenverfolgung und Islamkritik. Demgegenüber steht eine wenig kohärente, aber in den evangelikalen Gemeinden und Werken inzwischen unübersehbare Gruppe von zumeist jüngeren Gläubigen, die sich von den reaktionären politischen Überzeugungen ihrer Eltern und Großeltern emanzipieren. Zumindest einige von ihnen wollen jedoch weiterhin Teil der evangelikalen Bewegung bleiben.

Die Corona-Politik ist also nur das neueste Spielfeld, auf dem innerhalb der evangelikalen Bewegung ein Politik- und Generationenkonflikt ausgetragen wird. Der Versuch der Autoren, sich mit einer ausgewogenen Stellungnahme, die „Brücken“ zu bauen versucht,  in der Impfpflicht-Debatte zu Wort zu melden, wird nur vor diesem Hintergrund verständlich. Kann die Evangelische Allianz sich gegen die weitere Radikalisierung nach Rechts stemmen und zugleich ein eigenes Profil wahren?

Positionierung im Nirgendwo

Denn von einer „pauschalen Diffamierung“ und Ausgrenzung von Nichtgeimpften kann in den christlichen Kirchen hierzulande keine Rede sein. Nur wenige Gemeinden und Kirchen haben zum Beispiel ausschließlich 2G-Veranstaltungen im Portfolio. Ungeimpfte Corona-Verstorbene und ihre – nicht selten immer noch verstockten – Angehörigen werden von Seelsorger:innen ebenso professionell behandelt wie geimpfte.

Dafür, dass Nichtgeimpfte vom kirchlichen Leben ausgeschlossen würden, gibt es, von punktuellen Ausnahmen abgesehen, keine Anhaltspunkte. Vor allem, wenn man – wie die Autoren der jüngsten Stellungnahme – eine Testpflicht zurecht nicht für eine Diskriminierung hält, sondern für eine logische Folge der je persönlichen Entscheidung gegen das Impfen.

Auch in der Diskussion um eine allgemeine Impfpflicht stehen konservative Christ:innen und/oder Evangelikale innerhalb der Kirchenlandschaft keineswegs auf verlorenem Posten: Wer sich für eine allgemeine Impfpflicht ausspricht, wie die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus oder der Präsident der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie, ist bei dieser Position erst nach vielen Runden des Nachdenkens angelangt, das häufig mit einer Bejahung einer partiellen Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen begann. Weder die katholische noch die evangelische Kirche als solche sprechen sich für oder gegen eine allgemeine Impfpflicht aus. Neben grundsätzlich bejahenden Stimmen gibt es immer wieder auch skeptische Kommentierungen, sowieso stellt sich die gesamte Impfpflicht-Debatte in den Kirchen – besonders im gesellschaftlichen Vergleich – ausgeruht und besonnen dar.

Darüber hinaus hat kein kirchenleitendes Organ das Impfen zu einer „Bekenntnisfrage“ erklärt oder dementsprechende Forderungen erhoben, wie die Autoren der Stellungnahme gleichlautende Anklagen aus ihrem Beritt affirmativ aufnehmend befürchten. In allen christlichen Kirchen wird fleißig zum Impfen aufgefordert und zum Teil auch eingeladen, leitende Geistliche der evangelischen Landeskirchen und römisch-katholische Bischöfe sind hierzulande deutlich mit impffreundlichen Statements aufgefallen, aber niemand hat den Erhalt der Sakramente oder die Kirchenmitgliedschaft an den Impfpass gebunden. Eine „theologisch-endzeitliche Überhöhung der Impfdebatte“ betreiben überdies ausschließlich rechtsradikale Akteur:innen.

Vor diesem Hintergrund muss die Stellungnahme der führenden Evangelikalen enttäuschen, denn um sich in einer angenommenen „Mitte“ zwischen den Corona-Protestlern in den eigenen Reihen und einer vermeintlichen „Corona-Avantgarde“ aus Impfpflicht-Befürworter:innen zu positionieren, muss der Druck, der auf Ungeimpften und Maßnahmen-Skeptiker:innen innerhalb der Kirchen lastet, übertrieben dargestellt werden. Tatsächlich wird ihnen mit erstaunlichem Langmut und unter Aufwendung von reichlich Zeit und Kraft begegnet, wie Haupt- und Ehrenamtliche immer wieder berichten.

Ein Brückenschlag mit Folgen?

Ob der radikalisierte Teil der Bewegung von einem solchen „Brückenschlag“ überhaupt noch erreicht werden kann, darf man Anfang 2022 ebenfalls bezweifeln. Auch die „Corona-Proteste“, an denen nach wie vor auch Christ:innen beteiligt sind, erleben derzeit eine neue starke Welle. Schwurbel-Märsche, auf denen „Leben mit Jesus hat Folgen“ von Christoph Zehendner gesungen wird, sind keine Seltenheit und dokumentieren, dass unter der allseits hochgehaltenen Nächstenliebe höchst unterschiedliche Dinge verstanden werden.

Das macht den Versuch der Autoren allerdings nicht unehrenwert. Deutliche Stellungnahmen pro Impfung kann es nie genug geben. Mit einer Impfung schützt man sich selbst vor schwerer Erkrankung, andere Menschen, insb. vulnerable Gruppen, die keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Impfungen haben, und die eigene Familie und Gemeinde. Die zur Verfügung stehenden Corona-Impfstoffe sind in überwältigendem Ausmaß sicher, die gewöhnlichen Nebenwirkungen ein geringer Preis angesichts der Gefahr schwer an Covid zu erkranken. Wer will schon an Gräbern von Menschen stehen, die nicht hätten sterben müssen?

Zu einer allgemeinen Impfpflicht gibt es in der Tat viele unterschiedliche und – anders als bei der Impffrage als solcher – gut begründete Positionen. Hierzu ist die Debatte auch innerhalb der Kirchen längst nicht zu einem Ende gekommen. Vor allem stellt sich die Frage, ob eine Impfpflicht sich „jetzt noch“ und unter Berücksichtigung aller gesellschaftlichen und pandemischen Dynamiken lohnt. In der Debatte können Stellungnahmen, die pointiert auf die persönliche Verantwortung und die Bedeutung von Religions- und Gewissensfreiheit abstellen, nicht schaden. Dazu müssten sie aber wohl noch präziser und auch ausführlicher formuliert werden.

Die Autoren wollen vor Irrwegen warnen. Effektiver noch ließe sich dem Irrsinn entgegnen, der unter Christen Raum gewinnen will, würden die seit Jahr und Tag in der evangelikalen Bewegung gepflegten Positionen und Traditionen gründlich hinterfragt, die den Corona-Protesten jenseits der aktuellen Corona-Politik auch zu Grunde liegen. Entgegen der Weltverachtung der Schwurbler dokumentieren die Autoren ihren Willen, an der Gesellschaft auch als politisch Handelnde teilzunehmen. Eine Bedingung dafür, in Zukunft auch bei anderen Themen überhaupt noch ernst genommen zu werden.

Dass sich die Autoren gegen eine „Diffamierung unserer Demokratie“, gegen die grundsätzliche Infragestellung des Rechtsstaates, „gewaltbereite Radikale“ und gegen eine Instrumentalisierung des Glaubens aussprechen, zeigt zweierlei: Dass solche Distanzierungen dringend notwendig und dass sie innerhalb der evangelikalen Bewegung in Deutschland möglich sind. Letzteres unterscheidet den Evangelikalismus hierzulande von seinem großen, zunehmend völlig derangierten Bruder in den USA.