Kirche

ForuM-Studie: Das Armutszeugnis

Die „ForuM-Studie“ stellt der Evangelischen Kirche und der Diakonie ein Armutszeugnis aus. Besonders der Umgang mit Betroffenen ist entsetzlich. Die zur Schau gestellte Scham über die Zahlen lenkt davon nur ab. Ein Kommentar.

Nun ist sie also da: Die große, deutschlandweite Studie zur sexualisierten Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie, kurz: „ForuM-Studie“. Sie enthält hohe Betroffenen- und Täterzahlen, sie weist Diakonie und Kirche aus, wie und unter welchen Umständen es zu sexualisierter Gewalt kommen konnte – vor allem legt sie Zeugnis ab vom entsetzlichen Umgang mit den Betroffenen.

In den ersten Stunden nach Veröffentlichung der Studie richtete sich das Augenmerk vor allem auf die Fallzahlen und eine Hochrechnung der Forscher:innen (wir berichteten). Zahlreiche Landeskirchen reagierten auf den Vorwurf, sie hätten sich nicht an die ursprüngliche Vereinbarung mit dem Forschungsverbund gehalten, indem sie ihre Zahlen veröffentlichten. Dazu noch die neuesten Meldungen aus den vergangenen Jahren, die keinen Eingang in die Studie finden konnten. Das ist überfällig, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Zahlen viel zu niedrig ausfallen. Es sind ja nicht einmal alle bekannten Fälle in den diakonischen Einrichtungen dabei, sondern zumeist nur jene, in denen sich Betroffene aus Gemeindekontexten um Anerkennungsleistungen bei der Kirche bemüht haben.

Über die Kritik der Forscher:innen daran, dass zumeist nur Disziplinarakten systematisch ausgewertet werden konnten (mehr dazu hier in der Eule), zeigen sich die Landeskirchen „überrascht“, als ob sie nicht wüssten, dass es mitten in der Forschungsarbeit zu einem Fahrplanwechsel gekommen ist: Nach erheblichen Verzögerungen und wegen ihrer Überforderung mit dem Datenbestand wurde von der eigentlich vereinbarten Untersuchung von Personalakten auf jene der deutlich selteneren Disziplinarakten umgestellt. Sowohl auf das ursprünglich vorgesehene Studiendesign als auch auf die zwischenzeitlichen Änderungen hatten sich Forschende und Auftraggeber jeweils gemeinsam geeinigt.

Legenden der Nichtzuständigkeit

Im Interview mit dem Sonntagsblatt, der Kirchenzeitung seiner Landeskirche, erklärt der bayerische Landesbischof Christian Kopp freimütig, er wisse auch nicht, warum die Landeskirchen eine Untersuchung der Personalakten zunächst für möglich hielten, denn er kenne „die genaue Vereinbarung zwischen EKD und Studienmachern nicht“. Kopp steht der bayerischen Landeskirche seit drei Monaten als Landesbischof vor. Genügend Zeit, möchte man meinen, in der er sich auf den „rabenschwarzen Tag“ der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ hätte vorbereiten können.

Tröstlich zu wissen: Selbst wenn das umfangreiche Vertragswerk zwischen EKD, Diakonie und Forschungsverbund in den Hallen des ELKB-Landeskirchenamts nicht mehr auffindbar sein sollte, kann Kopp immerhin das Gespräch mit dessen Leiter, Oberkirchenrat Nikolaus Blum, suchen. Der leitende Jurist der Landeskirche hat als Mitglied im EKD-„Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ ja an der Ausschreibung und Vergabe der Studie mitgewirkt.

Legenden der Nichtzuständigkeit und Überraschung werden in diesen Tagen viele erzählt. Die Bayern sind wenigstens noch so ehrlich zuzugeben, dass die Zuarbeiten zum Teilprojekt E der „ForuM-Studie“ sie überfordert haben. Das zeigen auch die Ergebnisse des 1. Teilschritts des Teilprojekts (S. 586 ff. des Abschlussberichts), wo über Seiten hinweg aufgeschlüsselt wird, wie wenig die Landeskirchen eigentlich strukturiert über ihre Akten, Pfarrer:innen, Mitarbeitenden, Präventions- und Interventionsstrukturen wissen. Das sind schon bemerkenswerte Ausflüsse eines Systems, das seinen eigenen Fortbestand immer wieder wortreich mit der hohen Qualität der geleisteten Services für Kirchgemeinden und Kirchenmitglieder begründet.

Die von den Landeskirchen und der Diakonie in die Studie eingebrachten Fallzahlen – man muss es noch einmal ganz deutlich sagen – sind viel zu niedrig. Sie inkludieren nicht einmal alle bekannten Fälle. Sie sind „nicht überraschend“, wie die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs zutreffend erklärte. Warum sich Leitende Geistliche der Landeskirchen ob der Zahlen trotzdem „erschrocken“ zeigen, bleibt ihr Geheimnis.

Ein wenig anders sieht es bei Kirchenmitarbeitenden und -Mitgliedern in der Fläche aus: Auch sie konnten selbstverständlich schon vor Veröffentlichung der Studie wissen, dass „der Missbrauch nicht allein ein katholisches Problem ist“. Die damalige Präses der EKD-Synode Katrin Göring-Eckardt hat das schon im Jahr 2010 eingesehen, ebenso wie der damalige EKD-Ratsvorsitzende und rheinische Präses Nikolaus Schneider – und seither noch viele, viele weitere kirchenleitende Akteur:innen. Seit Jahrzehnten erzählen Betroffene ihre Geschichten, seit Jahren klagen sie über das Verhalten der Kirche ihnen gegenüber, berichten Medien ausführlich. Wer von alldem nichts bekommen haben will, muss sich die Augen und Ohren schon ganz fest zugehalten haben.

Aber: Über das wahre Ausmaß des Missbrauchsgeschehens in ihren eigenen Sprengeln, diakonischen Werken, Kirchenkreisen und Landeskirchen sind viele Menschen in der Kirche – man muss sagen: bewusst – im Unklaren gehalten worden. Zu groß war seit 2010 immer wieder die Angst davor, mit schlechten Nachrichten dem Vertrauensverlust der Kirchen Vorschub zu leisten. Für diese mangelnde Transparenz tragen besonders die Kirchenleitungen der Landeskirchen und die Vorstände diakonischer Werke und Einrichtungen Verantwortung. Missbrauchsfälle müssen konsequent veröffentlicht werden, wo Betroffene dem zustimmen.

Das Problem reicht – typisch evangelisch – jedoch tiefer: In einer Kirche, in der im Rahmen des synodalen Prinzips abertausende Menschen Mit-Verantwortung tragen, kann sich niemand einfach rausreden und „nach oben“ zeigen. Schweigen, nicht hinsehen wollen und beschwichtigen sind Teil der evangelischen „Verantwortungsdiffusion“, die in den Kirchengemeinden und im Kolleg:innenkreis von Einrichtungen beginnt und sich bis in die Kirchenkonferenz und den Rat der EKD durch alle Ebenen der Kirche zieht.

Betroffene als Störenfriede

Erschreckend, ja, entsetzlich sind nicht die Zahlen, sondern andere Befunde der „ForuM-Studie“, um die bisher noch weitgehend ein Bogen gemacht wird. Die ostentativ zur Schau gestellte Scham über die Zahlen ist nichts anderes als ein weiterer Abwehrreflex, um sich nicht wesentlich unbequemeren Fragen zu stellen, die durch die „ForuM-Studie“ aufgeworfen wurden.

Damit meine ich ausdrücklich nicht theologische oder seelsorgliche Fragen. Auch in diesen Tagen fragen sich manche evangelische Pfarrer:innen verlässlich zuerst, wie sie „jetzt für die Menschen da sein können“, wird an „Bußgottesdiensten“ gearbeitet und werden auf Social-Media-Plattformen andächtige Worte und Befindlichkeiten ausgetauscht. In Anbetracht dessen, dass „ihr rhetorisches Geschick und ihre theologische Deutungskompetenz“ den Tätern dabei geholfen haben, sexualisierte Gewalt anzubahnen und sich gegen kritische Nachfragen zu immunisieren, wie die „ForuM-Studie“ in den Fallschilderungen nachweist, ein bemerkenswerter Vorgang.

Nein, was mich als evangelischen Christen beim Lesen der Studie am allermeisten beschämt, ist der entsetzliche Umgang der Verantwortlichen mit den Betroffenen: Mit den Kindern und Jugendlichen, denen ihre Familien und Gemeinden nicht glaubten. Mit den Frauen und Männern, die unter ihren Kolleg:innen, Amtsbrüdern und -Schwestern und bei Dienstvorgesetzten kein Gehör fanden. Mit den Betroffenen, die sich nach Jahrzehnten des Schweigens in die Mühlen der kirchlichen „Aufarbeitung“ begeben haben. Die „ForuM-Studie“ weist nach, dass ihnen nicht geglaubt wurde, dass sie für die Institution nur dann von Wert sind, wenn sie sich an die vorgegebenen Pfade halten, wenn sie der Kirche dienlich sind – dass sie auch heute noch als Bittsteller:innen und Störenfriede in einer auf Harmonie bedachten Kirchengemeinschaft wahrgenommen werden.

Das ist kein Phänomen der Vergangenheit, wie uns all die Statements von BischöfInnen weis machen wollen, die salbungsvoll bekennen, die Betroffenen stünden bei ihnen „im Zentrum“ und „an erster Stelle“. Das sprechen seit Nikolaus Schneider 2010 alle Leitenden Geistlichen wie ein Lippenbekenntnis in alle Mikrofone, die ihnen noch hingehalten werden. Es stimmt aber nicht.

Wer muss am Ende bezahlen?

Gegenwärtig wird in der Evangelischen Kirche an der Harmonisierung und Standardisierung der Anerkennungsleistungen gearbeitet (wir berichteten). Endlich, möchte man meinen. Die Kirche lobt sich, dass zuletzt deutlich höhere Leistungen zugesprochen wurden. Zugleich ist aus den sog. „Unabhängigen Kommissionen“ (sic!), die für das Zusprechen der Leistungen zuständig sind, zu hören, das Geld ginge langsam zur Neige. Ohne höhere Zuweisungen aus den Haushalten ihre jeweiligen Landeskirchen müsse man schauen, wie man sich das Geld „gut einteilt“.

Dass diese Kommissionen übrigens bis in die jüngste Vergangenheit hinein tatsächlich nicht unabhängig waren – wie wir hier in der Eule mehrfach berichteten – weist die „ForuM-Studie“ ebenfalls nach, ebenso wie die mangelhafte Qualität der kirchlichen Meldestellen und Präventionsarbeit im Untersuchungszeitraum (S. 598 ff. des Abschlussberichts). In einigen Fallstudien der Teilprojekte B, C und D wird der verheerende Umgang der Kirche mit den Betroffenen von den akademischen Forscher:innen und ihren betroffenen Co-Forschenden ausführlich dargestellt.

Angesichts steigender Antragszahlen steht in mehreren Landeskirchen trotz all dieser Befunde die Rückkehr von Glaubwürdigkeitsprüfungen auf dem Wunschzettel. Als ob die Betroffenen und nicht Kirche und Diakonie ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssten. Eigentlich sollte im Raum der Kirche eine im Vergleich zu staatlichen Verfahren einfachere Plausibilitätsprüfung zureichen, um sich für Anerkennungsleistungen „zu qualifizieren“. Weil der Missbrauch in der Kirche aber so schrecklich plausibel ist, wird es einigen Landeskirchen nun offenbar zu teuer.

Die Frage, wer eigentlich die Anerkennungsleistungen für Betroffene aus den evangelischen Verbänden übernimmt, ist ebenfalls noch offen. Die Verbände der Evangelischen Jugend halten sich, bis auf wenige Ausnahmen, bei der Aufarbeitung bisher sehr zurück. Klar ist: Sie können Anerkennungsleistungen aus eigenen Mitteln überhaupt nicht stemmen. Hier stehen – nach moralischen Maßstäben jedenfalls – selbstverständlich die Landeskirchen in der Pflicht. Oder will sich die Kirche abermals auf „juristische Argumentationen“ zurückziehen, wie es ihr die „ForuM-Studie“ für die Jahre bis 2020 so deutlich bescheinigt?

„Wir nehmen die Armutszeugnisse in der Studie an“, versprach die Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz, Dorothee Wüst, bei der Vorstellung der Studie in Hannover. Wüst ist Sprecherin der kirchlichen Beauftragten, die im Beteiligungsforum der EKD (BeFo) gemeinsam mit Betroffenen an Standards für alle relevanten Prozesse auf dem Handlungsfeld Schutz vor sexualisierter Gewalt arbeiten. Was im BeFo gemeinsam beschlossen wird, dem soll von den EKD-Gremien (Rat, Synode, Kirchenkonferenz) zugestimmt und das soll zügig von allen Landeskirchen umgesetzt werden. So haben es auch die Evangelischen Landeskirchen mitbeschlossen. Diese Struktur macht Hoffnung, aber sie muss ihre Wirksamkeit immer wieder neu unter Beweis stellen. Es ist nun an den Landeskirchen zu ihren Zusagen zu stehen.


Alle Eule-Artikel zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.

Fragen und Hinweise zur „ForuM-Studie“ und zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“ nehmen wir gerne vertraulich per E-Mail (redaktion@eulemagazin.de), hier in den Kommentaren und auf Social Media entgegen.


Die „ForuM-Studie“

Die komplette Studie steht als PDF zum Download auf der Website des Forschungsverbundes zur Verfügung. Dort findet sich außerdem eine 37-seitige „Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung“ als PDF zum Download.

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