Frau Doktor (4): Dr. theol. Christiane

Christiane Renner hat über den Kirchentag promoviert. Im (vorerst) letzten Teil unserer Serie „Frau Doktor“ schreibt sie über originelle Zugänge zum Thema und ihren persönlichen Weg in die Wissenschaft.

„Dr. theol. Christiane“ – damit haben meine Freund*innen damals meinen als Wikipedia-Artikel gestalteten Steckbrief in der Abizeitung unseres Jahrgangs betitelt. Prophetische Weitsicht oder eher freundschaftlicher Seitenhieb auf meine Schlauschweinereien, die ich damals schon gerne zum Besten gab? Heute sage ich: beides.

Ich erinnere mich an mein damaliges Ich, dem die Überschrift irgendwie unangenehm war: „Oh weh, das ist so weit weg, da würde soviel Arbeit drin strecken, das ist nichts für mich, ich backe liebe kleine Brötchen“. So wirklich wusste ich auch gar nicht, was mit so einem Titel verbunden ist. Die einzigen promovierten Menschen in meinem Umfeld, die ich bis dahin kannte, waren mein Hausarzt und mein Chemie-LK-Lehrer. Ersteren vermied ich zu besuchen. Mit Letzterem verband ich Sympathie und gleichzeitig großen Nerdalarm, wenn er mich grinsend über seine Lesebrille ansah und zu mir sagte: „Christiane, deine Fotometrie-Extinktions-Berechnungen sind gut, aber dein Versuchsaufbau könnte noch ein wenig genauer sein“.

Unkenntnis, nicht vorhandene Rolemodels jeglichen Genders und der angsteinflößend große Anspruch, den ich mit dem Titel verband, ließen die Option einer etwaigen Promotion zu diesem frühen Zeitpunkt erst gar nicht zu. Ich habe die visionären, weisen Worte meiner Mitschüler*innen deshalb aus meinen Gedanken verbannt.

Fröhliches Studium

Ein sanfter Einstieg in die akademische Welt und deren Gepflogenheiten, die mir als Erstakademikerin überhaupt nicht vertraut waren, gelang während meines Grundstudiums in Neuendettelsau. Mir war nicht klar, warum alle Schleiermacher toll fanden und Fichte, Hegel und Schelling freiwillig lasen, obwohl das Zeug steinalt war und schwer zu verstehen.

Mit Kommunikationsformen, akademischem Habitus und theologischem Stallgeruch wurde ich in der Zeit in Mittelfranken vertraut. Mit Sprachen und Zwischenprüfung in der Tasche, ging es für mich für ein Semester nach Finnland und dann fürs Hauptstudium nach Berlin.

Ich studierte fröhlich, liebte es Neues in der Theologie und der Hauptstadt zu entdecken und mich in Themen zu vertiefen, die mich nicht mehr losließen. Ich wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mir eröffneten sich mit dem Studium gleich mehrere Welten, die mich faszinierten und in ihren Bann zogen. Im Zuge des Hauptstudiums war ich den intellektuellen Reizen des Herrn Schleiermacher dann irgendwann ebenfalls erlegen, habe noch viel älteres Zeug als Schelling gelesen und zu schätzen gelernt.

Ich studierte unbedarft, mit Lust am Lesen und Nachdenken aber ohne großen Plan und Ziel, was dabei herauskommen sollte. Bis es dann fürs Examen nach Tübingen ging und die Frage nach einem Leben „danach“ unausweichlich wurde.

Der Groschen fällt

„Gemeinde auf Zeit“ – so hieß ein praktisch-theologisches Hauptseminar, das ich im Wintersemester 2013/2014 mitten in der Vorbereitung auf das erste theologische Examen in Tübingen besucht habe. Mehr noch als das Thema hat mich angesprochen, dass gleich drei praktisch-theologische Professor*innen daran beteiligt waren.

Gegen Ende meines Studiums interessierte mich die Praktische Theologie besonders, weil sich in ihr Fragen der aktuellen kirchlichen Lage mit theoretischen Reflexionen verbanden. Das fand ich spannend. Wenn dann mal drei praktische Theolog*innen von verschiedenen Fakultäten beisammen waren, musste ich dabei sein!

Und ich war dabei, habe ein Referat über neuere Sozialitätstheorien gehalten und bin danach mit einem der Gastprofessoren ins Gespräch gekommen. Es hat gepasst, thematisch und persönlich. Wir sind in Kontakt geblieben und ein gutes Jahr später hatte ich vor den schriftlichen Prüfungen fürs erste Examen den klaren Plan für danach in der Tasche: promovieren und zwar mit Stipendium und ohne Stelle. Yes!

Der innere Prozess, den ich während dieser Zeit gegangen bin, war weit weniger geradlinig als die äußeren Gegebenheiten, die mich zur Promotion führten. Während des langen Winters der Examensvorbereitung in Tübingen, war ich traurig darüber, dass mein Studium sich dem Ende neigen würde und ich keine konkrete Perspektive hatte.

Ich wollte nicht ins Vikariat. Es gab noch soviel zu entdecken und zu durchdenken, dass die religiöse Praxis zum Beruf zu machen zu diesem Zeitpunkt für mich nicht in Frage kam. Ich habe auch überlegt, ob ich mich mit meinem Diplom in Theologie auf dem freien Arbeitsmarkt versuchen sollte. Irgendeine Personalabteilung würde schon einen Job für mich haben. Das Herzklopfen blieb jedoch auch bei diesem Gedanken aus.

Während meiner letzten Tage in Berlin gab es bereits Gespräche mit dem dortigen Privatdozenten in Kirchengeschichte bezüglich eines Promotionsprojektes. Thematisch hätte es um kirchliche Zeitgeschichte gehen sollen, so sein Plan für mein Projekt. Ich hatte seine Idee im Hinterkopf, es zog mich jedoch nichts in die Kirchengeschichte und auch nicht an den Lehrstuhl zurück, an dem ich während meiner Berliner Zeit einen Hiwi-Job hatte.

Erst während des Gesprächs mit meinem Dissertationsbetreuer in spe im Rahmen des „Gemeinde-auf-Zeit“-Seminars fiel innerliche der Groschen. Die Bestärkung, Ermutigung und das Vertrauen, die mir dort am Rande des Seminars entgegengebracht wurden, haben mich beflügelt. Ich sah Land für mich und meine Lust am Denken und freien Arbeiten. Deshalb war ich auch froh, dass im Gespräch mit dem Prof klar wurde, dass es keine Stelle für mich an seinem Lehrstuhl geben würde, er mich aber hinsichtlich der Finanzierungsmöglichkeiten nach Kräften unterstützen würde.

Der Kirchentag. Event, Hybrid, Gemeinde?

Im Rahmen des Hauptseminars ging es damals um fluide Formen von Gemeinde. In diesem Zusammenhang fiel auch das Stichwort „Kirchentag“. Ich bin zu Schulzeiten, aber auch während des Studiums schon einige Male bei einem Deutschen Evangelischen Kirchentag dabei gewesen und mir erschloss sich sofort, dass die zeitlich begrenzte Form eine relevante Reflexionskategorie für den Gemeindebegriff sein konnte.

Insgesamt ist die theologische Fachliteratur zu Kirchentagen eher dünn. Zu kirchentheoretischen Fragen konnte ich bezüglich des Kirchentags gar nichts finden. Ich fragte bei besagtem Professor aus dem Seminar an, ob es sich lohnen würde, beim Stichwort „Kirchentag“ dran zu bleiben. Er war begeistert und schlug mir in einem persönlichen Gespräch gleich einen Arbeitstitel vor.

Kurz gesagt sollte ich überlegen, inwiefern bei einem Kirchentag eigentlich Kirche dran bzw. drin ist. Dass es neben „Gemeinde“ größer gefasst um „Kirche“ ging, war neben nomen est omen und dem Vorschlag meines Dissertationsbetreuers auch meinem ekklesiologischen Interesse geschuldet. Nach unserem Gespräch war thematisch alles eingetütet und ich saß, noch bevor das Examen durch war, hochmotiviert am Exposé für die Stipendienbewerbung.

In die Anfangsphase meiner Promotionszeit fiel dann der Umzug in eine mir bis dahin unbekannte Stadt, in der ich so gut wie niemanden kannte und in deren universitärer Landschaft ich mich erst orientieren musste. Die anfängliche Freude über die nur lose Anbindung an den Lehrstuhl meines Dissertationsbetreuers, der sich wiederum an einem anderen Universitätsstandort befand als mein privater Wohnort, wich dem Gefühl der Einsamkeit und der Überforderung.

Weggefährt*innen und Mentoring

Im ersten Jahr vergrub ich mich in Bücherstapel und schmückte meinen Elfenbeinturm mit einer großen Literaturfülle aus. Ich vermisste jedoch den regelmäßigen, unbürokratischen Austausch über den Schreibtisch hinweg wie ich ihn aus meinem Studium kannte.

Das Doktorand*innenkolloquium, das einmal im Semester stattfand, war eine willkommene Abwechslung, aber anfänglich auch nicht mehr. Wissenschaftlicher Austausch erfreute mich, wenn sich auch der Kontakt bei zwei Treffen im Jahr schleppend gestaltete. Heute blicke ich auf fast vier Jahre mit den Weggefährt*innen aus dem Dokotrand*innenkolloquium zurück und bin froh und dankbar über alle erquicklichen und durstigen Strecken, die wir miteinander gegangen sind.

Gerade in der holprigen Anfangszeit hat mir der Erfahrungsaustausch und die Bestärkung gefehlt. Ich war unsicher, ob das alles so sein müsse. Ich hatte keine Vorbilder und als Erstakademikerin auch keinen familiären Erfahrungsschatz, den ich anzapfen konnte. Da war ein durch die Gleichstellungsbeauftrage der Uni vermitteltes One-to-one-Mentoring-Programm, für das ich mich beworben hatte und an dem ich teilnehmen durfte, ein wirklicher Segen!

Die Treffen mit meiner Mentorin waren für mich sehr hilfreich, weil ich mit ihr Zweifel und Unsicherheiten in Bezug auf den akademischen Habitus, aber auch hinsichtlich Hierarchien und Abhängigkeiten teilen konnte und von ihr in meinem Vorhaben sehr bestärkt wurde. Das tat mir gut. Meine Erfahrung bestärkt mich in der Vorstellung, Erfahrungen und implizites Wissen generativ zugänglich zu machen, um anderen Wissenschaftler*innen zu signalisieren, dass sie mit ihren Anfragen und Kämpfen nicht alleine sind und es auch nicht bleiben müssen.

Der Flow

Nach einem guten Jahr des eher planlosen Literaturstudiums, lichtete sich in mir plötzlich der Wald der Verwirrung. Durch die viele Literatur, die ich gelesen hatte, ließen sich methodische Schneißen schlagen und es ergaben sich einzelne Fragekomplexe, die das Thema bearbeitbar machten. Diese Wendung im Prozess war für mich nicht abzusehen.

Im Nachhinein bin ich froh, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt durchgehalten habe. Danach wurde vieles leichter. Ich hatte eine Idee, wie ich das Thema angehen wollte und stürzte mich mit neuer Motivation hinein in die methodischen Feinheiten und konzeptionellen Überlegungen.

Geholfen hat mir, während der gesamten Dissertationszeit mein Arbeiten im Rahmen eines Supervisionsprozesses regelmäßig zu reflektieren. Dadurch ist mit bewusst geworden, wo meine Stärken liegen, wie ich gerne arbeite und was ich weniger mag. Ein Ergebnis dieses Prozesses zeigt sich in meiner Arbeitsorganisation: Als Kind zweier Eltern, die in der Baubranche tätig waren, bin ich mit der Vorstellung aufgewachsen, dass ich möglichst früh am Tag mit der Arbeit anfangen sollte, um dann schnell und früh fertig zu sein. Es hat mich zur Verzweiflung gebracht, dass das für das Arbeiten an der Dissertation für mich einfach nicht funktioniert hat.

Erst durch das gemeinsame Reflektieren meiner Gewohnheiten und unbewussten Überzeugungen weiß ich nun, dass bei mir früh morgens eher weniger zu holen ist. Der Flow stellt sich dann am ehesten ein, wenn ich mir selbst absolute Freiheit hinsichtlich Arbeitszeit und -pensum ermögliche. Dabei lernte ich auszuhalten, dass es scheinbar unproduktive Tage gibt, und gleichzeitig das Vertrauen zu bewahren, dass auf unproduktive Phasen auch solche großer Schaffenskraft und -freude folgen werden.

Meine Handschrift

Weitere Früchte meiner Dissertationszeit, neben der abgeschlossenen Promotion, sind direkt mit dem Thema und der Art und Weise verbunden, dieses zu beforschen. Kirchentage sind äußerst komplexe Phänomene, z.B. hinsichtlich der Sozialstruktur ihrer Besucher*innen, aber auch in Bezug auf die Organisation oder die dort zum Einsatz kommenden stilbildenden Elemente wie z.B. dem Kirchentagsschal.

Um ein so überkomplexes Phänomen auch nur annäherungsweise wissenschaftlich fassbar zu machen, brauchte es für meine Studie multiperspektivische und, daraus folgend, multimethodische Zugänge. Ein großer Teil meiner Arbeit bestand deshalb darin, eine entsprechende Methode mit samt ihrer Metareflexion, der Methodologie, zu erarbeiten. Das zeichnet meine Dissertation in besonderem Maße aus und ist aussagekräftig dafür, was mir am wissenschaftlichen Arbeiten am meisten Freude bereitet.

Ich arbeite gerne konzeptionell, abstrakt und mit systematischem Interesse. Große, komplexe Zusammenhänge wahrzunehmen und sie wissenschaftlich zu erschließen mit dem Ziel sie handhabbar und anschlussfähig für weiterführende Forschung zu machen, dafür schlägt mein Herz. Dafür brauchte es lange Phasen der Schreibtischarbeit, in der ich ungestört über mehrere Monate ohne den Druck arbeiten konnte, etwas liefern zu müssen.

Lediglich Oberseminare oder Tagungen haben diese intensiven Arbeitsphasen unterbrochen. Meinem Dissertationsbetreuer bin ich sehr dankbar und verbunden für die Betreuung auf Zuruf, die er mir ermöglicht hat. Denn auch wenn gerade die Anfangszeit schwierig war, ist auf Grund der großen Freiheit in der Betreuung schlussendlich eine Dissertationsschrift entstanden, die unverkennbar diese, meine Handschrift trägt.

Wissenschaftlich-regenbogenbunte Zukunft

Dass ich auf anstrengende, aber goldene Jahre meiner Dissertationszeit zurückblicke, liegt an vielen Faktoren. Alle erfahrene Unterstützung im fachlichen Bereich durch unterschiedlichste Personen und die eigene Lust an Persönlichkeitsentwicklung trugen sicher dazu bei.

Froh bin ich auch, dass im akademischen Bereich Abwertungen, die meine Kompetenz mit meinem Gender in Verbindung brachten, die Ausnahmen blieben, wenngleich ich Phänomene wie Mansplainig natürlich auch aus eigener Erfahrung kenne und Solidarität unter Frauen* nicht immer funktionierte.

Viel wichtiger ist mir aber anzuerkennen, dass ich Solidarität erfahren habe, auch unter Frauen*, aber in besonderem Maße durch das queer-freundliche Doktorand*innenkolloquium und durch meinen Dissertationsbetreuer, der sich zu Beginn meiner Promotionszeit öffentlich als homosexuell outete. Zusammengefunden haben wir ohne das Wissen um unsere jeweiligen Lebensformen. So manche Zunge nennt das professionelle Verhältnis von homosexuellem Dissertationsbetreuer und queerer Doktorandin durchaus mal abfällig „Homoklüngel“. Ich bin um die Verbundenheit in dieser Sache jedoch schlicht dankbar. Jede nicht gemachte Differenzerfahrung ist ein Geschenk!

Dr. theol. Christiane. Dieses prophetische Wort meiner Schulkamerad*innen von vor 13 Jahren ist eingetroffen. Im Rückblick muss ich schmunzeln und freue mich darüber, dass sie mich damals besser kannten als ich mich selbst und mir unbedarft auch das zugetraut haben: wissenschaftlich zu arbeiten, heraus zu treten aus dem für mich Bekannten, hinein in eine fremde, weit entfernte Wissenschaftswelt.

In dieser Welt habe ich Menschen getroffen, die mich bestärkt und gefördert haben, sodass ich mir selbst immer mehr zugetraut habe und schließlich promovieren konnte. Und wer weiß, was die wissenschaftlich-regenbogenbunte Zukunft noch bringt…

Fortsetzung folgt: Kolumne „Frau Doktor“

In der Serie „Frau Doktor“ berichten Theologinnen von ihrem Weg zum Doktortitel. Im Fokus der Theologie stehen viel zu häufig alte und tote Männer. Wir wollen die Leistungen junger Wissenschaftlerinnen ins rechte Bild rücken. Noch immer trauen sich Mädchen und Frauen eine Wissenschaftskarriere weniger zu als gleichaltrige Jungen und Männer. Wir wollen auch die Herausforderungen für Frauen in der Wissenschaft nicht ausblenden. Deshalb kommen sie hier zu Wort.

Bisher erschienen:

Folge 1: Dr. Teresa Tenbergen – Can a song save your life?
Folge 2: Dr. Andrea Hofmann – Horizont in Sicht
Folge 3: Dr. des. Claudia Kühner-Graßmann – Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!
Folge 4: Dr. Christiane Renner – Dr. theol. Christiane

„Frau Doktor“ geht nun in die Sommerpause. Vielen Dank für das große Interesse! Im Herbst 2020 wollen wir „Frau Doktor“ mit weiteren Ausgaben fortsetzen. Interessentinnen können sich sehr gerne bei uns melden!