Liebe Schwestern und Brüder?!
In der Kirche sprechen sich Pfarrer*innen noch immer als „Bruder“ und „Schwester“ an. Doch die Geschwister-Anrede in der Kirche ist gleich mehrfach problematisch.
Liebe Brüder und Schwestern?! Es passiert in Rundbriefen und E-Mails. Es passiert zu Sitzungsanfängen. Es passiert bei Fortbildungen. Es passiert im Seitengespräch. Pfarrpersonen reden sich gegenseitig als „Bruder“ oder „Schwester“ an und werden als „Brüder und Schwestern“ angesprochen. Wenn überhaupt an die Schwestern gedacht wird und/oder sie vorhanden sind. Die Geschwisteranrede. Ich erkenne ihre Berechtigung. Ich gebe zu, ich habe aber eher ein ungutes Gefühl bei der Sache. Wie kommt das?
Zunächst einmal stößt bei mir die Binarität von „Brüdern und Schwestern“ auf Unverständnis. Mit „Geschwister“ haben wir ja eine Anrede, die alle miteinschließt. Deswegen verstehe ich nur bedingt, warum nicht diese Form genutzt wird. Auch der sonst oft gegen gegenderte Sprache erhobene Vorwurf, dass Frauen durch sie unsichtbarer werden würden, greift in diesem Fall nicht. „Geschwister“ scheint mir begrifflich enger verwandt mit den Schwestern zu sein als mit den Brüdern. „Gebrüder“ sagt wohl hoffentlich niemensch. Da denken vermutlich die meisten an das Märchen-sammelnde Bruderpaar, oder?
Also: „Geschwister“ wäre deutlich inklusiver, wenn mensch eine besondere Nähe mit den Amtskolleg*innen Ausdruck verleihen möchte. By the way: Die Geschwisteranrede in Kommunitäten scheint mir nochmal ein anderer Fall zu sein, weil hier die Menschen wirklich dicht und alltäglich miteinander leben.
Da liegt schon mein nächstes „Problem“: Nähe. Es wirkt alles gleich sehr vertraut und nahe, wenn sich Menschen, die sich einmal im Monat oder seltener auf Gremiensitzungen treffen, mit „Bruder“ und „Schwester“ ansprechen. Von welcher Nähe und Vertrautheit sprechen wir, wenn gar in jährlichen Rundbriefen von „oben“, also in Weihnachtsbriefen von Bischöf*innen bzw. deren Kanzleien, Pfarrer*innen als „Bruder“ und „Schwester“ adressiert werden? Dass „Nähe“ und „Verbundenheit“ das typisch evangelische kirchliche Selbstbild prägen, ist ja schön und gut. Mittlerweile über ein Jahr nach der „ForuM-Studie“ und über 10 Jahre nach der „MHG-Studie“ sollte eigentlich klar sein, welche Probleme solche Nähebekundungen aber mit sich bringen:
Beim schriftlichen Nähevorgaukeln von oben, aber auch in Gremiensitzungen mit innerer Hierarchie („Sitzungsleitung“) wird mit der Geschwisteranrede übertüncht, dass es sich um Machtverhältnisse handelt. Jetzt könnte mensch sagen: „Unter tatsächlichen Geschwistern gibt es doch auch (Alters-)hierarchien. Die Geschwisteranrede kaschiert da doch nichts!“ Dem ist aus meiner Perspektive aber entgegenzuhalten: Allein, dass eine Person als „Bruder“ oder „Schwester“ angesprochen wird, hat meist schon mit Hierarchie zu tun.
Im „Normalfall“ geht es nämlich um ordinierte/geweihte/eingesegnete Personen. Nicht alle sind in den kirchlichen Geschwister-Sprech überhaupt einbezogen, weil es sich bereits um einen Kreis von (mehr oder weniger buchstäblich) Auserwählten handelt. Es stellt sich die Frage: Würde eine Pfarrperson den*die Bischöf*in ebenfalls und ohne mit der Wimper zu zucken mit „Bruder“ oder „Schwester“ anreden? Wenn nicht, dann scheint sich doch innerhalb der Gemeinschaft der „Amtsgeschwister“ die Hierarchie, die sich in Weisungbefugnissen oder Rechenschaftspflichten ohnehin ausdrückt, auch sprachlich wiederzufinden.
Von Brüdern und Schwestern
Warum aber überhaupt „Brüder und Schwestern“? Das geht – wer hätte es gedacht? – zurück auf die Bibel. In den Briefen von Paulus (bspw. 1. Thess 1,4. 5,25; 1. Kor 7,24; 16,20 (#heiligerkuss)) aber auch in den anderen Briefen im sogenannten Neuen Testament (bspw. 1. Joh 3,13; 1. Petr 2,17) kommt dies vor. Also zumindest in heutigen Übersetzungen. Denn was Paulus schreibt, ist nicht ἀδελφοί καὶ ἀδελφαί. Paulus schreibt nur von „Brüdern“, also ἀδελφοί.
Werden Frauen also „einfach“ reingeschrieben, wo sie gar nicht waren? Nein! Hier hilft doch ein Blick in die Grammatik. Ich erinnere mich an meinen Französischunterricht zu Schulzeiten, in dem uns erklärt wurde, dass ab einer männlichen Person in einer Gruppe deren Gruppenbezeichnung automatisch männlich wird. Also eine Gruppe von Schüler*innen mit einem Schüler wird zu einer Gruppe von „Schülern“, obwohl sich dahinter nur eine männliche Person verbirgt. Gegenbewegungen gegen diese Regel und für eine inklusivere Schreibart gibt es auch in französischsprachigen Gegenden. Aber so haben wir es erst einmal in der Schule gelernt.
Dass es sich so auch bei Griechisch und Latein verhält, war dann keine große Überraschung für mich zum Studienbeginn, aber wirkte weiterhin „unfair“. Für mich hat es aber eine andere Brisanz, ob in Französischlektüren nicht-männliche Personen unsichtbar werden oder in der Bibel. Dass sehr wohl auch Frauen zur Jesusbewegung gehört haben, zeigen die Passions- und Ostergeschichten der Evangelien eindrücklich. Und auch die Grußlisten der paulinischen Briefe.
„Wir sind, die wir von einem Brote essen …“
Wenn mensch den „Sitz im Leben“ der Paulusbriefe betrachtet und den Umstand in Rechnung, dass sie wahrscheinlich schon sehr früh in g*ttesdienstlichen Zusammenhängen vorgelesen wurden, dann erhält die Geschwisteranrede noch eine andere Dimension: In liturgischen Vollzügen, also eben dann, wenn es nicht um das Verwalten von Paragraphen, sondern allenfalls von Sakramenten geht, hat eine Gemeinschaft und Verbindung, wie sie die Geschwisteranrede nahelegt, eine andere Realität.
Das Geschwister-Miteinander in einer Gemeinde schlicht sprachlich zu postulieren, birgt die Gefahr, sie manchen überzustülpen. Aber die Gemeinschaft in Brot und Wein, die lässt uns doch wirklich zu Geschwistern in Christus werden! Ich merke, dass das Verbindende mich anspricht und ich es sogar gern annehme. Wohlgemerkt werden hierbei nicht nur Pfarrpersonen zu Geschwistern – auch wenn sie wahrscheinlich diejenigen sind, die die zum Abendmahl versammelten Menschen als Geschwister ansprechen.
Ich glaube aber, so oft habe ich das noch gar nicht erlebt. Dass eine G*ttesdienst- oder Abendmahlsgemeinde als Geschwister angesprochen wurde (oder als Brüder und Schwestern). Das scheint am Ende doch eher ein Sprech unter Pfarrer*innen zu sein, oder? Und irgendwie passt das doch nicht. Also erst recht nicht in evangelischen Kontexten, in denen Pfarrpersonen zwar speziell beauftragt sind, aber im Grunde allen Gläubigen gleich – Stichwort: Priester*innentum aller Getauften. Vielleicht sollte gelten: Entweder werden alle als Geschwister angesprochen oder niemand. Und unter Berücksichtigung dessen, dass übergriffige Nähe und Machtübertünchung keineswegs wünschenswert sind, sollte auf die Geschwisteranrede wohl häufiger verzichtet werden.
„Schwester Carlotta“
Ich gebe aber zu, für mich gab es einmal persönlich eine ganz besondere Anrede als „Schwester Carlotta“. Und war nicht in einer g*ttesdienstlichen Gemeinde, sondern in einem Uni-Seminar. Darin fand „Co-Teaching“ statt. Eine Person aus dem Mittelbau und eine Person aus dem Professorium erteilten das Seminar gemeinsam. Ich war als Studentin im Seminar, kannte aber den Mittelbau-Menschen, der mich und einige andere auch im Seminar duzte. Einmal entfiel der*m professoralen Dozent*in mein Nachname, sodass er*sie mir mit „Schwester Carlotta“ das Wort erteilte, als ich mich meldete.
Und tatsächlich: In diesem systematisch-the*logischen Hauptseminar war das für mich unglaublich schön, weil ich diese Person sehr schätze und mich bei allem, dass die Hierarchien total klar waren, gern durch diese Behelfsgeschwisteranrede in die Denkgemeinschaft mit dem*r Dozent*in und dem ganzen Seminar fügte. Diesen Moment bewahre ich buchstäblich in meinem Herzen.
Vorsicht ist geboten: Die Wunschvorstellung einer Ebenbürtigkeit unter allen Christ*innen als Geschwistern und nicht nur der Pfarrer*innen schätze ich sehr. Aber die Realität sieht anders aus: Es gibt Hierarchien und Machtmissbrauch. Diesem Umstand sollte mit einer vorsichtigen Sprachwahl Rechnung getragen werden. Das gilt besonders für sprachliche Nähe-Bilder. Mindestens im Geschäftsbetrieb, den kirchliches Institution-Sein eben auch mit sich bringt, sollten sie vermieden werden. G*ttesdienstliche Gemeinschaften oder Ordensleute, die sich bewusst in eine besondere Geschwisterlichkeit hineinbegeben haben und diese leben, sind für mich Ausnahmen von dieser Regel. Wir sollten mitbedenken, wer sich von einer Geschwister-Anrede ausgeschlossen fühlen könnte – und warum.
Alle Ausgaben der Kolumne „Sektion F“ von Carlotta Israel hier in der Eule.
„Eule-Podcast Q & R“ live auf dem Kirchentag 2025
Carlotta Israel und Philipp Greifenstein diskutierten mit Teilnehmer:innen des 39. Deutschen Evangelischen Kirchentages live auf der Podcastbühne des Kirchentages über Intersektionalität angesichts des Rechtsrucks, Machtmissbrauch in der Kirche, den Kirchentag als Protestort und (digitale) Protestformen. Hier kannst Du das gesamte Gespräch mit Eule-Redakteur Philipp Greifenstein und Carlotta Israel nachhören:
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