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Moral weltmeisterlich – Die #LaTdH vom 4. Dezember

Ist die Kritik am WM-Gastgeber Katar übertrieben? Außerdem: Kölner Kasperletheater, ukrainische Kirchen-Kritik und ein Moralweltmeister in Shorts.

Herzlich Willkommen!

„Quo usque tandem abutere patientia nostra?“ – das berühmte Incipit der ersten Rede Ciceros gegen Catilina kommt einem in den Sinn, wenn wieder eine der inzwischen im Tagesrhythmus eintrudelnden Skandalnachrichten aus dem Erzbistum Köln im Newsfeed auftaucht. Wie lange noch darf Kardinal Woelki die Geduld seiner Gläubigen strapazieren, wie lange noch schaut Papst Franziskus der inzwischen für die römisch-katholische Kirche in ganz Deutschland verheerenden Entwicklung zu, bevor er das bereits Anfang des Jahres eingereichte „Rücktrittsangebot“ des Kölner Erzbischofs annimmt?

Auch bei der kommentierenden Einordnung der Presseberichterstattung über Reformstau und Missbrauchsvertuschung, Finanzskandale und Personalquerelen droht Wiederholungsgefahr. Viele mögen die „bad news“ nicht mehr hören. „Und wo bleibt das Positive?“, wurde Erich Kästner häufig in Leserzuschriften gefragt – seine Antwort: „Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.“

Wem wäre damit geholfen, wenn bei den ewig-gleichen Themen nicht mehr „nachgefasst“ würde? Und ist es neben der beharrlichen Arbeit von Betroffenen und dem Mut von „Whistleblowern“ nicht auch den Recherchen einiger engagierter Journalist:innen zu verdanken, dass sich bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in den Kirchen in den letzten Jahren überhaupt etwas zum Besseren wendet?

Einen guten Start in die neue Woche wünscht
Ihr Thomas Wystrach

PS: Noch bis zum 20. Dezember läuft unsere #LaTdH-Leser:innen-Befragung. Wir wollen schlauer werden und die #LaTdH im Sinne ihrer Leser:innen verbessern. Jetzt mitmachen! Die Beantwortung der Fragen dauert keine 5 Minuten und macht sogar Spaß.


Debatte

Die blinden Flecken der Katarkritik – Stefan Buchen (Qantara.de)

Nachdem der Auftritt der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer beim FIFA-Worldcup in den Augen vieler Fans mit einer Katar-strophe, dem erneuten Vorrunden-Aus endete, lag für manche Kommentatoren der Kurzschluss nahe, das Fiasko damit zu erklären, die Spieler seien von der medialen Diskussion über die #OneLove-Armbinde so verunsichert gewesen, dass die erforderliche sportliche Leistung nicht erbracht werden konnte.

Für Stefan Buchen war die Debatte jedoch von Selbstgerechtigkeit geprägt. Auf dem Portal Qantara.de (@QantaraDE) kritisiert er nicht nur, dass man sich gegenüber einem rückständigen „Wüsten-WM-Gastgeber“ vollmundig als Verteidiger der Menschenrechte inszeniert habe, während die Diskriminierung von Homosexualität in Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit reiche.

Noch wohlfeiler seien die Krokodilstränen über die Arbeiter, die die hochmodernen Stadien unter sklavenähnlichen Bedingungen („tödliche Ausbeutung“) errichten mussten. Ausgeblendet würden sowohl die Pushback-Aktionen an den europäischen Außengrenzen als auch der Blutzoll, den asiatische Näher:innen für die Kleider der westlichen Mittelschichten oder südafrikanische Bergleute für die von der deutschen Automobilindustrie benötigten wertvollen Metalle erbringen – die Kosten des westlichen Wohlstands würden im Kapitalismus traditionell ausgelagert:

Die Katarer halten der Welt den Spiegel vor. Und wenn die Welt sich hässlich findet, dann schreit sie auf und gibt dem Spiegelhalter die Schuld. Manche Grundsatzkritiker urteilen, Großereignisse wie die Fußball-WM, die Expo oder die Olympischen Spiele passten nicht mehr in unsere Zeit. Diese Kritik ist sicher gut gemeint. Aber sie ist zu konstruktiv und fällt dadurch ihrem eigenen Gutmeinen zum Opfer. Die WM in Katar passt genau in unsere Zeit, wie der Tanz um das goldene Kalb. Niemand hätte sich ein passgenaueres und treffsichereres Spektakel ausdenken können. Dieser Erfolg steht viele Tage vor dem Endspiel bereits fest.

Deutschland nach Katar: Nur Moralweltmeister – Jan Christian Müller (Frankfurter Rundschau)

In seinem Kommentar in der Frankfurter Rundschau wirft Jan Christian Müller (@janjcm63) bereits einen Blick in die Zukunft. Die nächste Fußball-Großveranstaltung planen der Deutsche Fußball-Bund (@DFB) und der europäische Dachverband UEFA (@UEFA) bereits für 2024 in Deutschland. Dort wolle man sich als „nachhaltig, fröhlich, demokratisch, divers und weltgewandt“ präsentieren.

Das könnte, bestenfalls mit der Verstärkung einer zuverlässigen Hochdruckwitterung wie beim Sommermärchen 2006, tatsächlich gelingen. Aber es sollte sich auch niemand wundern, wenn die arabische Welt als interessierte Zuschauerin genau hinguckt, wie es beim EM-Ausrichter um den Umgang mit Arbeitsmigrant:innen aus Osteuropa in Schlachtbetrieben und auf Bauernhöfen steht. Stellen wir also besser auch das Visier scharf, ob bei uns die Struktur der Ausbeutung nicht jener von Katar verdächtig ähnelt. Der Moralweltmeister wird sich erklären müssen.

Die WM in Katar und die Leidenschaft, die der Kirche manchmal fehlt – Interview mit Thorsten Kapperer (Main-Post)

Bei aller berechtigten Kritik an Katar sollte die Kirche selbst demütig sein, meint der römisch-katholische Pastoralreferent Thorsten Kapperer. Der 42-jährige „Fußballfanatiker und Theologe“, der zu dieser ungewöhnlichen Themenkombination promoviert hat und außerdem Sportbeauftragter des Bistums Würzburg ist, erklärt auch auf seiner Website, was die Kirche wirklich vom Fußball lernen könne. Wie Kapperer seinen Glauben mit der umstrittenen WM vereinbaren kann, verrät er im Interview mit der Main-Post (@mainpost) aus Würzburg:

Die Propheten und Jesus waren schon immer welche, die angeprangert haben. Das kann man gerade in der Adventszeit von dieser WM lernen, dass man nicht alles hinnimmt, was in Katar geschieht. Da können wir uns als Kirche einbringen. Aber andererseits, das ist meine persönliche Meinung, sollten wir als Kirche etwas zurückhaltend sein. Wir kritisieren zum Beispiel sehr stark die Situation der Homosexuellen dort. Die finde ich unerträglich, Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Aber in den kirchlichen Gesetzestexten steht die Diskriminierung auch noch drin. In dem Punkt sollten wir als Kirche demütig sein.

In der Einleitung der bereits in den #LaTdH vom 27. November erwähnten Arbeitshilfe für Kirchengemeinden und Gruppen zur Fußball-WM in der Adventszeit ruft der Frankfurter Stadionpfarrer Eugen Eckert (@eugeneckert), früher auch Referent der EKD für Kirche und Sport, dazu auf, die mit der erhöhten Aufmerksamkeit verbundenen Chancen zu nutzen:

Parallel zum Turnier in unseren Adventsveranstaltungen etwa Fragen nach Menschenrechtskonzepten zu stellen – im Blick auf die FIFA, die UEFA, aber auch unsere Bundesligaklubs, oder nach Lieferketten zu fragen, also dem nachzugehen, unter welchen Bedingungen unsere Kleidung wo hergestellt wird, oder zu fragen, wie im Sport und unseren Kirchengemeinden noch viel stärker Themen des Klimaschutzes aufgenommen werden können.

2024 ist Deutschland Gastgeberland für die Fußball-Europameisterschaft. Dann können wir als Kirchengemeinden im Zusammenspiel mit den Sportverbänden und Kommunen zeigen, ob wir etwas aus Katar gelernt haben.

nachgefasst I: Wieder Köln

Es herrscht Verwirrung im Erzbistum Köln – und das kurz vor zwei wichtigen Gerichtsterminen: Der aktuelle Sprecher von Kardinal Woelki muss laut einem Bericht (€) des Kölner Stadt-Anzeigers (@KSTA) zum Jahresende gehen, wusste aber bisher offiziell nichts davon.

Woelki-Sprecher weiß angeblich nichts von Kündigung – Matti Hartmann (t-online.de)

Ist der Pressesprecher des Erzbistums Köln (@Erzbistum_Koeln) jetzt gefeuert oder nicht? Aus dem Erzbistum Köln drangen diese Woche widersprüchliche Meldungen. Matti Hartmann (@FaulerSnoopy), Regio-Redakteur bei t-online.de (@tonline), hat Jürgen Kleikamp, den Sprecher des umstrittenen Kardinals Woelki, einfach angerufen. Dieser sei „betont entspannt“ ans Diensttelefon gegangen und habe mitgeteilt, ihm sei „jedenfalls nichts Offizielles“ bekannt, der Generalvikar habe weder mit ihm gesprochen, noch ihm eine schriftliche Kündigung geschickt:

Generalvikar Guido Assmann wiederum, der für die Verwaltung des Erzbistums verantwortlich ist, kann man nicht fragen. Er ist am Freitag nicht im Haus. Sein Büro verweist an die Presseabteilung des Erzbistums, die darum bittet, Herrn Kleikamp persönlich zu fragen – womit sich der Kreis schließt.

Eine definitive Antwort auf die Frage, ob Kleikamp weiter Sprecher des Erzbistums sein wird oder nicht, ist vorerst also nicht zu bekommen. Klar ist nur: Im Erzbistum herrschen Chaos und Verwirrung.

Kommunikationschaos im Erzbistum Köln: Kardinal Woelki entlässt Pressesprecher – Thomas Dillmann (PR-Journal)

Einen Tag nach dem Zeitungsbericht kam die Bestätigung seitens der Erzdiözese: Der Kölner Erzbischof trennt sich von seinem Pressesprecher und braucht ab 1. Januar 2023 einen neuen Kommunikationschef. Jürgen Kleikamp, der im März 2022 per Interim die Aufgabe der Außendarstellung des Erzbistums Köln übernommen hatte, sei nun in Ungnade gefallen, berichtet Thomas Dillmann (@ThomasDillmann) im Fachportal PR-Journal (@prjournal):

Nach der Demission von Mediendirektor Christoph Hardt zum 28. Februar 2022 nach nur acht Monaten im Amt, ist Jürgen Kleikamp bereits der sechste Kommunikationsverantwortliche im Erzbistum Köln seit Kardinal Woelki im September 2014 Bischof von Köln wurde. Auch er fällt den jetzt den Fliehkräften des Schleudersitzes im Erzbistum Köln zum Opfer – in seinem Fall nach zehn Monaten.

Kölner Hochschulpläne

Unterdessen hat der Kir­chen­steu­er- und Wirt­schafts­rat (KiWi) des Erz­bis­tums Köln am Samstag dem Wirt­schafts­plan des Erz­bis­tums Köln für das Jahr 2023 zu­ge­stimmt. An­ge­sichts der De­batte um die „Köl­ner Hoch­schu­le für Ka­tho­li­sche Theo­lo­gie“ (KHKT) erinnerte das Gremium aus­drück­lich an die Be­ra­tun­gen in den vo­ran­ge­gan­ge­nen Sit­zun­gen. Dem­nach könne aus der Ge­neh­mi­gung des Wirt­schafts­plans 2023, der ei­nen wei­te­ren Zu­schuss für die KHKT aus dem „BB-Fonds“ genannten Sondervermögen des Erzbischöflichen Stuhls ent­hält, nicht au­to­ma­tisch ei­ne Zu­stimmung zur wei­te­ren Fi­nan­zie­rung aus Kir­chen­steu­er­mitteln in den Folgejahren ge­schlo­ssen wer­den. Neben einer „be­last­baren mittel­fris­ti­gen Fi­nanz­pla­nung“ und einem „an­ge­messe­nen Business­plan, der auch ein Schlie­ßungs­sze­na­rio um­fasst“, er­war­tet der KiWi ak­tu­elle Vo­ten der pas­tora­len Gre­mien, der zu­stän­di­gen Fach­ab­tei­lung und des Erz­bi­schofs als Grund­lage für wei­tere Be­ratun­gen über die KHKT.

Bereits vor der Entscheidung hatte der Kirchenrechtler Matthias Pulte im Interview mit dem Domradio (@domradio) einerseits auf die „nahezu unumschränkte Vollmacht“ Kardinal Woelkis hingewiesen, der – im Einklang mit den Vorgaben des Kirchenrechts – seinen Willen auch gegen das Votum des KiWi durchsetzen könne. Andererseits habe das Gremium aber zu beachten:

Die Kosten für die Hochschule werden perspektivisch steigen – viele Lehrstühle sind noch gar nicht besetzt und die Pensionen auch künftiger Mitarbeitenden sind zu sichern. Mit einem einmaligen Ja zu der Hochschule würde der Kiwi einem „never ending process“ zustimmen – also dauerhaften und von Preissteigerungen getriebenen Verbindlichkeiten.

nachgefasst II: Ukraine

Selenskyj sagt der russlandnahen Kirche den Kampf an – Niklas Zimmermann (FAZ)

Seit Beginn der Invasion kämpft der ukrainische Staat gegen orthodoxe Geistliche, denen prorussische Propaganda vorgeworfen wird. Diese Woche kündigte Präsident Selenskyj per Video-Ansprache ein Gesetz an, mit dem sich religiöse Organisationen verbieten lassen sollen, wenn sie mit Moskau verbunden sind.

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche gilt als letzte Bastion des russischen Einflusses in der Ukraine, schreibt Niklas Zimmermann (@ziniklas) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (@FAZ_Politik). Von einem Bruch könne trotz der nach einem Landeskonzil im Mai verkündeten „vollen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit“, dem Verzicht auf den Namenszusatz „Moskauer Patriarchat“ und der Erklärung, man teile „nicht die Position des Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Kirill, zum Krieg in der Ukraine“, bisher keine Rede sein:

In der Erklärung fehlte der Begriff der Autokephalie. Dieser bedeutet im orthodoxen Christentum die vollständige kirchenrechtliche Unabhängigkeit von Nationalkirchen, die damit keinem Patriarchen mehr unterstehen. (…)

Noch immer führt die Internetseite der von Kirill geleiteten Russisch Orthodoxen Kirche die Ukrainische Orthodoxe Kirche als „selbstverwaltete Kirche mit weitgehender Autonomie innerhalb des Moskauer Patriarchats“.

Präsident Selenskyj bewegt sich jedoch juristisch auf dünnem Eis. Der Rechtsexperte Dmytro Wowk (@VovkDmytro) von der Universität Charkiw sieht die neue Entwicklung kritisch. „Das außergerichtliche Verbot der gesamten Kirche wird sehr problematisch sein“, sagte er im Interview mit Oliver Hinz (@OliHinz) von der Katholischen Nachrichten-Agentur (@KNA_Redaktion):

Sie werden eher versuchen, Pachtverträge von historisch bedeutsamem staatlichen Kirchenbesitz aufzuheben und Sanktionen gegen einige Geistliche zu verhängen.

Theologie

Kritische Exegese als Voraussetzung und Fundament einer „westlichen“ Kirche – Thomas Johann Bauer (Theologie Aktuell)

„Missbrauch des Evangeliums durch Putin und Kyrill“ wirft der Neutestamentler Thomas Johann Bauer (@thjbauer) im Blog der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt (@KThF_Erfurt) dem russischen Präsidenten und dem Moskauer Patriarchen vor. Putin wie Kyrill hätten den völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einem „metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse“, zwischen dem orthodoxen Russland und dem als „dekadent und moralisch verkommen“ qualifizierten „Westen“, erklärt.

Angesichts der Opfer eines mit Rekurs auf das Evangelium und die angebliche Verteidigung christlicher Werte gerechtfertigten Krieges verstöre zudem die „merkwürdig unentschiedene Haltung von Papst Franziskus“ und der vatikanischen Diplomatie:

Aus der Sicht einer kritischen, rational und historisch argumentierenden Exegese, zu der sich die römisch-katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekannt hat, kann es jedoch nur eine scharfe und dezidierte Verurteilung geben, wenn Putin und Kyrill mit Jesus-Worten zum Krieg gegen den „Westen“ rufen. Mit der Akzeptanz einer kritischen, rational und historisch argumentierenden Exegese hat sich die römisch-katholische Kirche zum „Westen“ bekannt, mit dessen Geschichte und Kultur sie unauflösbar verwoben ist.

Opium des Volkes? – Boris Holzer (FAZ)

Mit der vielzitierten (und häufig missinterpretierten) These in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, bei der Religion handle es sich um „Opium des Volks“, habe Karl Marx nicht einfach an eine bekannte Form aufgeklärter Religionskritik angeknüpft, sondern auch die Funktion von Religion als „Protestation gegen das wirkliche Elend“ erkannt, so Boris Holzer (@boris_holzer) in der FAZ. Die Rede vom „Seufzer der bedrängten Kreatur“, die ihren Wunsch nach einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse (der „Forderung seines wirklichen Glücks“) enttäuscht sieht, weise auf die Überzeugung von Marx hin, dass die Religion auch und gerade den Armen und Entrechteten etwas zu bieten hat – wenn auch nur als „illusorisches Glück“.

In seinem Beitrag fasst Holzer eine Studie des US-amerikanischen Soziologen Landon Schnabel (@LandonSchnabel) zusammen, die dieser kürzlich unter dem Titel „Opiate of the masses? Inequality, religion, and political ideology in the United States“ veröffentlicht hat. Zumindest für die USA gelte: Für einige Gruppen falle der „Nutzen der Religion“ offenbar höher aus als für andere:

Frauen, Afroamerikaner und Latinos, aber auch einkommensschwache Personen und Mitglieder sexueller Minderheiten profitieren nach eigenen Angaben in besonderem Maße von ihren religiösen Erfahrungen. Weil sie die kompensatorische Leistung der Religion schätzen, sind die Mitglieder dieser Gruppen häufig nicht nur gläubig, sondern ihre Religiosität ist im Vergleich auch besonders ausgeprägt. (…)

Wenn Religion politische Folgen hat, dann liegen sie also nicht in einer Betäubung politischen Engagements, sondern in einer Richtungsänderung politischer Einstellungen. Progressive wären aber dennoch schlecht beraten, den Kampf gegen die Religion (wieder) aufzunehmen.

Predigt

Johannes der Täufer: Gedanken zum 2. Advent 2022 (Johannes Poiger)

Im heutigen Tagesevangelium (Mt 3, 1-12) tritt Johannes der Täufer mit einer radikalen Bußpredigt in der Wüste auf. Seine „frohe Botschaft“ für die Umkehrwilligen („das Himmelreich ist nahe“) ist verbunden mit der Ankündigung des „kommenden Zorngerichts“ für die „Schlangenbrut“ genannten Gegner.

Johannes Poiger, Pfarrer der alt-katholischen Gemeinden Regensburg und Passau (@akregensburg), fühlt sich an einen früheren Arbeitskollegen erinnert, der als Beauftragter für „Qualitätsmanagement“ ähnlich schonungslose Fehleranalysen betrieben habe.

Bisweilen brauchen wir Menschen solche Typen, die uns den Spiegel vorhalten, die uns zeigen, was wir verbockt haben und, aus welchen Gründen auch immer, selber nicht sehen können. Manchmal kann nur so ein Prozess in Gang kommen, das in den Evangelien mit Umkehr beschrieben ist: eine metanoia, wie es im Original heißt, ein Umdenken und damit einhergehend auch ein Nachjustieren von Werten, Haltungen, Gewohnheiten und Verhalten.

Die harten Worte des Täufers seien daher nur zu verstehen im Blick auf das Ziel – in der adventlichen Leseordnung also auf Weihnachten, „das Fest der Menschwerdung der Liebe Gottes in Jesus von Nazareth“, im biblischen Kontext auf die Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen, das Auftreten des Messias, dem Anbruch des „Reiches der Himmel“, wie es im Matthäus-Evangelium heißt.

Die Worte des Täufers bleiben auch angesichts dieses heilsgeschichtlichen Rahmes hart und unbequem. Aber ihr Ziel ist nicht, die Hörer*innen dieser Worte klein zu machen, sie zu verunsichern oder gar Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Basis dieser Worte ist die Erfahrung der Nähe Gottes – die, wenn sie ernst genommen wird, ein regelmäßiges Überdenken des eigenen Lebens schlichtweg nötig macht. (…)

Das ist kein leichtes Unterfangen, aber dieser wichtige Bezugspunkt – die liebende Zuwendung Gottes – macht mir Mut, mich auch den eigenen Fehlern und Schwächen zu stellen und sie mit Gottes Hilfe richten zu lassen, wie man im Bayerischen so schön sagt. Jene Haltung der liebevollen Zuwendung wünsche ich auch (…) uns, wenn wir einmal in der Pflicht sind, anderen den Spiegel vorzuhalten und Kritik zu üben.

Ein guter Satz