Ein Recht auf Aufarbeitung – Die #LaTdH vom 28. Januar
Die „ForuM-Studie“ löst in der Evangelischen Kirche und Diakonie ein Beben aus. Was kommt jetzt? Außerdem: Ein umstrittener Hindu-Tempel und katholischer Machtmissbrauch an der Uni.
Herzlich Willkommen!
Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchs in den Kirchen ist ein Marathon und kein Sprint. Die am Donnerstag in Hannover vorgestellte „ForuM-Studie“ ist weder Startschuss noch Ziellinie der Arbeit an der großen Aufgabe, Missbrauch möglichst zu verhindern (Prävention), bei Hinweisen einzuschreiten (Intervention), Täter und Tatkontexte ausfindig zu machen (Aufklärung), Betroffene wahrzunehmen, ihnen zu glauben und sie zu ihrem guten Recht kommen zu lassen (Anerkennung/Entschädigung).
Auf allen diesen Feldern der institutionellen Aufarbeitung weist die „ForuM-Studie“ der Evangelischen Kirche – genauer: den evangelischen Landeskirchen und den diakonischen Einrichtungen und Werken – ihre Unzulänglichkeit und erheblichen Nachholbedarf nach. Das ist der eigentliche Wert der „ForuM-Studie“, die von EKD/Diakonie „gewollt“ wurde, wie die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck, Nordkirche) betonte.
In den Worten von Kerstin Claus, der heutigen Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM), auf der EKD-Synode 2019 in Dresden bedeutet institutionelle Aufarbeitung:
„Institutionelle Aufarbeitung muss Taten und deren Ermöglichungsstrukturen offenlegen. Taten und ihre Kontexte müssen aufgedeckt und auch öffentlich benannt werden, [..]. Wer wusste damals Bescheid? Wer hätte hinhören oder hinschauen müssen? Wer hätte hinschauen können? Welche Strukturen haben den Missbrauch damals begünstigt?“
Darüber hätte man noch mehr erfahren können durch eine Studie, die den gesamten Personalaktenbestand der Landeskirchen (inkl. aller ihrer Ebenen) und der diakonischen Einrichtungen zur Grundlage hat. Das ist nicht der Fall. Das Entsetzen darüber von Seiten der Kirche und Diakonie und Teilen der Öffentlichkeit ist aber auch ein Stück weit überdreht: Dass die „ForuM-Studie“ genau das nicht würde leisten können, wussten hunderte Menschen „im Betrieb“ schon vor letztem Mittwoch, als der WDR und Die Eule über das Personalakten-/Disziplinarakten-Chaos berichteten (s. „Debatte). Dass einige Landeskirchen ihre Beteiligung an der Studie nun anders als die Wissenschaftler:innen darstellen, zeigt vor allem, dass sie immer noch in einer reaktiven, statt einer proaktiven Kommunikation verharren.
Darin spiegelt sich, was die „ForuM-Studie“ ihnen für die gesamte institutionelle Aufarbeitung nachweist: Nie kommen Kirche und Diakonie selbst in die Pötte. Immer braucht es die Beharrlichkeit, das Engagement, die Lebenskraft der Betroffenen, um ihnen Beine zu machen. Betroffene haben an der „ForuM-Studie“ als Co-Forschende, im Beirat und als Zeug:innen intensiv mitgearbeitet. Die Wertschätzung ihnen gegenüber gebietet es, die Studie nicht leichtfertig bei Seite zu legen, sondern aufmerksam zu studieren.
Das werden wir jetzt machen und das sollten möglichst viele Menschen (nicht nur) in der Evangelischen Kirche und den diakonischen Werken tun. Hier findet sich die 37-seitige Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse und hier der gesamte Abschlussbericht. Mit Studieren ist es aber nicht getan. Wie Kerstin Claus 2019 ausführte, gehört zur institutionellen Aufarbeitung auch die Beantwortung der Fragen:
„Wer übernimmt heute Verantwortung, und zwar in genau dieser Einrichtung, in genau dieser Gemeinde? Was muss heute also dort ausgesprochen werden können, wo Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt erlebt und erlitten haben?“
Auch diese Arbeit kann den Mitarbeiter:innen in Kirche und Diakonie keine wissenschaftliche Studie und kein:e Betroffene:r abnehmen. Wissenschaftliche Aufklärungsarbeit ist nicht mit institutioneller Aufarbeitung in eins zu setzen. Diesen Anspruch haben weder die Forschenden noch diejenigen Akteur:innen aus Kirche und Diakonie erhoben, die sich mit dem Themenfeld intensiv befassen.
Die Politik ist gefordert
Von der institutionellen Aufarbeitung unterschieden wird die individuelle Aufarbeitung der Betroffenen. Sie liegt ganz in ihrer Verantwortung. Niemand darf und sollte Betroffenen dabei hineinpfuschen. Individuelle Aufarbeitung ist kein neues seelsorgliches Arbeitsfeld für die Kirchen. Sie sind gerade nicht als Seelenpflegerinnen gefordert, die Betroffenen Wege vorgeben, wie sie mit dem ihnen zugefügten Leid umzugehen haben, wem sie gar zu vergeben hätten. Von solchen retraumatisierenden Übergriffen berichten viele Betroffene in der „ForuM-Studie“.
Individuelle Aufarbeitung ist das gute Recht von Betroffenen sexualisierter Gewalt und anderem Missbrauch. Es ist in Deutschland aber kein Recht, auf das sich Betroffene gegenüber übermächtigen Institutionen wie Kirchen, Sportverbänden, Schulen und Heimen berufen können. Sie können nirgends darauf vertrauen, dass ihren Nachfragen nach Aufklärung ihres „Falls“ entsprochen wird, dass sie alle notwendigen Informationen erhalten, die ihnen zustehen. Deshalb braucht es eine politische Lösung dieses Problems. Und die Kirchen können dem langwierigen und ins Stocken geratenen Prozess im politischen Berlin vorgreifen, in dem sie noch in diesem Jahr ein „Recht auf Aufarbeitung“ für Betroffene kirchengesetzlich verankern, wie es die UBSKM, Kerstin Claus, im Interview mit der taz fordert.
Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein
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Debatte
Mein Bericht über die Präsentation der „ForuM-Studie“ in Hannover und manche ihrer Inhalte ist hier in der Eule zu lesen, bei der Beschäftigung mit den Ergebnissen der „ForuM-Studie“ aber stehen wir erst am Anfang. Sie zu verstehen, angemessen einzuordnen und zu würdigen, wird Zeit brauchen. Der Journalist Benjamin Lassiwe drückte es im Interview bei Renardo Schlegelmilch so aus (Text bei katholisch.de, ausführlicher noch als Audio im „Himmelklar“-Podcast):
Frage: Die MHG-Studie hat auf katholischer Seite im Herbst 2018 eine regelrechte Implosion ausgelöst. […] Erwarten Sie einen ähnlichen Effekt auch auf evangelischer Seite?
Lassiwe: Ich würde schon sagen, es wird noch mal einen wahrnehmbaren Knall geben. Ich glaube aber, dass die Implosion und das Zusammenbrechen, das wir auf katholischer Seite an manchen Stellen erlebt haben, heute auf evangelischer Seite nicht mehr zu erwarten sind. Die MHG-Studie stand dichter am Anfang der Missbrauchsaufarbeitung bei den Katholiken. Nach der MHG-Studie sind viele Institutionen geschaffen worden und viele Wege der Aufarbeitung neu gegangen worden.
Auf evangelischer Seite ist man an vielen Stellen zwar ein Stück weit hinterhergegangen, aber man ist doch auch mitgegangen. Das heißt, man ist auf dem Pfad der Aufarbeitung heute schon weiter, als die Katholiken zum Zeitpunkt der MHG-Studie. Deswegen nehme ich an, es wird Schockwellen geben, die sichtbar werden. Ich nehme aber auch an, es ist nicht mehr die ganz große Implosion.
Dass in der Evangelischen Kirche einiges angeschoben wurde, während der Forschungsverbund an der „ForuM-Studie“ arbeitete, ist unbestritten. So sollten die Lücken in der Präventionsarbeit, die in der Studie nachgewiesen werden, heute kleiner ausfallen. Vor allem auf dem Feld der Betroffenenpartizipation auf der Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist mit dem Beteiligungsforum (BeFo) und nach vielen Irrungen eine deutliche Verbesserung gelungen, die auch beispielhaft für andere Institutionen ist. Auch die rechtliche Implementierung und vor allem die gelebte Praxis der EKD-Gewaltschutzrichtlinie in den Landeskirchen liegt nach dem Untersuchungszeitraum.
Solche Einordnungen der „ForuM-Studie“ in die gesamten Aufarbeitungsbemühungen dienen nicht der Entlastung der Kirche vor Kritik. Wie man an den gerade laufenden Diskussionen über die Harmonisierung und Standardisierung der Anerkennungsleistungen – siehe hier in der Eule – beobachten kann, bedeutet eine intensive Weiterarbeit an den Problemen nicht, dass sie auch im Sinne der Betroffenen gelöst würden.
Noch einmal: Die Zahlen
Aufgrund der disparaten Datenlage in den Kirchenakten (wir berichteten) konnten „nur“ 1.259 Beschuldigte und 2.225 Betroffene ermittelt werden – zumeist in den Disziplinarakten der evangelischen Landeskirchen. Weil nicht – wie eigentlich erwünscht – alle Personalakten der Kirche „systematisch untersucht“ werden konnten, können diese Zahlen laut Projektleiter Prof. Martin Wazlawik nur als „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ gedeutet werden. Die Datengrundlage der Teilstudie E der „Forum-Studie“ sei eine „hoch selektive Stichprobe“.
Laut einer Hochrechnung der Forschenden auf Grundlage des Vergleichs von Personal- und Disziplinarakten in der kleinen Reformierten Kirche (780 Personalakten) könnte sich die Zahl der Beschuldigten auf 3.497 und die der Betroffenen auf 9.355 im Zeitraum von 1946 bis 2020 belaufen. Dabei handelt es sich aber um eine Schätzung, keinen Aktenbefund. Prof. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut hält auch diese Hochrechnung für „grob falsch“, weil sie die Zahl der Fälle massiv unterschätze. Er verwies in Hannover auf die Schätzung des Dunkelfelds in den Kirchen von 114.000 Betroffenen durch eine Studie des Ulmer Kinderpsychiaters Jörg Fegert (mehr dazu).
Verhinderte Aufklärung? – Katharina Köll, Christina Zühlke (WDR, tagesschau.de)
Auf die mangelnde Datenbasis des Teilprojekt E der Studie machten bereits am Mittwoch, also vor Veröffentlichung der Studie, im WDR Christina Zühlke und Katharina Köll aufmerksam (Text bei tagesschau.de). Ihre Recherchen fanden auch Eingang in einen Bericht des Magazins „Monitor“ in der ARD, in dem der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen noch einmal deutlich macht, wie wichtig die Personalakten dafür sind, möglicher Vertuschung auf die Schliche zu kommen. Außerdem kommen im Bericht mit Nancy Janz, einer der Betroffenensprecher:innen im BeFo der EKD, und Horst E. auch zwei Betroffene mit ihren Geschichten zu Wort.
Einziger Wermutstropfen: Auch die WDR-Berichterstattung spricht, wie zahlreiche andere Berichte auch, davon, die Kirche habe den Forschenden Akten „(nicht) zur Verfügung gestellt“. Das aber war nie vorgesehen: Alle Akten, Personal- wie Disziplinarakten, wurden im Rahmen des Teilprojekts E der Studie von den Kirchen selbst gesichtet und die erhobenen Daten via langer und auführlicher „Fragebögen“ den Forschenden zur Verfügung gestellt.
ForuM-Studie: Die „Magie der Zahlen“ – Philipp Greifenstein (Die Eule)
Das gesamte Chaos um Personal- und Disziplinarakten habe ich – nach bisherigem Kenntnisstand – in einem ausführlichen Artikel vom Samstag hier in der Eule dargestellt. Auf einer Social-Media-Plattform wurde ich danach gefragt, an welcher Stelle denn nun „gemogelt“ worden sei, wie es die Frage im Teaser des Artikels nahelegt. Die maßgeblichen Positionierungen finden sich im Artikel. Auf eine längliche Auflistung der Wortmeldungen von Leitenden Geistlichen nach der Veröffentlichung der Studie verzichte ich hier. Das dafür notwendige Factchecking können wir bei der Eule binnen Stunden leider nicht leisten.
Wichtig erscheint mir, dass EKD/Diakonie sich das Kommunikationsdesaster schon selbst eingebrockt haben, weil sie den zum Teil überzogenen Erwartungen an eine evangelische „MHG-Studie“, die von ihnen niemals gewünscht und in Auftrag gegeben wurde, nicht frühzeitig entgegengetreten sind. Da ist einfach eine Lücke zwischen dem kirchlichen Auftrag an die Wissenschaftler:innen und der öffentlichen Rezeption, für die am Ende die Landeskirchen und EKD/Diakonie Verantwortung tragen.
Von vornherein legten die Verantwortlichen im sog. „Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“, im Rat der EKD, in der Kirchenkonferenz der leitenden Geistlichen und Jurist:innen und im Kirchenamt der EKD Wert darauf, eine „qualitative“ und keine „quantitative“ Studie in Auftrag zu geben. Das wurde – gut evangelisch – gemeinsam so entschieden. Womöglich nicht allein, um besonders viel über Spezifika von Tatkontexten und die eigenen Verfehlungen zu lernen, sondern auch um einem Vergleich mit der gerade eben erst erschienenen katholischen „MHG-Studie“ auszuweichen.
[…] Den späten Forschungsbeginn, die Arbeitsüberlastung durch das Beharren auf eigenen Rechercheleistungen und die mindestens verunklarende Kommunikation des eigentlichen Studieninteresses haben sich Diakonie und Kirche selbst zuzuschreiben. Sie plumpsen – nicht zum ersten Mal – in eine Grube, die sie sich selbst gegraben haben.
Kommentar zur Missbrauchsstudie: Es geht nicht nur um Zahlen! – Florian Breitmeier (NDR)
Florian Breitmeier vom NDR, der sich seit vielen Jahren mit dem Themenfeld befasst, u.a. auch mit den Vorgängen in der Nordkirche, die für den evangelischen Kontext so wichtig sind, kommt in seinem Kommentar nach dem Zahlenchaos auf einige qualitative Befunde zu sprechen, die in den kommenden Monaten zu wichtigen Diskussionen und womöglich auch zu Konsequenzen im kirchlichen Handeln und Recht führen sollten:
Er verweist auf die Rolle, die das bewusst inszenierte „Familienidyll“ im evangelischen Pfarrhaus als Ermöglichungsstruktur für Missbrauch und dessen Vertuschung gespielt hat, auch auf den Befund, dass mehr als zwei Drittel der beschuldigten Pfarrer verheiratet waren.
Ein weiterer Aspekt der Studie mit Blick auf evangelische Strukturen: Institutionelle Vielfalt und flache Hierarchien können dazu führen, dass Verantwortung hin und her geschoben wird. Entscheidungen werden verzögert, Betroffene hingehalten. Sie fühlen sich ohnmächtig gegenüber der Institution. Das verletzt sie erneut, weil sie oft das Gefühl haben, dass Fälle schnell abgearbeitet werden sollen, anstatt diese transparent aufzuarbeiten. Hier kollidiert das protestantische Selbstbild, die Kirche der Aufklärung zu sein, mit der bitteren Realität.
Zu Realität evangelischen Missbrauchs gehört laut der „ForuM-Studie“, dass er sich überall in Kirche und Diakonie ereignet hat. Kein evangelisches Milieu und kein kirchliches Handlungsfeld kann sich nach der „ForuM-Studie“ mehr nicht mitgemeint fühlen. Einzelne Befunde der Studie sollten nicht zur persönlichen Entlastung herangezogen werden. Ja, die beschuldigten Pfarrer waren alles Männer. 60 % der Beschuldigten aber sind keine Pfarrer, sondern andere Mitarbeiter:innen in Kirche und Diakonie. Besonders der Erzieher:innen-Beruf muss hier in der Fokus geraten. Auch die jeweiligen Schwerpunkte des Tatgeschehens in der Diakonie (1950er – 1970er Jahre) und in der Kirche (1970er – 1990er und bis heute) müssen zur Kenntnis genommen werden.
Dass es nicht allein um die Zahlen gehen soll, betonten die Betroffenenvertreter:innen bei der Vorstellung der Studie in Hannover (wir berichteten) und in zahlreichen Interviews. Detlev Zander, Betroffenensprecher im BeFo der EKD, weist im DLF auf die Probleme mit dem Studiendesign hin (Audio, Text). Die Studie präsentiert ihre Ergebnisse anonymisiert und nicht nach Landeskirchen und diakonischen Werken aufgeschlüsselt.
„Das gibt das Design der Studie nicht her. Aus meiner Sicht wäre das wichtig gewesen, denn ich glaube, die Öffentlichkeit möchte schon wissen, welche Landeskirche hat sich der Verantwortung entzogen. Das wäre aus meiner Sicht und auch für die Betroffenen sehr, sehr wichtig. Da ist es schwer, eine Verantwortung zu übernehmen von Seiten der Kirche, wenn ich gar nicht weiß, welcher Bischof, welche Bischöfin, welche Verantwortlichen aus der Landeskirche X haben was getan. Das sehe ich im Gegensatz zur Katholischen Kirche sehr, sehr kritisch.“
In der katholischen Kirche sind solche Erkenntnisse erst durch weitere Studien und Untersuchungen nach der „MHG-Studie“ 2018 möglich geworden. Die institutionelle Aufarbeitung und vor allem Aufklärung muss in den evangelischen Landeskirchen und diakonischen Werken weiter- und manchenorts erst richtig losgehen.
Dafür vorgesehen sind die in der „Gemeinsamen Erklärung“ mit der UBSKM vereinbarten regionalen und unabhängigen Aufarbeitungskommissionen (wir berichteten). Neun Stück davon sollen im Laufe des Jahres 2024 eingerichtet werden, auch in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Landesregierungen. Ein gutes Stück Arbeit, das noch längst nicht erledigt ist und bei der es jetzt schon vernehmlich knirscht. Nicht zuletzt werden für jede Kommission auch Betroffene benötigt, die freiwillig und ehrenamtlich mitarbeiten.
„Ich fühle mich als Betroffene heute noch weniger ernst genommen“ – Interview mit Katharina Kracht von Benjamin Lassiwe (Tagesspiegel, €)
Am Ende geht es immer wieder um die Betroffenen: Als Anklagende, als Impulsgeber:innen, als Helfer:innen der Kirche, die sie bitter nötig haben, als Aufklärer:innen. Im Interview bei Benjamin Lassiwe für den Berliner Tagesspiegel erklärt Katharina Kracht, die im Beirat der „ForuM-Studie“ mitgewirkt hat und zwischenzeitlich auch Mitglied des Betroffenenbeirats bei der EKD war (wir berichteten), wie man als Betroffene bei der Evangelischen Kirche heute immer noch behandelt wird:
„Die Mitarbeitenden der sogenannten Fachstellen sind oft überfordert. Betroffene fühlen sich unempathisch und unprofessionell behandelt. Sie berichten zum Beispiel immer wieder von Datenschutzverletzungen. […] Mir ist ganz wichtig zu sagen, dass die Kirche nicht nur in der Vergangenheit geschlafen hat, sondern mindestens auf Ebene der Landeskirchen und häufig auf der der Diakonie noch immer schläft. Auf EKD-Ebene hat es in den letzten Jahren viel Aktivität gegeben, aber die übersetzt sich eben nicht so automatisch auf die Ebene der Landeskirchen. […]
Die evangelische Kirche hat kein Konzept, wie sie mit Betroffenen umgeht, die wirklich zeigen wollen, was passiert ist. […] Ich verstehe solche Ausreden nicht. Ich hoffe aber, dass die Gesellschaft und auch die politisch Verantwortlichen jetzt genau hingucken und auch endlich mal Kontrollfunktionen oder so etwas wie ein Monitoring entwickeln.“
Bei allen Fortschritten, die auf Ebene der EKD und unter Einbeziehung von Betroffenenperspektiven und -Expertisen (!) im BeFo erzielt wurden: In den Landeskirchen und diakonischen Werken ist man noch lange nicht soweit. Zumindest müssten die BeFo-Ergebnisse wirklich zügig in den Gliedkirchen umgesetzt werden – ohne immer wieder neues Bremsen.
Ein „Desiderat“ – eine Lücke – ist auch, dass Betroffene, die nicht gut für sich sprechen können und die der Kirche und Diakonie distanziert gegenüberstehen, kaum eine Stimme haben. Die Kirche darf nicht wiederholen, was ihr in der „ForuM-Studie“ explizit nachgewiesen wird: Sich nur dann auf Betroffene einlassen, wenn sie ihren Wünschen entsprechen. Die individuelle Aufarbeitung ist ein Recht der Betroffenen und nichts, was sie sich erst durch Wohlverhalten bei der Institution verdienen müssten, in der sie Gewalt erfahren haben.
Die Frage – Christiane Florin (Weiberaufstand)
In einem Artikel auf ihrem Blog zieht Christiane Florin, die sich seit Jahren journalistisch und publizistisch mit der Missbrauchskrise der Kirchen befasst, eine vorläufige und pessimistische Bilanz zur Veröffentlichung der „ForuM-Studie“, die auf vielen schlechten Erfahrungen mit dem Aufarbeitungswillen der Kirchen beruht:
Das Beben, das nicht stattgefunden hat, wird erfahrungsgemäß schnell abmoderiert. Die politischen Reaktionen auf die Forums-Studie fallen wie immer gediegen unverbindlich aus. Es wäre ein Wunder, wenn der Aktenzynismus vor aller Augen zu einer wirklich unabhängigen Aufarbeitung führen würde.
Mich beschäftigt nach vielen Gesprächen mit Betroffenen, nach der Lektüre 1000er Studienseiten, nach dem Durcharbeiten durchgestochener interner Papiere noch immer eine Frage an diejenigen, die Amt und Verantwortung haben, die so lange „Nichts-Geahnt“ sagen, bis ihnen dann doch frühe Kenntnis nachgewiesen wird: Was war in dieser Situation wichtiger als die Kinder und Jugendlichen?
nachgefasst
Kirchlicher Machtmissbrauch: akademisch überblendet – Regina Elsner (feinschwarz.net)
Die akademische Theologie ist ein Nischenthema in unserer Gesellschaft. Wie sich der akademische Nachwuchs (#IchBinHanna #IchBinReyhan) in den Mühlen der Universitäten abkämpft, ist zwar zahlreich dokumentiert, aber so richtig warm wird das Herz der Mehrheitsbevölkerung darüber nicht. In Kirche und Theologie sieht es nicht viel anders aus. Beklagenswert scheint vor allem der Mangel an Nachwuchs zu sein, nicht so sehr die strukturellen Defizite, die dazu führen, dass immer weniger junge Menschen Theologie studieren und eine berufliche Laufbahn als Theolog:in für sich in Betracht ziehen.
Vor diesem Hintergrund kratzt Regina Elsner (sonst in anderen Kontexten in der Eule) am Tabu um das nihil obstat, die kirchliche Lehrerlaubnis für Professor:innen. Im theologischen Feuilleton feinschwarz.net schreibt sie ihre Geschichte exemplarisch für so viele Nachwuchswissenschaftler:innen in der katholischen Theologie auf:
Eine größere römische Transparenz stellt den massiven Eingriff der Kirche in die akademische Freiheit nicht grundsätzlich in Frage, der durch die Verstrickung von klerikaler Macht und theologischer Wissenschaft manifestiert ist. Es ist nicht die notwendige Forderung nach Freiheit, sondern die Bitte um bessere Haftbedingungen. In einigen Fällen, auch in meinem, kommen die Prozesse gar nicht bis Rom, sondern werden vorher durch deutsche Bischöfe gelenkt, entschieden, oder blockiert. Fakultäten sind in extremen Abhängigkeitsverhältnissen von Bischöfen. Diese Verstrickung stellt natürlich sehr schnell die grundsätzlichere Frage, wer wir als Theologie an staatlichen Universitäten sein wollen, wenn das Kooperationsverhältnis von Staat und Kirche an dieser Stelle kippen sollte?
Mit dieser Veröffentlichung korrespondiert eine Studie, die im Auftrag von AGENDA – Forum katholischer Theologinnen e.V. vom Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde und in der „nun erstmals Theologieprofessor:innen über ihr Erleben des Nihil-Obstat-Verfahrens und seine Auswirkungen auf ihr Forschen und Leben berichten“ (Folien zur Studie). Die Verfahren würden als „black box“ empfunden, außerdem würden Frauen häufiger beanstandet als Männer. Miriam Zimmer, die Leiterin des Zentrums für Pastorale Evaluation am zap, berichtet:
„Theolog:innen lassen sich durch ein bevorstehendes Verfahren unterschiedlich stark beeinflussen, wobei sich bemerkenswerterweise gerade jüngere Kohorten in ihrer wissenschaftlichen und kirchenpolitischen Positionierung einschränken.“
Buntes
So viele Mitglieder haben die katholischen Verbände (noch) – Steffen Zimmermann (katholisch.de)
Vor wenigen Tagen musste die Katholische Frauengemeinschaft (kfd) riesige Mitgliederverluste bekanntgeben. Wie steht es eigentlich um andere katholische Verbände? Leiden auch sie unter der Implosion der katholischen Kirche? Die katholisch.de-Redaktion hat bei einigen Verbänden, z.B. beim Kolping-Werk und der katholischen Jugend, nachgefragt. Bemerkenswert sind auch einige Erklärungen der Umstände durch die Verbände, wie hier vom Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung (KKV):
Der Verlust von aktiven Ortsgemeinschaften in den vergangenen Jahren habe zu einer strategischen Neuausrichtung des Bundesverbandes hin zu einer „dynamischeren Organisation“ geführt. „Es werden verstärkt regionale sowie digitale Angebote entwickelt, um den Verband für Einzelmitglieder bundesweit attraktiver zu gestalten“, erläutert der Vorsitzende.
Streit um „Vatikan der Hindus“ – Renardo Schlegelmilch (Domradio)
In Indien wurde eines der größten und teuersten Heiligtümer der Welt eingeweiht. Sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart dieses Ortes ist durch Gewalt geprägt. Begleitet wurde die Einweihung durch Premierminister Narendra Modi von Einschüchterungen gegen Christen.
Die Indien-Expertin Bettina Leibfritz von missio Aachen verfolgt das Geschehen. „Man fragt sich, warum ein im Rohbau stehender Tempel, der noch gar nicht fertig ist, jetzt eingeweiht wird. Es gab auch Kritik von Seiten führender Hinduorden, die sagen, dass man das aus religiöser Sicht noch gar nicht darf und schon gar nicht durch einen Ministerpräsidenten. Eigentlich müsste ein Priester den fertigen Tempel einweihen.“ Das alles sei Teil von Modis größerer Strategie, aus Indien einen hinduistischen Nationalstaat zu machen. Für Unmut und Sorge führt das bei Christen, Muslimen – und selbst einigen Hindus.
Schöner abschieben mit der Ampel – Leo Fischer (nd)
In der vergangenen Woche habe ich hier in den #LaTdH beschrieben, wie sich die Kirchen beim „Lagerfeuermoment“ der Anti-AfD-Proteste engagieren. Ein Engagement, das nun schon in der zweiten Woche anhält – auch und besonders in Ostdeutschland. Eine gewichtige Einschränkung wiederholt Leo Fischer in diesem Kommentar für das nd, wenn er auf die Politik der Bundesregierung abhebt – und nicht allein auf die Pläne der AfD.
Wer kann SPD und Grüne jetzt noch wählen? Befürworter*innen einer humanitären Geflüchtetenpolitik sicher nicht. Und kein einziger Rechter kehrt wegen des Asylkompromisses zur SPD zurück – warum auch? Wer AfD wählt, will keine andere Politik, sondern eine komplett andere Gesellschaft. Die Idee, dass man den AfD-Anhänger*innen nur ihre rassistischen Fantasien erfüllen müsste, um sie »zurückzuholen«, ist illusorisch. Gleichzeitig sitzt man in der ideologischen Falle: Denn zu einem »weicheren« Kurs in der Geflüchtetenfrage kann man nicht zurück. Somit wird man die AfD weiter rhetorisch verurteilen – während man ihr Programm faktisch ausführt.
Ein guter Satz
„Wir erwarten eine ernsthafte Auseinandersetzung und zügige Bearbeitung der Ergebnisse dieser Studie. Sie darf sich nicht darin erschöpfen, die Handlungsempfehlungen der Studie lediglich zu hören.“
– Nancy Janz, Betroffensprecherin im BeFo der EKD, in einer Stellungnahme zur Veröffentlichung der „ForuM-Studie“