Rechtsruck bei jungen Menschen: Beziehung geht vor Erziehung!
Wie sollten wir mit Jugendlichen umgehen, die rechtsradikale Ideen toll finden? Was auf die Empörung über den Rechtsruck unter jungen Menschen folgen kann, erklärt Daniela Albert.
Ach, war ich erleichtert in den letzten Wochen! So viele Menschen gingen auf die Straße und zeigten damit, dass sie so gar keinen Bock auf die menschenverachtenden Fantasien rechtsradikaler AfD-Mitglieder haben. Sie machten deutlich, dass das, was sich einige da herbeisinnieren, nichts mit der Gesellschaft zu tun hat, in der sie leben möchten.
Besonders die Tatsache, dass diesmal nicht nur Menschen auf die Straße gingen, von denen ich das sowieso erwarte, sondern auch politisch eher konservativ denkende Freund:innen ihre Kinder geschnappt und Haltung gezeigt haben, hat mir Hoffnung gegeben, dass wir wirklich, wenn es hart auf hart kommt, stark, demokratiefähig und vernünftig genug sind, um solchen Anfechtungen zu trotzen.
Soweit – so gut! Oder besser gesagt: Gar nichts ist gut! Denn es mag sein, dass unfassbar viele Menschen zeigen, dass sie für den Blödsinn der AfD nicht zu haben sind, aber viel zu viele sind es unterm Strich eben doch. Die AfD und ihre Ideen haben Aufwind – überall – und daher auch bei unseren Kindern und Jugendlichen.
Viel zu lange sind wir naiv davon ausgegangen, dass junge Menschen tendenziell politisch eher links stehen. Wir haben sie bei Fridays for Future verortet und in der Wählerschaft der Grünen, vielleicht noch bei der SPD, den Linken, okay und ein paar Versprengte bei den JuLis und der CDU gab es schon immer, Bourgeoisie-Kinder halt, die wissen es nicht besser.
Rechtsradikale Jugendliche hielt man in Westdeutschland vor allem für ein Problem des Ostens. Natürlich musste man sich da, wo die Radikalisierung junger Menschen zu den alltäglichen Herausforderungen gehört, schon immer Gedanken machen, wie man sie erreicht, wie man sie zurückholt oder wie man verhindert, dass sich noch mehr auf diese Abwege begeben. Es gibt Gegenden in Deutschland, da beschäftigt man sich schon sehr lange mit der Frage, was Nazis attraktiv für Kinder macht und was man dem entgegenhalten kann.
Mittlerweile müssen wir uns allerdings alle genau diese Gedanken machen. 15 Prozent der 15–18-Jährigen hätten 2023 in Hessen die AfD gewählt, wenn sie denn schon wahlberechtigt gewesen wären. Ähnliche Zahlen kennen wir aus Bayern und aus Baden-Württemberg. Die Gründe hierfür sind natürlich vielfältig. Interessanterweise lässt sich aber ein Faktor erkennen, den ich hier schon einmal im Zusammenhang mit jungen, radikalisierten Christ:innen beleuchtet habe: Die Rechtsradikalen sind stark auf Social Media.
Ruhe bewahren!
Der AfD ist es gelungen, auf Plattformen wie TikTok Influencer:innen ins Rennen zu schicken, die bei vielen Jugendlichen einen Nerv treffen. Sie erreichen junge Menschen über deren bevorzugte Medien: Über Shorts, also kurze, prägnante Videos, die hip und cool wirken und leicht nebenbei zu konsumieren sind. Aber auch über Podcasts (der Stern berichtete dazu letzte Woche) und Kanäle, die sich intensiver und länger mit Sachverhalten auseinandersetzen.
Man braucht schon viel Nähe und einen bereits etablierten guten politischen Diskussionsstil, um an den jungen Menschen dranzubleiben, die diesen Social-Media-Profis auf den Leim zu gehen drohen. Als Christ:innen, als Eltern, als Jugenddiakon:innen, als Ehrenamtliche oder Lehrer:innen müssen wir uns heute fragen, ob wir diejenigen sind, die das bieten können oder ob wir uns eher in einer Art und Weise verhalten, die dem entgegensteht.
Bieten wir diesen jungen Menschen ein Gegenüber? Schaffen wir es noch, zuzuhören, auszuhalten und kleine gemeinsame Nenner zu suchen? Merken wir rechtzeitig, wenn wir anfangen zu moralisieren, in Schnappatmung zu verfallen oder nur noch Monologe zu halten? Ich kann für mich persönlich sagen, dass ich bei den Antworten auf diese Fragen nicht zwingend gut abschneiden würde. Oft spüre ich bei solchen Themen den Druck, überzeugen zu müssen, weil ich uns im Vollspeed auf eine Klippe zufahren sehe und das Gefühl habe, von mir allein hängt ab, ob wir hinabstürzen.
Auch ich lasse mich gern von allzu lauter Empörung und Katastrophisierung mitreißen. Versteht mich nicht falsch: Sich erst einmal zu empören war richtig und wichtig, aber im Umgang mit unseren Jugendlichen brauchen wir nun Versachlichung, Ruhe und Ventile, um den Druck wieder abzulassen. Es mag uns vorkommen, als operierten wir gerade am offenen Herzen. Tun wir aber nicht. Und selbst wenn, wäre Besonnenheit wichtig. Wir müssen uns auch im Umgang mit dieser schwierigen Entwicklung Ruhe und Zeit geben, Beziehung vor Erziehung zu setzen.
Pavels Geschichte
Einer, von dem ich das in den letzten Jahren lernen konnte, war Pavel. Er heißt in echt anders, aber ich habe ihn umbenannt und erzähle seine Geschichte etwas freier, um ihn, seine Schüler:innen und andere Beteiligte zu schützen. Die entscheidenden Faktoren habe ich aber nicht verändert.
Pavel ist Lehrer. Er unterrichtet eine Klasse, hauptsächlich Jungs. Ihr zu erwartender Bildungsabschluss ist nicht sonderlich hoch, viele dieser Kids haben keine Perspektive. Von Zuhause können sie auch nicht viel Positives berichten. Zu den Elternabenden kommen fünf Elternteile – wenn es gut läuft. Meistens sitzt Pavel allein da und geht nach einer halben Stunde unverrichteter Dinge nach Hause. Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Homo- und Transphobie und ein irrationaler Hass auf die Ampel und vor allem „die Grünen“ sind unter seinen Jungs normal.
Er unterrichtet sie. Auch in Politik. Wenn es um die oben genannten roten Linien geht, ist er klar, zeigt Haltung. Seine Jungs wissen, wo er steht, auch wenn er es ihnen selten unter die Nase reibt. Oft lässt er den Unterricht ausfallen. Stattdessen frühstückt er mit seinen Schüler:innen, geht raus und unternimmt irgendwas, wandert, macht Projekte oder schaut einen Film. Meistens irgendwas scheinbar Belangloses.
„Was macht er da?“, fragen sich Freund:innen und Kolleg:innen seit Jahren. Und wie kann er diesen Haufen ertragen? Wie kann er, dessen Eltern einst selbst in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland kamen, ruhig bleiben, wenn sie von „Sozialschmarotzern“ reden? Wie kann er ernsthaft sagen, dass er sie gern hat, trotz allem, was sie täglich raushauen? Wieso lässt er zu, dass sie ihre TikToks in den 5-Minuten-Pausen abspielen und sagt nicht viel öfter was dazu?
Seit Jahren sieht man ihm kopfschüttelnd zu.
Neulich hat er wieder eine geplante Stunde ausfallen lassen. Stattdessen hat er Chips-Tüten und Cola verteilt und ein Video angemacht. Zuerst hat seine Klasse es für eine Party gehalten und das, was da vorne gelaufen ist, hat sie nicht interessiert. Doch nach und nach haben sie doch zugeschaut. Es war eine Doku über AfD-Austeiger:innen. Bewegend, ehrlich, erschreckend. Er hat das Gezeigte unkommentiert stehengelassen, die leeren Flaschen und Tüten eingesammelt und ist nach Hause gegangen.
Zur Vernunft bringen
Die nächste Politikstunde lief wieder nach Lehrplan. Alles beim Alten. Fast. Denn die kleine, überschaubare Gruppe in seiner Klasse, die nie etwas mit dem rechten Gedankengut der anderen anfangen konnte, und tapfer dagegenhielt, hat Zuwachs bekommen. Einen hat das Gesehene so berührt, dass er ins Nachdenken kam und zur Besinnung. Einen hat er erreicht. Einen – in anderthalb Jahren.
Anderthalb weitere Jahre unterrichtet er sie noch, vielleicht erreicht er noch einen, oder zwei. Er ist optimistisch – am Ende haben sie alle was gelernt, sagt er.
Es mag wenig klingen – aber ich wage die Vermutung, dass Pavel einen mehr zur Vernunft gebracht hat, als jedes noch so originelle Demo-Plakat (von denen ich trotzdem jedes einzelne feiere). Ganz sicher hat er einen mehr zur Vernunft gebracht als all die Social-Media- und Real-Life-Schnappatmung, die gerade durchs Land zieht. Ganz sicher hat er einen mehr zur Vernunft gebracht als all die feinen Sonntagsreden, von denen so manche vor Selbstgerechtigkeit nur so trieft. Ganz sicher hat dieser Lehrer einen mehr erreicht als all die Journalist:innen, Expert:innen oder Demospeaker:innen, von denen manche schon an der Politik-Grundkurs-Aufgabe scheitern, sauber zwischen konservativ, rechts und rechtsradikal zu unterscheiden.
Was jetzt ansteht
Doch was bedeutet das jetzt für uns? Was bedeutet das für unsere Erziehung, für den Umgang mit den Klassenkamerad:innen oder Freund:innen unserer Jugendlichen? Was bedeutet es für christliche Jugendarbeit, für Leiter:innen von Jugendtreffs oder Menschen, die in Vereinen aktiv sind? Also für all diejenigen, die die Chance bekommen, direkt an der Basis mit jungen Menschen zu arbeiten?
Meines Erachtens haben wir zwei Aufgaben:
Erstens die Stärkung derer, die den demokratischen Pfad nicht verlassen haben. Wir müssen diejenigen diskursstark, mutig und sicher aufstellen, die für Hass und Hetze nicht empfänglich sind und die rechtsradikale TikToker:innen zwar wahrnehmen, ihnen aber keinen Glauben schenken. Und zwar jede und jeden von ihnen – nicht nur die, die uns links oder progressiv genug sind, an den richtigen Gott glauben oder sonst wie gerade in unseren Kram passen. Wir müssen ihnen beistehen, gerade wenn sie, so wie in Pavels Klasse, in der Minderheit sind und sich trotzdem trauen dagegenzuhalten. Für diese Jugendlichen müssen wir mehr denn je sichere und geborene Orte sein – besonders dann, wenn sie selbst zur Zielgruppe von Hass und Hetze gehören.
Zweitens: Wir dürfen die anderen nicht aufgeben. Wir haben es hier mit jungen Leuten zu tun, die zum Teil Positionen vertreten, bei denen sich mir die Zehennägel hochrollen. Doch wir müssen uns vor Augen führen, dass sie eben vor allem eins sind – noch sehr jung. Viel zu jung um sie an die Höckes dieser Welt verloren zu geben.
Lasst uns auch hier, gerade hier, Beziehung vor Erziehung stellen. Lasst uns das tun, was zutiefst christlich ist – bieten wir ihnen einen sicheren Platz an, an unseren Esstischen, in unseren Jugendgruppen, in unseren Kirchen, in unserem Unterricht, im Verein. Laden wir sie zum Frühstück ein, zum Wandern, zu einer Partie an der Konsole. Versuchen wir doch einfach mal, nicht sofort in reflexhafte Empörung zu verfallen, wenn sie krude Thesen von sich geben – zumindest, solange uns das möglich ist, ohne die Sicherheit der ersten Gruppe zu gefährden.
Springen wir nicht über jedes Stöckchen, das sie uns hinhalten. Statt einer Diskussion über die irren Thesen irgendeines Podcast können wir auch einfach sagen: „Mach die Scheiße aus und lass uns kickern!“ Lasst uns eine Basis bauen, die es irgendwann verkraftet, dass wir uns auch mit schwierigen Themen auseinandersetzen. Es bringt nichts, diese Themen mit dem Holzhammer irgendwo anzubringen, wo sie nichts als Abwehr auslösen. Erst Beziehung – dann (und zwar unbedingt) Erziehung oder besser gesagt politische Bildung. Sonst verlieren wir sie ganz sicher.
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