Rüge – Die #LaTdH vom 24. November
Das Aufarbeitungsgesetz droht dem Ampel-Aus zum Opfer zu fallen und die Kirche zeigt sich hartleibig. Außerdem: Flüchtlinge als Menschen zweiter Klasse und Papst Franziskus in der Kritik.
Herzlich Willkommen!
„Ich möchte heute einen Schmerz mit ihnen teilen“, kündigt der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens (EVLKS), Tobias Bilz, von der Kanzel der Dresdner Kreuzkirche herab an. Am Buß- und Bettag, der im Freistaat Sachsen als einzigem Bundesland auch gesetzlicher Feiertag ist, predigt Bilz angefasst über die Versäumnisse des Menschen angesichts eines leidenden Planeten. Er erklärt den Earth-Overshoot-Day, der in diesem Jahr bereits am 1. August erreicht wurde. Zum Bußtag wird – nicht nur von sächsischen Kanzeln aus – gemahnt und zur Umkehr aufgerufen. Aber der Bischof hat mehr im Gepäck als politisch-moralische Ermahnungen, als er am Mittwoch das Wort ergreift (Audiofile).
Die Landessynode der EVLKS hatte am letzten Wochenende die Gelegenheit verstreichen lassen, einen neuen Passus in die Verfassung der Landeskirche aufzunehmen. Es fehlte eine Stimme zur erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit. Nicht das erste Mal, dass eine Minderheit der Synodalen sich als Sperrminorität positioniert. „Die Landeskirche tritt für ein von Gleichberechtigung und gleichberechtigter Teilhabe bestimmtes Zusammenleben ein“ – das ging manchen doch deutlich zu weit. „Ich muss meine Kirche rügen“, predigte Bilz gegen das Ergebnis der Abstimmung an:
„Wie kann man sagen, liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst, wenn ich [doch] sage, der andere bekommt nicht das Gleiche wie ich? Das schmerzt. Das ist gegen das Gebot Gottes.“
Bilz‘ Predigt gegen „Ego-first“ und für „ausgleichende Gerechtigkeit“ ist bemerkenswert. Dass ein evangelischer Bischof so deutlich Kirchenleitung mit dem Wort wagt, selten genug. Der modus operandi ist doch viel häufiger das Austarieren und Moderieren hinter verschlossenen Türen. Nicht nur die EKD-Synode will sich im kommenden Jahr mit dem Thema „Macht in der Kirche“ befassen. Nach der „ForuM-Studie“ ist dies für alle kirchlichen Gliederungen angeraten. Darüber braucht es Streit und es braucht Verantwortungsübernahme, keine „Harmoniekultur“ und „Verantwortungsdiffusion“. Solche Predigten können ein Schritt in die richtige Richtung sein.
Im Hintergrund der Verweigerungshaltung einer Minderheit der Synodalen stehen natürlich wieder einmal die Frage der Anerkennung von LGBTQI+ in der sächsischen Landeskirche und andere politische Fragestellungen. Die Angst, als Kirche irgendwie in der „linken“ oder „woken“ Ecke zum Stehen zu kommen, trieft manchen sächsischen Christen aus dem Knopfloch. Dieser selbstgewählten Diaspora muss man entgegentreten. Nicht allein das Grundgesetz auch ökumenische Verabredungen, u.a. mit dem Lutherischen Weltbund, verpflichten die EVLKS zur Gleichbehandlung. Ihre rechtliche Verankerung in der Kirchenverfassung würde den notwendigen Kulturwandel in der Kirche im wahrsten Sinne des Wortes ins Recht setzen. Dafür braucht es in der evangelischen Kirche mehr als Bischofsworte.
Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein
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Debatte
Der 18. November ist der offizielle „Europäische Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“. Auf Anregung von Papst Franziskus hin wird rund um dieses Datum in der römisch-katholischen Kirche ein Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs begangen. In diesem Jahr mit einem Schwerpunkt auf digitale Gewalt. In den evangelischen Kirchen fehlt ein solches offizielles Gedenken noch.
„Nicht das Wort, die Tat ziert den Menschen“ – Interview mit Johannes Norpoth von Tobias Fricke (Domradio)
Anlässlich des Gedenk- und Gebetstages ruft Johannes Norpoth, Mitglied im Betroffenenbeirat bei der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK), zum Handeln auf: Mit Gebeten allein sei es nicht getan.
„Ich würde mir wünschen, dass Pfarrgemeinden, Bistümer sowie alle Gremien und Organe diesen Tag nutzen, um sich auf den Weg zu einer wirklichen Erinnerungskultur zu machen, dass es am Ende zu einer Haltungsänderung kommt. […] Das betrifft an dieser Stelle nicht nur die Bischöfe, sondern alle, die in diesem Rahmen Verantwortung tragen, angefangen von Gemeinderäten und Kirchenvorständen vor Ort bis hin zu den Diözesanräten, aber auch ehrenamtlich Engagierte in Vermögensräten zum Beispiel. Hier braucht es endlich eine entsprechende Haltungsänderung, die aus dem Wort und Versprechen, dass man sich an die Seite der Betroffenen stellt, tatsächlich Taten folgen lässt.“
Dass Missbrauch kein Problem der Vergangenheit ist, betonen in diesen Tagen nicht allein Sprecher:innen von Betroffenen sexualisierter Gewalt in der Kirche. Das „Bundeslagebild geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ hatte bereits in der vorvergangenen Woche deutlich gemacht, dass Gewalt und Missbrauch in Deutschland immer noch Alltag sind:
2023 wurden demnach 52.330 Frauen und Mädchen Opfer von Sexualstraftaten – und damit 6,2 Prozent mehr als 2022. Die Hälfte der Opfer war hier den Angaben zufolge jünger als 18 Jahre alt. Ein enormer Anstieg um 25 Prozent auf knapp 17.200 weibliche Opfer wurde im Bereich digitaler Gewalt festgestellt. Zudem wurden im Jahr 2023 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Femiziden, ein Prozent mehr als 2022 (929). 360 Frauen und Mädchen starben dabei.
Eine ausführliche Recherche der taz führt in das Problem „geschlechtsspezifischer Gewalt“ ein. Ebenfalls zum europäischen Gedenktag hat der Betroffenenverein „Eckiger Tisch“ mit Aktionen auf das Schicksal von Betroffenen aufmerksam gemacht, berichtet die KNA:
„Auch wenn manchmal ein anderer Eindruck entsteht: Die Opfer sind nicht gut versorgt, sie müssen mit der Kirche um Anerkennung und Entschädigung ringen und die Risiken, die in der Institution selbst liegen, sind keineswegs überwunden“, sagte der Sprecher des Vereins, Matthias Katsch. Kindesmissbrauch durch Priester bleibe ein Problem der Kirche, solange sie ihre Strukturen und Lehren nicht wirklich auf den Prüfstand stelle und einen anderen Umgang mit Betroffenen lerne, so Katsch weiter. „Beten für die Opfer ersetzt nicht Rechenschaft und Verantwortungsübernahme“, so Katsch. […] Passend dazu hatte der Verein die Petition „Keine Einrede der Verjährung in Schmerzensgeldprozessen“ gestartet, die laut „Eckigem Tisch“ bereits von über 78.000 Menschen unterschrieben wurde.
Kritik an Aachener Missbrauchsaufarbeitung – Lothar Schröder (Rheinische Post)
Das Thema „Einrede der Verjährung“ ist erneut aktuell, nicht nur aufgrund der Praxis von Bistümern in Zivilprozessen. Betroffene protestierten in Aachen, weil das dortige Bistum bei zwei Schmerzensgeldklagen auf Verjährung bestand und die Verfahren damit beendet wurden. Die Rheinische Post berichtet ausführlich über die Problematik. Der Aachener Bischof, Helmut Dieser, ist gemeinsam mit dem Freiburger Erzbischof Stefan Burger Missbrauchsbeauftragter der DBK. Er meint: „Wir bleiben auch in Zukunft miteinander auf dem Weg.“
Claudia Möllers vom Münchner Merkur erklärt jedoch in einem Gastkommentar bei der Kirchenzeitung des Bistums Münster Kirche + Leben, Bischof Dieser habe „seine Glaubwürdigkeit verspielt“:
Die Signale aus dem Bistum Aachen sind verstörend: Die Diözese hat bei zwei Schmerzensgeldklagen von Missbrauchsbetroffenen erfolgreich Verjährung geltend gemacht. Damit weicht ausgerechnet die Diözese des Bischofs, der Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz ist, von der bisherigen Linie anderer Diözesen ab. So hat das Erzbistum München und Freising bei anhängigen Prozessen aus guten Gründen bisher auf die sogenannte „Einrede der Verjährung“ verzichtet. Denn diese würde bedeuten, dass die leidgeprüften Betroffenen keinen rechtlichen Anspruch auf einen finanziellen Schadensersatz haben. […]
Derartige Äußerungen aus dem Bistum Aachen erschüttern alle durchaus auch ehrenwerten Versuche der katholischen Kirche, das bedrückende Missbrauchsthema aufzuarbeiten. Das Signal, das von Aachen ausgeht, ist fatal: Der Kirche ist das Geld wichtiger als die Sorge um die Betroffenen. Bischof Dieser hat jegliche Glaubwürdigkeit verspielt, weiterhin Missbrauchsbeauftragter der Bischofskonferenz zu sein.
Zwischen Verantwortungsübernahme und „Flucht in die Prävention“
Beide großen Kirchen geraten immer wieder ins Straucheln, wenn es um eine wirklich konsequente Verantwortungsübernahme für die in ihnen verübte sexualisierte Gewalt geht. Im Fokus stehen immer wieder die Zivilklagen mit ihren hohen Hürden, z.B. der Beweislast, die bei den Betroffenen liegt, und die Praxis der Anerkennungsleistungen in beiden Kirchen. Anerkennungsleistungen sind teuer, laut eigenen Angaben wurden im Bistum Aachen bereits 3,5 Millionen Euro ausgezahlt. Und in Zivilverfahren oder bei der Mitwirkung bei Verhandlungen im Rahmen des staatlichen Opferentschädigungsrechts pochen Kirchenjuristen auf „ihr gutes Recht“. Häufig erfährt „das Kirchenvolk“ in den jeweiligen Bistümern und Landeskirchen von der Hartleibigkeit ihrer Kirchen überhaupt nicht oder macht – siehe Norpoth – sogar aktiv mit.
Da nützt auch der Hinweis auf die Präventionsbemühungen nicht, die in beiden Kirchen – gerade im Vergleich zu weiteren gesellschaftlichen Akteuren und Organisationen – weit vorangeschritten sind. Die „ForuM-Studie“ nennt genau das die „Flucht in die Prävention“. Es ist gut zu wissen, dass Prävention wirken kann, wie Forscher:innen den (Erz-)Bistümern Köln, Paderborn, Essen, Aachen und Münster gerade bescheinigten (s. hier, hier & hier), aber mit Aufarbeitung ist mehr als eine möglichst umfängliche Vorbeugung gemeint.
Teil des Problems ist sicher, dass die Kirchen aufgrund der Dringlichkeit der Probleme und dem entsprechenden Interesse der Öffentlichkeit, seit Jahren „Vorreiter“ bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt sind – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Nach ihrer Wahl zur EKD-Ratsvorsitzenden erklärte Bischöfin Kirsten Fehrs (Sprengel Hamburg und Lübeck / Nordkirche) vor ein paar Tagen in Würzburg:
„Wir brauchen ein Aufarbeitungsgesetz. Wir wollen nicht ständig die Standards setzen, die wir dann einhalten müssen.“
Aufarbeitungsgesetz gestoppt?
Unter den zahlreichen Anliegen der Ampel-Koalition, die durch ihr vorzeitiges Auseinandergehen in Frage stehen, sticht das Aufarbeitungsgesetz noch einmal hervor: Denn auch bisher schon war die gesetzliche Neuverankerung des Amtes der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM, derzeit: Kerstin Claus (Grüne)) vor allem ein Nischenthema, um das viele Abgeordnete und Beobachter:innen lieber einen großen Bogen machen. Jetzt droht das Gesetz, das vom Bundeskabinett bereits beschlossen wurde und sogar schon eine Expert:innenanhörung im Familienausschuss des Deutschen Bundestages hinter sich hat, zu stranden. Kann es noch vor Ende der Legislatur beschlossen werden?
Dazu hat jedenfalls der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Marc Frings, aufgerufen und in ihren „Standpunkten“ auf katholisch.de erinnerten in dieser Woche sowohl Joachim Frank, der Vorsitzende der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands (GKP) und Chefkorrespondent der DuMont-Zeitungsgruppe, als auch Annette Zoch von der Süddeutschen Zeitung daran, wie wichtig eine Verabschiedung des – sicher in Zukunft noch zu verbesserenden Gesetzes – ist. Annette Zoch schreibt:
Das Gesetz ist fertig verhandelt, es gab bereits eine Expertenanhörung im Familienausschuss und eigentlich weitgehende parteiübergreifende Einigkeit. Auch wenn es zum Beispiel am Umfang des Akteneinsichtsrechts oder an der Finanzierung noch Kritik gibt – im Grundsatz wird das Vorhaben von allen Seiten begrüßt. Warum also noch länger warten? Durch die im Gesetz festgeschriebene Berichtspflicht wären Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung verpflichtet, sich regelmäßig mit Kinderschutz und der Prävention sexueller Gewalt zu beschäftigen. Missbrauch ist kein Thema der Vergangenheit, das zeigen die Zahlen der Kriminalitätsstatistik. Deshalb sollte der Bundestag das Gesetz jetzt schnell verabschieden. Kinderschutz ist kein Gedöns.
nachgefasst
Zum neuen Religionsgesetz in der Ukraine – Thomas Bremer (Experteninitiative Religionspolitik)
Auf dem Blog der Experteninitiative Religionspolitik (EIR), dem religionspolitischen Thinktank der Konrad-Adenauer-Stiftung, schreibt Thomas Bremer über das „neue“ Religionsgesetz in der Ukraine. Bremer ist Professor i.R. für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Universität Münster. Seine Nachfolgerin auf dem Münsterschen Lehrstuhl, Regina Elsner, ist in der Eule bereits mehrfach auf die Problematik des Gesetzes eingegangen (s. Eule-Interview vom Dezember 2022 & dazugehörige „Eule-Podcast“-Episode).
Bedeutet das Gesetz eine Einschränkung der Religionsfreiheit? Es sieht eine neunmonatige Frist vor, die im Mai 2025 abläuft – vorher können keine Gemeinden verboten werden. Damit soll die UOK unter Druck gesetzt werden, um bis dahin die Vorgaben zu erfüllen, die ihr staatlicherseits gemacht werden. Unter Gesichtspunkten der Religionsfreiheit ist das sicherlich ein wenigstens sehr unglückliches Vorgehen.
Noch schlimmer ist allerdings der gesellschaftliche und politische Schaden, den das Gesetz und die staatlichen Maßnahmen mit sich bringen: In einer Zeit größter Bedrohung für das Land wird die Gesellschaft gespalten statt geeint, der russischen Propaganda wird ein Thema gegeben, das sie reichlich ausnutzt, und in konservativen Kreisen der USA, dem wichtigsten Verbündeten der Ukraine, wird diskutiert, ob man ein Land weiter unterstützen solle, das sich anschickt, Kirchen zu verbieten. Eine kluge Politik in gefährlichen Zeiten sieht anders aus.
Es fehlt die Ehrlichkeit – Johannes Fischer (zeitzeichen)
Zur Positionierung der EKD-Synode beim Thema Flucht und Migration nimmt bei den zeitzeichen der Sozialethiker Johannes Fischer Stellung. Fischer war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und schaltet sich immer wieder bei den zeitzeichen und auf seinem Blog in aktuelle Debatten ein. Die Beschlüsse der EKD-Synode zum diesjährigen Schwerpunktthema der Tagung in Würzburg „Migration, Flucht und Menschenrechte“ kritisiert er aus einer betont verantwortungsethischen Perspektive. Allerdings, ohne dass er die Beschlüsse en detail zur Kenntnis nimmt. Mehr zu den Beschlüssen im Kontext der Synodenarbeit hier in der Eule.
Ehrlich wäre es gewesen, wenn die Synode sich zu der Einsicht durchgerungen und klar bekannt hätte, dass das individuelle Recht auf Asyl die Politik in Deutschland und Europa in ein tiefes und letztlich unauflösbares Dilemma stürzt. Dazu ist es nicht gekommen. Die Regie der Synode wollte es offensichtlich anders, nämlich so, dass die Synode sich positionieren sollte im Sinne der am Ende gefassten Beschlüsse. Andernfalls hätte man einen Gegenreferenten zu dem Referat von Frau Bendel einladen müssen, damit die gegenwärtige Situation in ihrer ganzen Komplexität vor Augen geführt wird und die Argumente in ihrem Für und Wider transparent werden. So hingegen wird nun der Eindruck vermittelt, dass es jenes Dilemma in der Flüchtlingspolitik gar nicht gibt und dass daher die Politik unethisch handelt, weil sie nicht die europäischen Außengrenzen für Flüchtlinge und Migranten öffnet.
Teil des evangelischen Debattentheaters ist es, ethische Dilemmata entlang der Unterscheidung von „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ zu diskutieren. Dazu wird – so auch von Fischer – an Max Weber erinnert. Mir scheint das inzwischen, vor allem im Blick auf die tatsächlichen politischen Konkretionen, die sich dann doch häufig gleichen, ein sophistisches Hobby zu sein. Die EKD-Synode beharrt auf der Geltung internationaler Rechtsordnungen, wie der Genfer Flüchtlingskonvention, die hier wie auch bei anderen Themen mindestens herausgefordert sind (s. Friedensethik). Aber soll man sie deshalb ad acta legen zugunsten eines illiberalen und inhumanen Pragmatismus, für den sich Christ:innen dann später im Gebet schämen und verantworten dürfen?
„Bloße Gesinnungsethik kann daher keine christliche Option sein“, schreibt Fischer als letzten Satz, nachdem er den Leser:innen und Synodalen erklärt hat, schon Martin Luther habe gewusst, dass sich „christliche Nächstenliebe nicht nur auf die Sorge für Menschen, die Not leiden, sondern auch auf die Verantwortungsübernahme für das politische Gemeinwesen“ erstreckt. Leider entsteht der Eindruck, dass er damit vorrangig das deutsche und europäische Gemeinwesen meint, das durch „eine Wiederholung der Situation von 2015/16“ unter Stress gesetzt werden könnte.
Die inhumanen und häufig völkerrechtswidrigen Maßnahmen der europäischen Flüchtlingspolitik zählt Fischer zwar auf, jedoch ohne ihre Auswirkungen auf die europäischen Gesellschaften in einem tieferen Sinne zu betrachten (s. Eule-Interview mit Maximilian Pichl). Eine so konstruierte nachgeordnete Verantwortung für die Menschen jenseits der EU-Grenzen erklärt sie en passant zu Menschen zweiter Klasse.
Unterwegs mit SOS Balkanroute – Roswitha Feige und Joschka Köck (Pfarre Altsimmering)
Auf der Website der Pfarre Altsimmering berichten Roswitha Feige vom Pfarrnetzwerk Asyl und Joschka Köck vom Theater der Unterdrückten Wien von ihrer letzten „Fact-Finding-Mission gemeinsam mit SOS Balkanroute“ vom 28. Oktober bis 3. November 2024 in Bosnien. Die kurzen Tagebuchnotizen geben einen Eindruck von den realen Folgen der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik.
Wir besuchen den neuen Teil des städtischen Friedhofs, auf dem die Menschen begraben sind, die hier an der EU-Außengrenze ihr Leben verloren haben. Am 16. November 2024 wird er eingeweiht, auch dieses Projekt unterstützt das Pfarrnetzwerk. Baba Asim kümmert sich darum, dass die Menschen, teilweise Bekannte, die beim Versuch nach Europa zu kommen, sterben, eine würdige Bestattung bekommen. Während über uns eine neugierige Drohne hinweg fliegt, blicken wir auf die gefährlichen Berge in der Ferne, über denen die Sonne langsam untergeht.
Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung (BR)
Papst Franziskus hat in einem neuen Buch gefordert zu untersuchen, ob die Kriegsführung Israels in Gaza dem Vorwurf des „Völkermords“ entspreche. Die orthodoxe Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Papst Franziskus für seine Äußerungen scharf, der Begriff „Völkermord“ sei eine Täter-Opfer-Umkehr. Der BR berichtet:
Papst Franziskus hatte sich dafür ausgesprochen, die aktuellen Ereignisse im Gazastreifen eingehend zu untersuchen. „Nach Ansicht einiger Experten weist das Geschehen in Gaza die Merkmale eines Völkermords auf“, schreibt Franziskus in einem neuen Buch. „Wir sollten sorgfältig prüfen, ob es in die von Juristen und internationalen Gremien formulierte technische Definition passt.“ Israel, dessen Kriegsführung gegen die Terrorgruppe Hamas im Gazastreifen manche Kritiker als Genozid bezeichnen, erwähnt der Papst nicht direkt. […]
„Auch wenn man über die Wirksamkeit des laufenden Krieges Israels gegen die Hamas streiten kann, so bleibt er doch eine militärische Antwort auf den Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und die ausdrückliche Drohung der Hamas, diesen wahllosen mörderischen Amoklauf zu wiederholen, wann immer sie kann“, erklärte die Rabbinerkonferenz am Dienstag in München. „Während Israel dem humanitären Völkerrecht verpflichtet ist, die Hamas jedoch jede Norm dieses Rechts verletzt“, heißt es in der Erklärung. Israel führe einen „Verteidigungskrieg gegen einen barbarischen Feind, der von keinem westlichen Rechtskodex und keiner Kriegskonvention gezügelt wird“, betonten die Rabbiner. Das Land kämpfe zudem für die Rückkehr von 101 Geiseln. Aus Sicht der Rabbiner könne Israel für „seine militärischen Maßnahmen zur Selbstverteidigung“ nicht des Völkermords bezichtigt werden.
Bei der COMMUNIO hatte der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff angesichts der neuesten Papst-Äußerungen gefragt: „Weiß der Papst, was er tut?“
Buntes
ZdK-Vollversammlung
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) hat auf seiner Vollversammlung ein neues Leitbild für den römisch-katholischen Laien-Dachverband beschlossen. Im Frühjahr war dies auf der Vollversammlung in Erfurt noch gescheitert, weil sich „in der Diskussion zu großer weiterer Beratungsbedarf ergeben“ hatte, berichtet Vatican News in der Zusammenfassung der aktuellen Vollversammlung. Nach den Leitbild-Diskussionen stehen nun „Entscheidungen über seine künftige Gestalt und Arbeitsweise“ im ZdK an, informiert das ZdK. Unter anderem will man sich an einer Unvereinbarkeitsklausel für die Mitgliedschaft „für erklärte Feinde der Demokratie“ versuchen.
Premiere: Muslima gestaltet Weihnachtsmarke – Christoph Strack (Deutsche Welle)
Mahbuba Maqsoodi ist die erste Frau überhaupt, die es mit einem Kunstwerk auf eine deutsche Weihnachtsbriefmarke schafft. Die Münchnerin stammt aus Afghanistan. Das diesjährige Motiv erzähle auch eine Geschichte über kulturellen Reichtum, erklärt Christoph Strack bei der Deutschen Welle. Die Briefmarke könnte man ja zum Anlass nehmen, im Advent und zu Weihnachten mal wieder Briefe und Grußkarten zu verschicken.
Maqsoodi ist Muslima. Und bekennende Humanistin. Sie male für alle Menschen, völlig losgelöst vom Standpunkt ihres jeweiligen Glaubens. Das kaum fünf Jahre alte „Weihnachtsfenster“ der Abteikirche Tholey ist für sie ein Bild von „Himmlischem Licht“. Das Motiv hat es nun auf die Sonderbriefmarke geschafft. „Der Weg der Interpretation ist frei. Das ist das Schöne an einem jeden Kunstwerk“, sagt sie. […]
Bereits vor knapp zwei Jahren meldete sich die evangelische Kirche, die im jährlichen Wechsel mit der katholischen Kirche dem [Bundesministerium der Finanzen] ein Motiv vorschlägt, bei Maqsoodi und erkundigte sich danach, ob sie das Weihnachtsfenster von Tholey empfehlen dürfe. Dann gab es den üblichen Wettbewerb zur grafischen Gestaltung. Das Dortmunder Grafiker-Ehepaar Susanne Wustmann und Dieter Ziegenfeuter brachte das im Original über vier Meter hohe Fenster auf das Format einer Briefmarke: knapp 4,7 mal 3,5 Zentimeter.
Christoph Strack zeichnete in dieser Woche ebenfalls bei der Deutschen Welle die Geschichte der Sanierung der St. Hedwigs-Kathedrale in (Ost-)Berlin nach.
Rechtsfreie Zone Beichtstuhl: Soll das Beichtgeheimnis abgeschafft werden? – Uwe Birnstein (BR, 24 Min)
In dieser Episode von „Religion – Die Dokumentation“ des Bayerischen Rundfunks geht Uwe Birnstein Anspruch und Praxis des Beichtens nach. Nicht nur im Kontext der Missbrauchskrise ist die Beichtpraxis in der römisch-katholischen Kirche fragwürdig geworden. Welche Brisanz das Beichtgeheimnis trotz des Wandels in der Beichtpraxis hat, versucht die Audio-Dokumentation des BR in Gesprächen mit Priestern, Seelsorgerinnen und Missbrauchsbetroffenen zu ergründen.
Bereits im vergangenen Jahr berichtete Valerie Schaub für die Hessische / Niedersächsische Allgemeine über die Beichtpraxis in katholischen Gemeinden. Dirk Gärtner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Regensburg, schrieb im August 2024 auf katholisch.de über den Mangel an Beichten: Nur knapp über die Hälfte der Priester beichte wenigstens einmal im Jahr. Wie sieht es da erst beim Kirchenvolk aus?
Faktencheck zum Kinostart: Was im „Konklave“-Film stimmt und was nicht – Benedikt Heider, Felix Neumann (katholisch.de)
Bei katholisch.de unternehmen Benedikt Heider (hier in der Eule) und Felix Neumann einen zum Glück nicht vollständig ernsthaften Versuch, den neuen Vatikan-Unterhaltungsfilm „Konklave“ mit Ralph Fiennes (bekannt als Voldemort in den „Harry Potter“-Verfilmungen und Amon Göth aus „Schindlers Liste“), einem „Faktencheck“ zu unterziehen. Zum Glück ist die kulturkämpferische Verachtung von Kunst und Kunstfreiheit, die sich in reaktionären – dare I say it – rechtskatholischen Milieus breitmacht, (noch) nicht bei katholisch.de angekommen.
Insgesamt zeigen die Filmemacher eine große Liebe zum Detail – und auch wenn es überraschen mag: die Schlusspointe des Films ist längst nicht so abwegig, wie sie manchem erscheinen mag. Worum es dabei konkret geht, soll an dieser Stelle aber noch nicht verraten werden.
Theologie
Das Zerrbild aufbrechen: Ein interreligiöses Buch über die Pharisäer – Thomas Klatt (DLF)
Thomas Klatt berichtet für den Deutschlandfunk von einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie zu Berlin über die Pharisäer. Ich kenne die Pharisäer schon von der Christenlehre und aus dem Kindergottesdienst her: Bestimmt ohne Absicht, aber häufig eben als Gegenbild zur Verkündigung Jesu. Noch heute gelten Pharisäer nicht selten „als heuchlerisch und arrogant, als verschlagen und vor allem dem Anschein nach gesetzestreu“, erklärt die Akademie. Das antijüdische Stereotyp habe bis heute verheerende Auswirkungen.
Dabei gab es keine scharfe Trennlinie zwischen den Jesus-Anhängern und den Pharisäern, betont der Berliner Neutestamentler Jens Schröter. Auch der Apostel Paulus sei ein Pharisäer gewesen und habe sich auch, nachdem er die Lehre Jesu verbreitete, noch so bezeichnet. Schröter hat gemeinsam mit Amy-Jill Levine und Joseph Sievers ein neues Buch über die Pharisäer herausgegeben. Die zahlreichen Beiträge des Bandes unternehmen „eine multidisziplinäre Einschätzung dessen, wer die Pharisäer tatsächlich waren, was sie glaubten und lehrten und wie sie im Laufe der Geschichte dargestellt wurden“.
Ein guter Satz
„Nach Kraft ringen. Das klingt alles so dramatisch. Man tut eben, was man kann und legt sich dann schlafen. Und auf diese Weise geschieht es, daß man eines Tages etwas geleistet hat.“
– Paula Modersohn-Becker, zitiert nach diesem Bluesky-Post
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