Analyse Die Kirchen in der Migrationsdebatte

Überrascht nicht, interessiert doch

CDU und CSU bringen mit Anträgen zur Migrationspolitik die Kirchen gegen sich auf. Der Einspruch der Kirchen interessiere nicht, heißt es aus der Spitze der Fraktion. Doch was fordern die Kirchen eigentlich?

Mit zwei Stellungnahmen haben sich die Kirchen in die eskalierende Migrationsdebatte eingemischt. In dieser Woche werden im Deutschen Bundestag mehrere Anträge zur Migrationspolitik verhandelt. Die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf die Anträge der CDU/CSU, weil deren Fraktions- und Parteiführungen eine Zustimmung zu ihren Anträgen durch die rechtsradikale AfD billigend in Kauf nimmt. Bereits am Mittwoch sollen zwei Entschließungsanträge der Union verhandelt werden, am Freitag dann der Gesetzesvorschlag zu einem „Zustrombegrenzungsgesetz“, das bereits im Herbst im zuständigen Ausschuss des Bundestages gescheitert war.

Am vergangenen Samstag warnte die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Anna-Nicole Heinrich, auf der „Lichtermeer“-Demonstration gegen den Rechtsruck in Berlin davor, gemeinsame Sache mit der AfD zu machen: „Alle reden von Brandmauer, zuallererst brauchen wir Anstand. Wer Anstand hat, macht keine Sache mit Rechtsextremen. Wer Anstand hat, hält Abstand. Und zwar den größtmöglichen.“ Heinrich wendete sich direkt an den Kanzlerkandidaten der Union und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz: Das Abstandsgebot gelte „im Parlament und überall“.

Am Dienstag dieser Woche versendeten dann das Katholische Büro in Berlin, vertreten durch Prälat Karl Jüsten, und die Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Prälatin Anne Gidion, eine gemeinsame Stellungnahme zu den Anträgen der Unionsfraktion (PDF) an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der ein gepefferter Mahnbrief beigestellt wurde. Brief und Stellungnahme liegen der Eule vor.

Die Büros der beiden großen Kirchen beziehen regelmäßig Stellung zu aktuellen Gesetzgebungsverfahren. Kirchliche Stellungnahmen werden in parlamentarische Anhörungsprozesse eingebracht und im persönlichen Gespräch und gelegentlich auch schriftlich den Abgeordneten gegenüber vorgebracht. Grundlage der Stellungnahmen der kirchlichen Prälaten ist die jeweilige Beschlusslage in ihren Kirchen, d.h. in der Deutschen Bischofskonferenz und in der EKD.

„Überrascht nicht, interessiert nicht“

In der Migrations- und Flüchtlingspolitik vertreten beide Kirchen seit mindestens zehn Jahren gleiche Positionen und bringen diese immer wieder auch gemeinsam zu Gehör. Neben aktuellen Beschlüssen von DBK und EKD gehört das Gemeinsame Wort „Migration menschenwürdig gestalten“ (PDF) von 2021 zur Grundlage der politischen Arbeit der Kirchen auf diesem Themenfeld (s. hier, hier & zuletzt hier in der Eule).

Die gemeinsame Stellungnahme und der Begleitbrief wurden von Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Medien und der Öffentlichkeit zugeleitet und sind nun also in dieser chaotischen Berliner Sitzungswoche ebenfalls Gegenstand der Debatte. Der Brief der Prälaten enthält die Bedenken der Kirchen bezüglich der eskalierenden Migrationsdebatte, in ihrer gemeinsamen Stellungnahme formulieren die Kirchenbüros vor allem juristische Vorbehalte bezüglich der Anträge der CDU/CSU-Fraktion.

Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Steffen Bilger (CDU), der selbst evangelisch und direkt gewählter Abgeordneter für Ludwigsburg (Baden-Württemberg) ist, wies die Stellungnahme schroff zurück: „Überrascht nicht, interessiert nicht.“ Natürlich ist die Kritik der Kirchen an der Eskalation der Migrationsdebatte weder neu noch überraschend, sie tragen sie beständig seit mindestens 2014 vor. Auch die Einsprüche der Kirchen zum aktuellen Gesetzesvorschlag der Union sind bekannt, die kirchlichen Büros hatten sie bereits zur Anhörung im Herbst 2024 vorgebracht. Einmal abgesehen aber vom Staunen darüber, welcher Stil sich offenbar tief im Herzen der Union im Umgang mit kirchlichen Stellungnahmen etabliert hat, lohnt ein Blick darauf, was genau laut Fraktionsspitze der Union „nicht interessiert“.

Eine gefährliche Debatte

Dass die Bedenken der Kirchen so kurz vor der Bundestagswahl in dieser Form vorgebracht werden, ist bemerkenswert und zeigt, wie ernst die Kirchen die Lage einschätzen. Gidion und Jüsten schreiben in ihrem Brief, dass „Zeitpunkt und Tonlage der aktuell geführten Debatte“ sie „zutiefst befremden“. Die Debatte führe dazu, „alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren“, und trage „nicht zur Lösung der tatsächlich bestehenden Fragen bei“.

Tatsächlich kommt es derzeit in Folge des Attentats von Magdeburg in der Stadt und in ganz Deutschland vermehrt zu gewalttätigen Angriffen gegenüber Migrant:innen und Geflüchteten. Es geht nicht allein um die Frage, in welchem Stil die politische Auseinandersetzung geführt wird, sondern um deren Konsequenzen für die Sicherheit von Menschen, die in Deutschland beheimatet sind oder Zuflucht suchen.

Dass die Union sich hierbei weit aus dem kirchlich erwünschten Rahmen herauslehnt, ist in den vergangenen Tagen erneut deutlich geworden: Statt das Schicksal geflüchteter Menschen und Migrant:innen in den Blick zu nehmen, spricht die Union von einem „Zustrom“ von Geflüchteten, verbreitet Falschdarstellungen und formuliert undurchführbare populistische Forderungen – offenbar ohne die Folgen für die Demokratie und das Vertrauen in staatliche Institutionen ausreichend mitzubedenken.

Die Prälaten machen deutlich, dass sie dies für eine unangemessene Reaktion auf die Attentate von Magdeburg und Aschaffenburg halten und weisen darauf hin, dass beide Gewalttaten durch die von der Union vorgeschlagenen Maßnahmen nicht verhindert worden wären. Die Taten seien von „offenbar psychisch kranken Personen begangen worden“ und zeigten „aus Sicht der Kirchen“, ein „Defizit hinsichtlich des Informationsaustausches unterschiedlicher Behörden und einen eklatanten Mangel an adäquater Versorgung psychisch Kranker“. In ihrem Brief erklären Gidion und Jüsten: „Die nun vorgeschlagenen Verschärfungen sind nicht zielführend, vergleichbare Taten zu verhindern und tragfähige Antworten auf das öffentliche Sicherheitsbedürfnis zu geben.“

Die Union nimmt Rechtsbrüche in Kauf

Ebenso „nicht interessiert“ ist die Unionsfraktion offenbar an den Einsprüchen, die von den Kirchenbüros in der Stellungnahme zu den Anträgen formuliert werden. Die in den Anträgen vorgeschlagenen Maßnahmen seien „nicht geeignet, zur Lösung der anstehenden migrationspolitischen Fragen beizutragen“, formulieren die Prälaten.

Die harrsche Zurückweisung vonseiten der Fraktionsführung darf erstaunen, weil die Kirchenbüros in der Stellungnahme durchgehend auf geltende Gesetze und weitere juristische Hürden hinweisen. Dass es in Unionskreisen zunehmend weniger Respekt für die kirchliche Einrede von Menschenwürde und Besonnenheit gibt: geschenkt. Dass CDU/CSU offenbar bereit sind, an rechtsstaatlichen Prinzipien vorbei Politik zu machen, stellt eine neue Qualität des Rechtsrucks in Deutschland dar.

Die beiden Prälaten der Kirchen weisen in ihrem Schreiben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nämlich auf eine Reihe von Rechtsübertretungen hin, die mit dem Entwurf der Unionsfraktion für ein „Zustrombegrenzungsgesetz“ verbunden sind. Sie erklären, dass das von der Union vorgeschlagene Verbot des Familiennachzugs für Menschen mit subsidiärem Schutz gegen das Grundgesetz, die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Europäische Menschenrechtskonvention und geltendes Europarecht verstößt. Der Schutz der Familie sei kein „Deutschengrundrecht“, sondern stehe auch Menschen mit subsidiärem Schutz zu. Diesen Schutzstatus erhalten Menschen in Deutschland, wenn sie in ihrer Heimat von Gewalt und Krieg bedroht sind.

Sollte der Vorschlag der Unionsfraktion Gesetz werden, könnten betroffene Menschen womöglich erst nach fünf Jahren mit einer Zusammenführung ihrer Familien rechnen. Der Familiennachzug gehört zu den unumstößlichen Ecksteinen der kirchlichen Anwaltschaft für Geflüchtete und Migrant:innen. Familienzusammenführungen sind, um im Idiom von Friedrich Merz zu sprechen, nicht verhandelbar. In dieser Frage passt kein Blatt Papier zwischen die beiden großen Kirchen und Christ:innen höchst unterschiedlicher Frömmigkeiten und Kirchenzugehörigkeit. Die Kirchen setzen sich darum auf allen Ebenen für eine Beibehaltung oder Ausweitung des Familiennachzugs in der europäischen und nationalen Gesetzgebung ein.

In ihrem Schreiben weisen Gidion und Jüsten auf den Wert der Familie an sich hin und verweisen darauf, dass der Schutz von Ehe und Familie auch der gesamten Gesellschaft zu Gute kommt. Ein intaktes Familienleben diene nicht zuletzt der Integration von Migrant:innen und Flüchtlingen in Deutschland. Zu diesen inhaltlichen Gründen für das Festhalten am Familienachzug tritt in ihrem Brief noch die Warnung an die Union hinzu, das Gefüge von nationalem und europäischen Recht nicht durch nationale Alleingänge zu zerschlagen: „Die EU beruht im Wesentlichen darauf, dass für gemeinsame Schwierigkeiten gemeinsame Lösungen gefunden werden, nationale Alleingänge zerstören auf Dauer das Fundament der Europäischen Union.“

Damit beziehen sich Gidion und Jüsten auf den Inhalt zweier Anträge der CDU/CSU-Fraktion, die am Mittwoch im Deutschen Bundestag verhandelt werden sollen. In ihnen fordert die Union unter anderem dauerhafte Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen und unbegrenzte Haft für ausreisepflichtige Flüchtlinge. Diese Forderungen verletzen in den Augen der KirchenvertreterInnen nicht nur die „Grundpfeiler der Europäischen Union“, sondern sind ihrer Auffassung nach auch „rechts- bzw. verfassungswidrig“. Anders als der Gesetzesvorschlag zum „Zustrombegrenzungsgesetz“ entfalten die Entschließungsanträge der Union von Mittwoch, selbst wenn sie eine Mehrheit finden sollten, keine weitere Wirkung.

Ein durchsichtiges Wahlkampfmanöver?

Auch dem „Zustrombegrenzungsgesetz“ wäre, selbst wenn es dank der AfD die Zustimmung einer Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestags fände, keine Zukunft beschieden: Mehrere Bundesländer haben bereits signalisiert, dem Gesetz im Bundesrat nicht zustimmen zu wollen. Warum unternimmt die Unionsfraktion unter Inkaufnahme der Zustimmung der Rechtsradikalen trotzdem den Versuch, die ohnehin schon restriktive Migrationspolitik der Ampel-Regierung erneut zu verschärfen?

Der in Bedrängnis geratene CDU/CSU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz will durch eine weitere Verschärfung von Rhetorik und Politik der AfD das Wasser in der Migrationsdebatte abgraben. Bereits in den vergangenen beiden Jahren war Merz mit solchen Versuchen jedoch gescheitert (s. hier & hier in der Eule). Auch in diesen Tagen scheint es, als ob die weitere Eskalation der Migrationsdebatte im Bundestagswahlkampf vor allem auf das Konto der AfD einzahlt. Mögliche Reaktionen in der Wähler:innschaft auf das parlamentarische Zusammenwirken mit der AfD sind dabei noch gar nicht eingepreist.

Wie bereits die Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, warnen auch die Prälaten der beiden großen Kirchen ausdrücklich vor diesem Tabubruch, der zugleich einen Bruch des Versprechens von Friedrich Merz vom Herbst 2024 darstellt, bis zur Neuwahl des Bundestages keine gemeinsame Sache mit der AfD zu machen. Noch vor wenigen Tagen schloss Merz zudem eine Koalition mit der AfD nach der Bundestagswahl kategorisch aus. „Die Fraktionen haben sich mit der Auflösung der Ampelkoalition darauf verständigt,“ erinnern Gidion und Jüsten in ihrem Brief, „keine Abstimmungen herbeizuführen, in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend sind“: „Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird.“


Update, 29.1.2025, 18:30 Uhr:

Einem der beiden Entschließungsanträge der CDU/CSU-Fraktion stimmte am heutigen Nachmittag eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu (348 Ja-Stimmen, 345 Nein-Stimmen, 10 Enthaltungen). Der Antrag enthält unter anderem die Forderungen nach einer dauerhaften Inhaftierung ausreisepflichtiger Personen, nach dauerhaften Grenzschließungen und Zurückweisungen „aller Versuche illegaler Einreise“ (Drucksache 20/14698). Der zweite Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion (Drucksache 20/14699) wurde mit großer Mehrheit abgelehnt (190 Ja-Stimmen, 509 Nein-Stimmen, 3 Enthaltungen).


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