Kolumne Tipping Point

Wachstum gegen die Zangenkrise?

In unserer neuen Kolumne „Tipping Point“ schreibt Tobias Foß über die sozio-ökologische Wende. Können Christ:innen und Kirchen ein „Vortrupp des Lebens“ beim Wandel zu einer neuen Wirtschaftsordnung sein?

„Die Krisen erreichen Kipppunkte, von denen aus eine Rückkehr zum vorherigen Stadium nicht mehr möglich ist: Die Gletscher sind weg, Meere auf Jahrtausende übersäuert, Agrarflächen erodiert, Urwälder abgeholzt und das Grundwasser verbraucht.“
(Alex Demirović)


Eisiger Winter in Nordamerika, Waldbrände im Harz, Überschwemmungen in Pakistan – das Klima verändert sich schnell und es hinterlässt für unser Leben gravierende Folgen. In dieser Kolumne geht es um Kipppunkte – englisch: tipping points –  um einschneidende Wendepunkte in unserer Umwelt und in unserem Zusammenleben.

Generell gilt der Klimawandel als „menschengemacht“. Doch eigentlich müssten wir genauer sein: Es ist nicht einfach das Wesen „Mensch“, das per se die Erde bis zum Rande der Erschöpfung in sich verschlingt. Viel eher sind die Ursachen für die gegenwärtigen Schieflagen in unserem Wirtschaften zu sehen. Die Umwelt kippt, weil sie ausgebeutet wird.

Daher bezeichnen etwa Soziologen wie Jason Moore unsere gegenwärtige Zeit als „Kapitalozän“. Sie meinen damit, dass unsere kapitalistisch-orientierte Wirtschaftsweise Mensch und Umwelt grundlegend prägt und verändert. Der Kapitalismus geht mit einer klaren Zielsetzung einher: Die Märkte sollen sich über alle Ressourcen frei entfalten, vermeintlich freie Wettbewerbe entstehen und mehr und mehr Lebensbereiche – wie etwa Gesundheit, Wohnen, Bildung, Natur und Erholung – in private Hände gegeben werden. Dies geht mit weltweiten sozialen Spannungen einher. Vor allem aber gibt es in Hinblick auf Schöpfungsgerechtigkeit immense Verwerfungen, denn der Kapitalismus muss stetig wachsen:

„Es entfaltet sich ein auf grenzenloser Akkumulation basierendes System der Produktion für anonyme, weitgehend selbstregulierte Märkte. Geleitet durch eine ins Unendliche zielende Bewegung der Gewinnmacherei ist sein Wesensmerkmal die Maßlosigkeit – begründet im Geld als Kapital, das immer einen Überschuss erwirtschaften […] muss.“ (Birgit Mahnkopf)

Unser Wirtschaftssystem, das permanent wachsen muss, verbraucht immer mehr Ressourcen – anders ausgedrückt: Das Wirtschaftswachstum konnte bisher vom Ressourcenverbrauch nicht entkoppelt werden. „Und so verschlingt es schonungslos, worauf es eigentlich seine Existenz gründet.“ (Nancy Fraser) Selbst wenn technologische Fortschritte – wie etwa im Automobilbereich – erreicht werden konnten, werden die Autos gleichzeitig größer, breiter und technisch komplexer. Das Erreichte kehrt sich ins Gegenteil um („Rebound-Effekte“).

Das Wachstum macht keinen Halt. Jedes System, jeder Bodenschatz, jede Ressource muss zu größeren Produktionen führen. Dies ist auch der Grund, warum etwa die Transformation in der Fleischbranche so schleppend vorangeht. Ein System, das mehr Fleisch produzieren und verkaufen muss, lässt sich nicht so einfach auf „bio“, „nachhaltig“, „regional“ und „klein“ umstellen.

Von daher stellen sich Fragen: Genügen unsere technische Revolutionen? Können wir einfach weiterwachsen, mehr E-Autos fahren, „E-Fuels“ entwickeln, mehr Windräder aufstellen und die Klimakatastrophe so verhindern? Kann ein ungebändigtes Wachstum mit grüner Ummantelung die adäquate Lösung sein? Oder befinden wir uns in unserem (ökonomischen) Zusammenleben mitten in tipping points?

Neue Kolumne „Tipping Point“

In unserer neuen Kolumne „Tipping Point“ schreibt Tobias Foß über die sozio-ökologische Transformation. Welchen Beitrag können Christ:innen und Kirchen leisten? Welche Probleme müssen bewältigt werden? Welche Kipppunkte gilt es in Theologie und Glaubensleben wahrzunehmen?

Mit „Tipping Point“ wollen wir in der Eule an Fragestellungen im Licht der Klimakrise dran bleiben. Dabei stehen nicht allein Klima- und Umweltschutz im Zentrum, sondern auch die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung auf unser Zusammenleben. Die Klimakrise verändert schon jetzt unsere Gesellschaft(en). In „Tipping Point“ geht Tobias Foß diesen Veränderungen auf den Grund und beschreibt Ressourcen und neue Wege.

Das Märchen vom grünen Wachstum

Der Theologe Bruno Kern ist in Hinblick auf ein einfaches „Weiter so!“ sehr skeptisch. In seinem Buch „Das Märchen vom grünen Wachstum“ hält er fest: Der Wachstumszwang – „im Bild gesprochen: ein Fahrrad, das sich beständig vorwärtsbewegen muss, um im Gleichgewicht zu bleiben – stellt einen unauflösbaren Widerspruch zum Ziel der Ressourcenschonung und der Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen dar“. Dies gilt in Anbetracht der bestehenden ökologischen Zangenkrise umso mehr: Wir müssen einerseits CO2 einsparen. Um das zu erreichen, werden zukünftig immer weniger Ressourcen zur Verfügung stehen.

Sicherlich gilt, dass etwa die Befürchtungen des Club of Rome aus dem Jahr 1972, in 20 Jahren werde kein Erdöl mehr sein, nicht eingetroffen sind. Doch das bestehende Niveau an Erdölangebot kann nur gehalten werden, weil immer größere Umweltbelastungen in Kauf genommen werden. Vor 20 Jahren stand man etwa dem Fracking – gerade aus Umweltgründen – viel skeptischer gegenüber. Heute werden die immensen Umweltschäden wie Verunreinigung von Oberflächen- und Grundwasser aus Profitgründen billigend in Kauf genommen. Unabhängig davon, wie lange das Erdöl-Förderniveau hoch gehalten werden kann – generell bleibt die Einsicht: Auf einem endlichen Planeten mit endlichen Ressourcen kann nicht unendliches Wachstum stattfinden.

Die Kirche als „Vortrupp des Lebens“?

Wir brauchen neue Wege, um die bestehenden Probleme lösen zu können. Können hierbei die Kirchen eine wichtige Rolle als „Vortrupp des Lebens“ (Helmut Gollwitzer) spielen? Können sie eine Idee von einem anderen wirtschaftlichen Zusammenleben entwickeln, in die Gesellschaft vermitteln und als Keimzellen wirken? Institutionell scheint es hier große Herausforderungen zu geben, denn es gilt: Brummt die Wirtschaft, sprudeln die Steuern des Staates und die Kirchensteuern florieren. Es gibt also durchaus ein Interesse der Institution Kirche daran, dass die Wirtschaft wie bisher weiterwächst und alles so bleibt, wie es ist. Gleichzeitig sehen wir dazu kirchliche Gegenbewegungen.

Ob Bildungsmaterialien von Brot für die Welt („Global Lernen“, online), Thinktanks wie der „Ökumenische Prozess Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten“ (mehr), die Umweltbeauftragten der verschiedenen Landeskirchen, nachhaltige Sanierungen der kirchlichen Gebäude (etwa „Grüner Hahn“) und das ehrgeizige Ziel, selbst als Organisation CO2–neutral zu agieren – die Kirche will Impulse setzen.

Und auch in den Positionierungen und Denkschriften der Evangelischen Kirche vermehrt sich die Kritik an gegenwärtige kapitalistische Eskalationsspiralen (etwa „Gerechte Teilhabe“ (2006, PDF) oder „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ (2015, online). Die Schrift „Auf dem Weg zu einem gerechten und nachhaltigen Finanzsystem. Eine evangelische Orientierung für Reformschritte zur sozial-ökologischen Transformation der Finanzwirtschaft“ (2021, PDF) wurde sehr deutlich in ihren Transformationsbemühungen. Entgegen einem reinen quantitativen Wachstumsverständnis, wird hier für eine qualitative Einsicht geworben (s. S. 145-151). Nicht das Bruttoinlandsprodukt dürfe alleinige Richtschnur dafür sein, ob unsere Wirtschaft gut funktioniert. Viel eher müssen Marker wie Zufriedenheit, Umweltschutz und vor allem das Gemeinwohl im Vordergrund stehen.

Auch die letzte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe im Herbst 2022 (wir berichteten) warnte in ihrem Abschlussdokument „Der lebendige Planet“ dringlich vor einer neuen „grünen“ Kolonialisierung, die sich global durchsetzt. Einem grünen Wachstum, in dessen Zuge Industrieländer billig Rohstoffe aus armen Ländern importieren und Ausbeutungsverhältnisse zementiert werden, soll so ein Riegel vorgeschoben werden.

Verbündete suchen

Kapitalismuskritische Einsichten tauchen, wie wir sehen, in der kirchlichen Landschaft an vielen Stellen auf. Sie ringen um eine andere und neue Wirtschaftsweise, die ein gutes Leben für alle Menschen im Ausgleich mit der Schöpfung ermöglichen sollen. Darin hat kirchliches Handeln inhaltliche Verflechtungen mit links-politischen Netzwerken (wie ich im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt geschrieben habe).

Es geht um eine Demokratisierung unserer wirtschaftlichen Entscheidungen. Nicht diejenigen dürfen über die knapper werdenden Ressourcen bestimmen, die das meiste Geld bieten, sondern Entscheidungen müssen in demokratischen Aushandlungsprozessen getroffen werden. In ihnen muss entschieden werden, wofür die knapper werdenden Mittel unserer Natur eingesetzt werden. Genau an dieser Stelle verwenden einige Soziologen den stark vorbelasteten Terminus „Sozialismus“:

„Exakt dies, die umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen ist der zentrale Inhalt eines Sozialismusverständnisses, das nach maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung strebt.“ (Klaus Dörre)

Selbstverständlich ist der Sozialismusbegriff angreifbar und höchst problematisch. Die real existierenden sozialistischen Staaten sind weitestgehend gescheitert und haben Menschenrechte ausgehöhlt. Ich würde sagen: Anstatt Gesellschaften aufzubauen, in denen sich das biblische Motiv von Egalität und Autonomie für alle Menschen durchsetzt (Ton Veerkamp), sind totalitäre Systeme entstanden. Es bedarf verschiedener Werkzeuge, um solchen Entwicklungen entgegenzutreten (etwa die Beibehaltung des Prinzips von checks and balances).

Weil es für die Transformation unserer Gesellschaft starke Bündnisse braucht, schlage ich im kirchlichen Umgang mit linken (sozialistischen) Netzwerken vor, zwischen dem Zentrum praktischen Handelns und zahlreichen historischen Missbräuchen zu unterscheiden. Um es zu verdeutlichen: Innerkirchlich wird etwa argumentiert, dass historische Entwicklungen wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Konfessionskriege, missionarischer Kolonialismus und die Deutsche Christen im Nazi-Regime zwar anzuprangern und zu kritisieren, jedoch von der „Sache“ zu unterscheiden sind. Gottes Befreiungsbewegung als Umwälzung im menschlichen Leben und in der Welt gehe nicht in ihren Missbräuchen auf.

Vielleicht könnte eine solche Argumentationsfigur auch auf linkspolitische Netzwerke Anwendung finden? Der Vorteil wäre, dass Begegnung und Solidarisierungsverflechtungen zwischen zwei Partnern entstehen können, die sich oft kritisch kontaktlos Gegenüber stehen. Sie zeigen gerade in der Hoffnung und im Engagement eines lebenswerteren Zusammenlebens für alle Menschen (Utopie = Noch-nicht-Ort) zahlreiche Familienähnlichkeiten (mehr dazu in der letzten Ausgabe von Christ und Sozialist/Christin und Sozialistin).

Auf geht’s!

Wie auch immer man sich zu Begrifflichkeiten wie „Sozialismus“, Dewgrowth, solidarische Ökonomie usw. verhält, es bleibt festzuhalten, dass die Forderung nach einer grundlegenden – ja revolutionären – demokratischen Umwälzung unserer Wirtschaftsweise in der Kirche vorkommt – gerade im Angesicht der Klima- und Ökologiekataststrophe.

Die Frage lautet: Agiert Kirche in diese Richtung radikal genug? Und überhaupt: Wie können Schritte für die sozio-ökologische Transformation aussehen? Wie kann Wachstum dazu führen, dass es dem Leben und dem Gemeinwohl dient? Oder müssen wir nicht letztlich in bestimmte Bereiche Verzicht üben, weil wir weit über Nachhaltigkeits- und Klimaziele hinausleben? Diese und weitere Fragen werden in der Kolumne „Tipping Point“ verhandelt. Ich freue mich darauf und auf Eure Hinweise, Ratschläge und Kommentare!

Gewiss wird Gott selbst (so hoffe ich jedenfalls) irgendwann sein Himmelreich auf Erden endgültig aufstellen – doch bis dahin haben sich Christenmenschen auf den Weg zu machen und sich für eine neue und andere Welt einzusetzen – jenseits einseitiger Wachstumszwänge und -logiken im Kapitalozän. Auf geht’s!


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