Interview Kirche und Rechtextremismus

„Die Ängste der Menschen müssen ausgesprochen werden“

Der sächsische Landesbischof Tobias Bilz im Gespräch über die Demokratie im Osten, Zuwanderung, und LGBTQI* in der Kirche. Vor welchen Herausforderungen stehen Gesellschaft und Kirche?

Eule: Herr Landesbischof, im nächsten Jahr finden in Sachsen sowohl Kommunal- als auch Landtagswahlen statt. Die jüngsten Umfragen weisen die AfD als stärkste Partei aus. Wie erklären Sie sich das massive Umfragehoch der Partei?

Bilz: Ich denke, wir haben es mit einem Bündel von Gründen zu tun. Unter ihnen nicht zuletzt, dass es unter uns Ostdeutschen viele Menschen gibt, die kein Grundvertrauen in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung haben. Mir kommt es tatsächlich so vor, dass die Nachwirkungen der beiden Diktaturen, die wir hier im Osten hatten, ein spezielles Verhältnis zum Staat hervorgebracht haben, das weitervererbt wird.

Eule: Was meinen Sie mit einem „speziellen Verhältnis zum Staat“?

Bilz: Wir identifizieren uns nicht mit dem Staatswesen, sondern wir bewerten es. Wir betrachten es wie von außen. Wenn wir das Gefühl haben, dass etwas schief läuft, dann treten wir nicht etwa in einen Diskurs ein, sondern dann wollen wir etwas ganz Anderes haben. Das sind schon Verhaltensweisen, die den Menschen während der Diktatur eingezeichnet wurden und uns häufig nicht bewusst sind. Bis zu 80 % der Sachsen sagen, dass sie mit Politik gar nichts zu tun haben wollen. Politik, die machen „die da oben“. „Die“ habe ich vielleicht gewählt oder nicht, aber ich schaue mir das nur an. Eine freiheitlich-demokratische Ordnung funktioniert so nicht.

Eule: Seit der Wiedervereinigung sind inzwischen 33 Jahre vergangen. Wenn wir auf die letzte Landtagswahl zurückschauen, müssen wir feststellen: Die AfD wurde über alle Altersgruppen hinweg gewählt, nicht nur von denjenigen, die Diktaturerfahrung haben. Und bei der Wahlentscheidung für die AfD geht es auch nicht „nur“ um Indifferenz gegenüber der Demokratie, sondern um deren Ablehnung.

Bilz: Die Ablehnung der Demokratie ist da. Da braucht man gar nicht drumherum zu reden. Das müssen wir als Phänomen erstmal zur Kenntnis zu nehmen. Das ist, glaube ich, auch einer der größten Schmerzen, den wir gerade aushalten müssen: Dass wir das eben nicht wie einen Fleck behandeln können, den man nur gescheit wegwischen muss.

Es kommt noch etwas Weiteres hinzu: Ich war 1989 27 Jahre alt und habe also in der DDR wie viele andere Ostdeutsche auch gelernt, was Agitation bedeutet: Wie es sich anfühlt, wenn irgendwer versucht, an meiner Meinung zu arbeiten, mit Plakaten oder im Staatsbürgerkundeunterricht. Nicht wenige Menschen haben sich dem entzogen, oft durch den Rückzug in eine innere Welt. Ich habe Sorge, dass die Art und Weise, wie wir rechtes Gedankengut bekämpfen wollen, bei manchen Menschen den gleichen Reflex auslöst. Es gibt viele, die sich Gesprächen entziehen, weil sie wissen, da wird jemand versuchen, sie zu überzeugen. So funktioniert es offenbar nicht.

Eule: Wenn es so nicht funktioniert, was soll man denn stattdessen tun?

Bilz: Ich kann nur sagen, was meine persönlichen Ansätze sind. Das eine ist: Faktenklarheit herstellen. Ich nenne hier beispielhaft nur einen Fakt: Die allgemeine Rede, dass die meisten Migranten, die zu uns kommen, alleinstehende Männer sind, stimmt einfach nicht. Als Zweites ist mir wichtig, dass ich nicht voreilig auf persönliche Distanz gehe. Als Theologe orientiere ich mich an dem, was von Jesus von Nazareth erzählt wird. Er hatte überhaupt keine Sperre, mit denjenigen zu sprechen, die in der damaligen Gesellschaft als unmöglichste Typen verrufen waren. Wenn es bei uns in der Kirche nicht möglich ist, dass man beieinander bleibt trotz aller Widersprüche, dass man offen aussprechen kann, was man denkt, dann wird sich das irgendwo anders Blasen suchen und schlimme Nebenwirkungen haben.

Eule: Wenn ich mir die Umfragen anschaue, dann ist es doch vielmehr so, dass da ein „Linksruck“ imaginiert wird, der überhaupt nicht stattfindet. Im Osten gibt es stattdessen eine konservativ-rechte Hegemonie. Braucht es unter diesen Bedingungen wirklich die Kirche als „Schutzraum“ für Menschen, die an einem traditionellen Familienbild festhalten, die gegen das Gendern sind und für den Lebensschutz eintreten?

Bilz: Das Wort „Schutzraum“ in diesen Zusammenhang zu stellen, befremdet mich. Es handelt sich bei diesen Menschen ja nicht um Pflanzen oder Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Ich möchte gerne, dass bei uns in der Kirche eine Atmosphäre herrscht, in der Menschen sagen können, was sie wirklich denken, und in der wir das aushalten lernen.

Eule: Eine Kirche, in der alles gesagt werden kann, schließt aber Menschen aus, die sich nicht in Situationen begeben wollen, in denen sie mit ihrer ganzen Existenz in Frage gestellt werden, z.B. wenn bei einem Gemeindeabend zu LGBTQI*-Themen offen diskriminiert wird.

Bilz: Wir brauchen ein paar Punkte, von denen wir sagen: Die sind vom Evangelium aus gesetzt. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“, heißt es im Galaterbrief. Wir können das heute so formulieren: Es kommt nicht darauf an, ob jemand Mann oder Frau ist oder welche sexuelle Orientierung man hat, welcher Nationalität man ist. Wir sind zusammen, weil wir uns auf Jesus Christus beziehen. Die Kirche ist ihrem Wesen nach immer universell. Wir können weltweit gerade beobachten, was passiert, wenn Kirchen zum Beispiel ins Nationalistische abgleiten. Es geht immer schief! Als zweiten Punkt müssen wir klarstellen, dass Jesus Christus sich vor allem den Menschen zugewandt hat, die nicht zum großen Mainstream der Gesellschaft gehört haben.

Eule: Dazu würde ja für die Mehrheit der Christ:innen in Deutschland gehören, wahrzunehmen, dass man selbst zum weißen Mainstream gehört. Ich habe in unseren Kirchen in Ost und West den Eindruck, dass man darin wenig Einsehen hat. Wir haben das anlässlich der Abschlusspredigt von Pastor Quinton Ceasar beim Kirchentag in Nürnberg wieder erlebt.

Bilz: Ich bin ganz bei denen, die sagen, möglicherweise ist die Mitte der Kirche nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern am Rand der Gesellschaft. Wo sind jene Menschen, die aufgrund eines Notstandes oder einer Eigenschaft, die sie von der Masse unterscheiden, abgelehnt und verachtet werden? Insofern ist das, was Quinton Ceasar auf dem Kirchentag gesagt hat – Einzelformulierungen will ich gar nicht bewerten -, natürlich eine Botschaft an uns, die nicht weit vom Evangelium weg ist, wenn er sagt: Ich bin Sprecher einer Gruppe, die einen sicheren Raum in der Kirche sucht und die fragt, ob sie diesen sicheren Raum in der Kirche hat.

Eule: Beim Kirchentag wurde das Themenfeld „LGBTQI* und Kirche“ zu einem der wichtigen Themen. Die Veranstaltungen dazu waren stark nachgefragt. Wie sieht das in der sächsischen Landeskirche aus?

Bilz: Es ist ein Thema, leider aber häufig unter der Fragestellung, was erlaubt ist und was nicht. Der persönliche Lebenswandel von Menschen unterliegt nicht meinem Richterspruch. Da hat etwas in unsere Kirche Eingang gefunden, was nicht dem Evangelium entspricht. Wir haben in der Kirche häufig die Einstellung, dass die Menschen bitte so sein sollen, wie wir sie gerne hätten, und wenn sie es nicht sind, dann gehören sie nicht dazu, dann sieben wir sie aus, weil wir eine Gruppe von Gläubigen sein wollen, die dem menschlichen Bedürfnis nach Gleichförmigkeit entspricht.

Jesus von Nazareth kommt mit der Botschaft, dass die Menschen so angenommen sind, wie sie sind. Er hat sie an sich herangelassen und darauf vertraut, dass die Prinzipien des Reich Gottes von ihm auf sie abfärben. Welchen Weg wollen wir gehen, unseren menschlichen oder den Evangeliumsweg? Menschen so anzunehmen, wie sie sind, ist Kernbestandteil des Evangeliums.

Eule: Im Osten nimmt sich doch kaum jemand als das wahr, was er de facto ist, nämlich als Teil einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die Flüchtlingen, People of Color und LGBTQI* gegenüber feindlich eingestellt ist.

Bilz: Manchmal ist man ja beides zugleich: Wir sind Opfer und machen andere zu Opfern. Das ist ja nichts, was sich gegenseitig ausschließt. Wenn ich in der EKD unterwegs bin, man mich dort noch nicht kennt und ich sage: „Ich bin Tobias Bilz und komme aus Dresden“, bekomme ich sofort die Frage: „Wie kann man denn in Dresden leben?“ Da haben Menschen auch ein fertiges Bild, in das sie mich einsortieren wollen. Aber das ist natürlich keine Entschuldigung dafür, andere zu Opfern zu machen.

Ich denke immer wieder an die Rede Jesu‘ vom Endgericht, wo die Böcke und die Schafe voneinander geschieden werden (Matthäus 25). Wir sind in Sachsen immer noch ganz stark unterwegs, nach Rechtgläubigkeit einzuteilen. Was ist richtig und was ist verkehrt? Was darf sein und was darf nicht sein? Das ist absolut dominant bei uns. Wir definieren den Glauben über Richtigkeit, während Jesus Christus den Glauben über Verhaltensweisen definiert. Jesus sagt: Wenn ihr die Fremden nicht aufnehmt, die Nackten nicht kleidet, die Gefangenen und Kranken nicht besucht und den Hungernden und Dürstenden nichts zu essen und zu trinken gebt, macht ihr euch des Gerichtes schuldig.

Eule: In Sachsen dominiert allerdings die Frage den politischen Diskurs, ob man sich „die Fremden“, also die Geflüchteten, überhaupt leisten kann. Wenn ich jetzt Matthäus 25 nehme, dann ist das eine Frage, die Christen nicht stellen sollten, oder?

Bilz: Ich bin ja Lutheraner. Nach der Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers regiert Gott die Welt auf zweierlei Weise: Durch die Kirche im geistlichen Bereich und auch durch staatliche Ordnungen. Wir werfen das aber häufig durcheinander.

Ich kann gut verstehen, wenn unser Ministerpräsident mehr Geld fordert, wenn wir in Sachsen mehr Geflüchtete aufnehmen sollen. Wir müssen auch über unsere Standards für gute Integration sprechen, denn die halten wir in guter Qualität im Moment nur mit einer bestimmten Anzahl von Menschen durch: Wo finden wir genügend guten Wohnraum? Können die Kinder auch zur Schule gehen? Wenn der Staat aus sachlichen Gründen sagt, wir brauchen gute Regelungen, um den geflüchteten Menschen, die bei uns ankommen, auch gerecht zu werden, ist das eine sinnvolle Diskussion.

Eine andere Frage ist, wie diese Anliegen formuliert werden. Man schürt natürlich Ablehnung, wenn man in die Diskussion einträgt, dass diejenigen, die neu herkommen, denjenigen etwas wegnehmen würden, die schon da sind, und sagt, es sei nicht genug für alle da. Da sollten wir als Kirche schon fragen: Moment mal, was werden hier für Haltungen gefördert, die am Ende auch zu Taten führen?

Eule: In Sachsen gibt es sogar Proteste gegen die Aufnahme von ehemaligen Ortskräften und ihren Familien aus Afghanistan. Die Bundeswehr war 20 Jahre lang in Afghanistan. Ich schäme mich angesichts von solchen Protesten und Angriffen, als Christ, als Deutscher, auch als Mensch, der in Sachsen groß geworden ist.

Bilz: Absolut. Das geht überhaupt nicht. Dafür gibt es keine Entschuldigung, auch aus dem Glauben heraus nicht. Wer etwas anderes sagt, ist nicht am Evangelium dran. Das muss man so deutlich sagen.

Eule: Was wünschen Sie sich für die politische Auseinandersetzung in Sachsen in den nächsten entscheidenden Monaten bis zu den Wahlen?

Bilz: Ich würde sagen, der Grundtenor müsste der sein: Wir stehen vor Herausforderungen, aber wir haben alle Potentiale, sie zu bewältigen. Ich denke, das wird gerade nicht getan, sondern es wird eher gesagt: „Wenn sich nicht bald etwas tut, gehen wir alle unter!“ Dazu muss ich sagen: Das ist ein Blick auf das Geschehen, den ich nicht nachvollziehen kann! Wir leben in einem der begehrtesten Länder der Welt mit einer demokratischen Grundordnung, um die uns viele beneiden. Wir sind mit einer großen Wirtschaftskraft ausgestattet und mit vielen Möglichkeiten, die ihres Gleichen suchen. Warum um Himmels Willen muss man in dieser Situation immer sagen: „Es wird ganz, ganz schlimm“?

Wir sollten uns vielmehr unserer eigenen Stärke besinnen. Wir sind hier in der Lage, noch ganz andere Herausforderungen zu bewältigen. Die Ängste der Menschen müssen ganz gewiss ausgesprochen werden. Ich möchte nicht zurücknehmen, was ich vorhin gesagt habe. Aber sie müssen auch ins Verhältnis gesetzt werden zu unseren Möglichkeiten. Ich wünsche mir für den Wahlkampf, dass die große Mitte der Zivilgesellschaft angesprochen wird. Lasst uns bitte nicht immer in so eine Rückenlage kommen und uns selbst für die Opfer halten!

Eule: Warum fühlen sich die Sachsen so häufig als Opfer?

Bilz: Den Sachsen ist auch ein melancholischer Grundzug eigen, der uns manchmal in die Quere kommt. Wir können fröhliche und zugewandte Leute sein, aber auch zu Tode betrübt. Wir sind Sanguiniker.

Eule: Gibt es in Sachsen nicht auch eine obrigkeitshörige Tradition, die viel länger zurückreicht? Traditionell haben die Sachsen auch von der Kanzel gehört, was zu tun und zu lassen ist. Gehört es nicht zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme zuzugeben, dass auch wir in unseren Kirchen in einer autoritären Tradition stehen?

Bilz: In Sachsen genießt das Pfarramt traditionell eine sehr hohe Wertschätzung. Wir haben bei uns eigentlich ein Dreigespann, in dem es neben den Pfarrerinnen und Pfarrern auch Gemeindepädagoginnen und Kantoren gibt, und das gut abgewogen bleiben muss. Aber wenn es hart auf hart kommt, sagen viele Leute in den Orten: Wir wollen an unserem Kirchturm einen Pfarrer oder eine Pfarrerin haben! Warum eigentlich? Weil über diese Person Identifikation hergestellt wird. Es kann gut sein, dass der Pfarrer oder die Pfarrerin auch den Wunsch danach bedient hat: Der weiß, was richtig ist! Der sagt mir, wie ich richtig glauben muss, der sagt mir vielleicht auch in politischen Zusammenhängen, wie man richtig denken muss. Es könnte sein, dass sich hier die sächsische Mentalität wechselseitig mit dem verwoben hat, für das die Kirche gestanden hat.

Eule: Muss sich die sächsische Landeskirche, wenn sie sich heute mit rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft befasst, auch stärker mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen?

Bilz: Auf der Rückseite meines Amtskreuzes sind die Namen meiner Vorgänger eingraviert, darunter auch Landesbischof Friedrich Coch von den Deutschen Christen. Ich nehme das persönlich als tägliche Mahnung. Wir sagen, dass wir so jemanden nicht einfach rausstreichen. Aufgrund der Pfarrer, die zur Bekennenden Kirche gehört haben, haben wir uns die Geschichte unserer Kirche im Nationalsozialismus ein bisschen schön geredet. Die Mehrzahl der Christen in Sachsen und vor allem die Kirchenleitung waren bei den Deutschen Christen. Es könnte auch sein, dass wir nach dem Krieg zu schnell zu einer neuen Tagesordnung übergegangen sind. Ich denke, hier ist noch etwas zu leisten.


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Das Interview führte Philipp Greifenstein.