Frieden durch Dialog: Verhandeln mit Kyrill?

Der Religionsstreit in der Ukraine spitzt sich zu, während der Weltkirchenrat zwischen den ukrainischen orthodoxen Kirchen und dem Moskauer Patriarchat vermitteln will. Eine Analyse der „Ökumene des Herzens“.

„Niemand wird jemanden an den Beinen ziehen“, versichert der Sekretär des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksij Danilow, laut KNA. Es werde keine gewaltsame Räumung des berühmten Kiewer Höhlenklosters geben, doch die ukrainische Regierung setzt die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) vor die Tür. Sie soll das zentrale orthodoxe Heiligtum des Landes verlassen.

Dagegen wehren sich nun „dutzende Mönche“ um ihren Metropoliten Pavlo Lebed, „der für seine Verschwörungstheorien und extremen politischen Positionen berüchtigt ist“ (wir berichteten). Er rief, berichtet die ARD, die Gläubigen dazu auf, ins Höhlenkloster zu kommen, um zu sehen, was die „gottlosen Befehle der Politiker“ anrichten würden: „Wir können keine Steine werfen, wir können nur beten.“ Die Sicherheit aller Beteiligen könne er allerdings „nicht garantieren, weil Provokateure kommen könnten“.

Damit erfährt der Konflikt zwischen der ukrainischen Regierung und der UOK, die sich bis Mai 2022 zum Moskauer Patriarchat zählte, sowie der Orthodoxen Kirche der Ukraine eine neue Zuspitzung, die – sollte das Kloster gewaltsam geräumt werden – auch ein großes mediales Echo erzeugen dürfte. Bereits im Dezember 2022 hatte die Orthodoxie-Expertin Regina Elsner davor gewarnt, die ukrainische Regierung verliere bei der Bekämpfung russischer Kollaborateure in der UOK das Augenmaß. Sie gebe mit ihrer Kampagne gegen die UOK der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) „neue Argumente für ihre Darstellung, in der Ukraine würde die Religionsfreiheit missachtet“. (Mehr zum Konflikt im Eule-Interview Regina Elsner und im ausführlichen Gespräch mit ihr im „WTF?!“-Podcast.)

Der Dialogversuch des ÖRK

In diese Lage hinein unternimmt nun der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK, Weltkirchenrat) einen Vermittlungsversuch zwischen den orthodoxen Kirchen in der Ukraine und der Russisch-Orthodoxen Kirche. Nach einem Gespräch bei Papst Franziskus in der vergangenen Woche verkündeten der neue ÖRK-Generalsekretär Jerry Pillay und der Vorsitzende des wichtigen ÖRK-Zentralausschusses, der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, „man wolle bei einem Runden Tisch die ukrainischen Kirchen, die orthodoxen Kirchen und weitere Kirchenführer zusammenbringen – auch mit der russisch-orthodoxen Kirche“ (s. „nachgefasst“ der #LaTdH vom 26. März 2023).

In seinem letzten Bericht als Landesbischof auf der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) am Dienstag dieser Woche präzisierte Bedford-Strohm die Pläne: Demnach wolle man sich an insgesamt drei Tagen mit Vertretern der Kirchen treffen. Der erste Tag solle dem Gespräch zwischen dem ÖRK und den beiden ukrainischen orthodoxen Kirchen gewidmet sein, der zweite dem Dialog der ÖRK-Führung mit ROK-Vertretern. Am dritten Tag wolle man dann beide Seiten „miteinander ins Gespräch bringen“.

„Ob es uns gelingt, wenigstens die Kirchen der im Krieg befindlichen Länder zu einer gemeinsamen Haltung zu bewegen, die Türen in Richtung Frieden öffnen kann, liegt in Gottes Hand“, erklärte der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD, 2014-2021) vor seiner Landessynode. Er rief die Synodalen zum Gebet für das Gelingen des Dialogversuchs auf.

Schauplatz des „runden Tisches“ an einem noch nicht näher definierten Termin im Mai 2023 soll Genf sein. Die Stadt ist Sitz des ÖRK und aufgrund ihrer Lage in der Schweiz „neutrales Gebiet“. Die ROK ist die zahlenmäßig größte Mitgliedskirche des ÖRK, während die beiden ukrainischen orthodoxen Kirchen weder Mitglied im Weltkirchenrat sind noch wie die röm.-kath. Kirche Beobachterstatus genießen.

Hoffnung auf Frieden: Ein Wagnis

ÖRK-Generalsekretär Pillay machte beim Besuch bei Papst Franziskus deutlich, man verfolge mit dem Plan keine „politische Agenda“, die Kirchen „sollten sich in einer solchen Situation gemeinsam auf die Friedensbotschaft des Evangeliums konzentrieren“, berichtete die Deutsche Welle. Diese Konzentration verlangt insbesondere den eingeladenen Ukrainern eine Menge ab, denn die ROK unter Führung ihres Patriarchen Kyrill unterstützt den russischen Krieg gegen die Ukraine. Einen Krieg, in dem täglich Menschen verschleppt, vergewaltigt, verwundet und getötet werden.

Bedford-Strohm erinnerte in Rom jedoch daran, dass die russisch-orthodoxen Delegierten auf der ÖRK-Vollversammlung, die im Herbst 2022 in Karlsruhe stattfand, der gemeinsamen Erklärung zum Ukraine-Krieg nicht widersprochen hätten. Die ÖRK-Vollversammlung hatte einen sofortigen Waffenstillstand gefordert, an „alle Konfliktbeteiligten“ appelliert, „die Grundsätze des internationalen Völkerrechts […] zu respektieren“, und „jeden Missbrauch religiöser Sprache und religiöser Autorität zur Rechtfertigung bewaffneter Angriffe und von Hass“ abgelehnt (wir berichteten).

Dass Kyrill und mit ihm die ROK von ihrer Unterstützung der russischen Streitkräfte und des Putin-Regimes abrücken, war in den vergangenen Monaten dennoch nicht zu beobachten. Regina Elsner erklärte anlässlich der Dialogankündigung des ÖRK auf Twitter, dass es „kein einziges Anzeichen seit 13 Monaten [dafür gibt], dass die ROK-Leitung den leisesten Zweifel am Recht und Richtigkeit der eigenen Position hat“: „Man verlangt von den Ukrainerinnen und Ukrainern, sich an einen Tisch mit Kriegsverbrechern zu setzen, die gleichzeitig – jetzt, heute, jede Stunde – in der Ukraine morden, vergewaltigen, verschleppen.“ Wer die ROK an einen „runden Tisch“ bitte, der lade „diejenigen ein und akzeptiert sie als Vertreter ihrer Gläubigen, die mit dem international anerkannten Kriegsverbrecher Putin Seite an Seite okkupierte Gebiete besuchen, und will sie mit den Opfern an einem Tisch sehen“.

Getragen ist der Dialogversuch vom Wunsch nach Frieden und der Idee, Kyrill könnte einen mäßigenden Einfluss auf die russische Kriegspolitik ausüben. Expert:innen für den Putinismus, wie der französische Philosoph Michel Eltchaninoff, haben inzwischen gleichwohl das opportunistische Verhältnis Wladimir Putins zu Kirche und Religion herausgearbeitet. Mit Kyrill weiß Putin außerdem einen treuen Gefolgsmann und Ideologen an der Spitze der russischen Orthodoxie, der sich in den vergangenen fünfzehn Jahren weiter radikalisiert hat.

Dialog: Ein Propagandaerfolg für Kyrill?

Regina Elsner weist darauf hin, dass man mit einem Gesprächsangebot an die gegenwärtige Führung der ROK „eine Kirchenleitung als Gesprächspartner akzeptiert, die ihre eigenen Gläubigen, Priester, Bischöfe, die gegen den Krieg sind, massiv unterdrückt“. Die Einladung der ROK-Führung sei, so Elsner weiter, „bei allem guten Willen“ unter dem Eindruck der vergangenen Monate „unethisch“, weil man „die Unterdrückten, die Opfer, die Widerständigen“ bisher nicht „in einer ähnlichen Form als legitime Stimme der Orthodoxie Russlands und der Ukraine wahrgenommen oder eingeladen“ habe. Zwar können die Kirchen „viel mehr erreichen“, wenn sie sich „auf die Kirchen konzentrieren, als wenn sie sich auf politische Einschätzungen einlassen“, ist sich die Orthodoxie-Expertin sicher, aber die Hoffnung auf ein Einsehen der aktuellen ROK-Führung sei „gewagt“.

Es sei durchaus möglich, dass die ROK einer Verurteilung der Angriffe auf die Zivilbevölkerung abermals zustimme, so wie Kyrill im Oktober 2022 bei dessen Besuch in Moskau gemeinsam mit dem damaligen ÖRK-Generalsekretär Ioan Sauca der Idee eines „heiligen Krieges“ eine Absage erteilte. Aber „was macht man denn dann mit dieser Äußerung? Worauf verpflichten sie, wen?“, fragt die Orthodoxie-Expertin vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (zois) in Berlin. Sie befürchtet, der „runde Tisch“ in Genf könnte ein erneuter „Erfolg für die Strategie der ROK“ und „ein Eigentor für die Partner“ werden und so „mehr Schaden als Nutzen im Vorgehen gegen den Krieg“ bewirken.

Eine „Ökumene des Herzens“ gegen die „Ökumene des Hasses“?

„Versuchen müssen wir es“, erklärt trotz solche Expertisen Heinrich Bedford-Strohm, das gemeinsame Friedenszeugnis der Kirchen verlange den Einsatz für Dialog und Verständigung. Darin sei man sich auch mit Papst Franziskus einig: Den ÖRK und die römisch-katholische Kirche verbinde eine „Ökumene des Herzens“, erklärte er vergangene Woche beim Papst-Besuch in Rom. Franziskus selbst hat erst über viele Monate hin zu einer stärkeren Verurteilung des russischen Angriffskrieges gefunden, nachdem er lange Zeit große Rücksicht auf die Gesprächsfäden mit dem Moskauer Patriarchen Kyrill genommen hatte.

Bereits im Mai vergangenen Jahres hatten katholische WissenschaftlerInnen aus Deutschland, Österreich und den USA an den Papst appelliert, „klar [zu] machen, wo die katholische Kirche in Bezug auf die Ukraine steht“ (wir berichteten). In diesem Zusammenhang rieten sie ausdrücklich von einer sog. „Ökumene der Werte“ mit der russischen Orthodoxie ab, die Rom und Moskau z.B. im Blick auf die „traditionelle Familie“, die Ablehnung von LGBTQI* und Abtreibungen verbindet.

Sie erinnerten an Franziskus‘ Verdienste im Kampf gegen eine sog. „heilige Allianz“ von reaktionären Kräften innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Bereits seit 2018 warnen Theolog:innen und Beobachter:innen vor einer „Ökumene des Hasses“ von katholischen, orthodoxen und evangelikalen Kirchen und Organisationen, die weltweit eine gemeinsame Agenda verfolgen. Der Streit um das christliche Friedenszeugnis angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine verdeckt gelegentlich andere wichtige Themenfelder, auf denen Christ:innen in Deutschland und progressive Kräfte in der Ökumene dezidiert andere Positionen vertreten als der Vatikan und die Führungen der orthodoxen Kirchen.

Erst am Dienstag dieser Woche reagierte z.B. der Allukrainische Rat der Kirchen (mehr dazu hier), dem alle maßgeblichen Religionsgemeinschaften des Landes angehören (auch jüdische und muslimische Verbände), empört auf einen Gesetzentwurf der ukrainischen Regierung, der gleichgeschlechtliche Partnerschaften als sog. „Familienverbände“ der traditionellen Ehe gleichstellen will. Im Sinne eines umfassenden christlichen Friedensbegriffs, der Gerechtigkeit und Frieden konsequent verbindet, haben die ökumenischen Gesprächspartner noch einen weiten Weg vor sich.

„Vielfalt als Zeichen der guten Schöpfung Gottes“

Ermutigend klingt in diesem Kontext die Botschaft der Europäischen Vorversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Oxford von vergangener Woche. In England trafen sich Teilnehmer:innen aus den europäischen Regionen des LWB um dessen 13. Vollversammlung vorzubereiten, die vom 13. bis 19. September 2023 in Krakau stattfinden wird.

Viele Teilnehmer:innen forderten im Anschluss an einen Bericht von Bischof Pavlo Shvarts von der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine eine erneute Diskussion „über unsere Theologie des Friedens und der Selbstverteidigung“. Man wolle sich fragen, „wie wir in unserer Zeit Friedensstifter sein können“. Die Teilnehmer:innen beklagten auch die weltweite Zurückdrängung von Menschenrechten und Gendergerechtigkeit. Religion werde dabei nur „allzu oft als Argument zur Rechtfertigung“ genutzt. Es sei wichtig, „Vielfalt als Zeichen der guten Schöpfung Gottes zum Ausdruck zu bringen und zu akzeptieren“.

Soll sich eine inklusive „Ökumene des Herzens“ langfristig gegen eine „Ökumene des Hasses“ durchsetzen, bedarf es dafür gleichwohl mehr als den guten Willen einiger weniger ökumenebegeisterter Akteur:innen, sondern vielmehr der Achtsamkeit der Christ:innen auch hierzulande für ökumenische Initiativen und Prozesse. Die nächste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen wird erst 2030 stattfinden, in der Zwischenzeit leiten Generalsekretär Pillay und der Zentralausschuss die Geschicke des Weltkirchenrates. Nicht selten findet diese Arbeit in den Kirchen in Deutschland nur geringen Widerhall, Anerkennung und kritische Würdigung.

Der kommende Evangelische Kirchentag in Nürnberg böte den Christ:innen in Deutschland eigentlich die Möglichkeit nicht allein zu einem intensiven Austausch über friedensethische Positionen, sondern auch zu einer Verständigung darüber, wofür man im Konzert der Kirchen und Religionen weltweit eintritt.