Zusammengerückt – Die #LaTdH vom 2. Juni

Auf dem Katholikentag in Erfurt wird gebetet, gesungen und debattiert. Dabei dürfte gerne mehr Konflikt gewagt werden. Außerdem: Katholischer Fortschritt und evangelisches Jubiläum.

Herzlich Willkommen!

Heute Vormittag geht der 103. Katholikentag in Erfurt mit einem festlichen Schlussgottesdienst vor der Kulisse vom Dom und Domstufen zu Ende (Übertragung durch die ARD). Vor Evangelium und Eucharistiefeier wird es eine Dialogpredigt von Bischof Georg Bätzing (Limburg), dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), und Juliane Eckstein geben. Die Alttestamentlerin war Teilnehmerin des Synodalen Weges und ist Eule-Leser:innen von ihrer kritischen Lektüre vatikanischer Einsprüche gegen die Reformwünsche der deutschen Katholik:innen bekannt.

Der Katholikentag in Erfurt stand unter dem Leitwort „Zukunft hat der Mensch des Friedens“, das Julia Rath hier in der Eule unter der Woche bereits exegetisch und „nach vorne“ betrachtet hat. Und die Suche nach dem gesellschaftlichen Frieden mehr noch als die nach Frieden in den Kriegen unserer Tage war es auch, was die Gespräche und Podien durchzog. „Beim Katholikentag bekomme man einen Eindruck davon, wie die Gesellschaft sein könnte, wenn sich alle mit Respekt begegnen, zuhören und ausreden lassen“, fiel nicht nur Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) auf. Während anderswo Politiker:innen angegriffen und demokratisches Engagement verächtlich gemacht wird, war der Katholikentag von einer respektvollen und, tja, nächstenliebenden Haltung des Miteinanders bestimmt.

Ursächlich dafür war sicher die Regie des Katholikentages, die selbst hochkontroverse Themen wie den Gaza-Krieg eher unterkontrovers auf die Tagesordnung setzte. Aber die Friedlichkeit des Katholikentages sitzt doch tiefer, nämlich in einer Sehnsucht vieler Menschen nach der Beruhigung von Debatten und dem Verstummen von Streit, nach Orientierung statt Polarisierung. Immer wieder wurde spürbar, wie wund die Seelen in den „multiplen Krisen“ unserer Zeit inzwischen gescheuert sind. Da braucht es Balsam und gute Worte.

Die heimlichen Stars im deutlich verknappten Veranstaltungsprogramm waren darum – wie bereits beim evangelischen Kirchentag im vergangenen Jahr in Nürnberg – die spirituellen Veranstaltungen: Gottesdienste, musikalische Lesungen, die Nacht der Lichter, die Abendsegen auf dem Domplatz. Nicht zuletzt für Christ:innen, die in ihrer Heimat kaum mehr intakte Glaubensgemeinschaft erleben, sind sie gute Gelegenheiten durch- und aufzuatmen. Mein Eindruck: Das wird in Zukunft für die Großevents beider Kirchen noch mehr im Zentrum stehen – vielleicht deutlich stärker noch als die große Zahl von Podien und Diskussionsangeboten.

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein

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Debatte

In vielerlei Hinsicht ist der Katholikentag inzwischen die „kleine Schwester“ des mehr als doppelt so großen evangelischen Kirchentages. Das mediale Echo auf den Katholikentag und auch die digitale Selbstvermittlung von Akteur:innen auf den Social-Media-Plattformen fällt deutlich kleiner aus als beim DEKT in Nürnberg 2023. Die Verknappung des Programms auf ca. 500 Veranstaltungen und die Einkehr in einer kleinen Großstadt (Erfurt hat ca. 210.000 Einwohner:innen) hat aber gut getan. Das Trauma von Stuttgart 2021 mit seinen leeren Plätzen und Stühlen wurde erfolgreich bekämpft.

Manchmal vielleicht zu erfolgreich: Gelegentlich boten die kleinen Säle und Kirchen der thüringischen Landeshauptstadt so wenig Platz, dass viele Besucher:innen gleich mehrfach täglich keinen Zutritt mehr zu Wunschveranstaltungen fanden. Das gilt auch für spirituelle Formate und sollte den Veranstaltern zu denken geben. Auch wenn die Teilnehmer:innenzahl die 20.000er-Grenze wohl knapp überschritten hat, bleibt es natürlich ein Fakt, dass Katholikentag (und Kirchentag) kontinuierlich schrumpfen. Nur zum Vergleich: Auf manche Wallfahrt gehen deutlich mehr Katholik:innen und auf dem Evangelischen Posaunentag spielten 15.000 Bläser:innen auf.

Dem Katholikentag unmittelbar vorausgegangen war eine turbulente Sitzung den Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), das sich auf seiner Vollversammlung nicht auf eine neue Grundordnung einigen konnte und deutliche Kritik in Richtung der Bischöfe formulierte, wie die KNA berichtet. Das Mit- und Gegeneinander von Lai:innen und Bischöfen stand auch im Zentrum der Podiumsdiskussion, an der ich als Diskutant am Freitag in der Predigerkirche teilnehmen durfte.

Am Ende übrigens, waren sie doch alle irgendwie „da“, auch jene konservativen Akteure wie der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der am Samstag bei bestem Sonnenschein konservativen und reaktionären katholischen Nischenprogrammen Interviews hab, oder politisch: Friedrich Merz. Für den CDU-Bundes- und Fraktionsvorsitzenden hatte sich kein Platz im ordentlichen Programm gefunden. Auf dem Empfang der Konrad-Adenauer-Stiftung am Mittwochabend „rächte“ er sich dem Vernehmen nach mit einer langen Rede.

In der Rheinischen Post lobt Benjamin Lassiwe den Katholiken Merz für seine große Klarheit, gerade im Vergleich zum dozierenden und wie immer auf Distanz bleibenden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dessen Auftritt (s.u.) ich persönlich noch schwächer als vor einem Jahr auf dem Kirchentag in Nürnberg fand (hier in der Eule):

Auftritte von CDU-Funktionären waren in Erfurt spärlich: Man habe auch zahlreiche Absagen von CDU-Politikern erhalten, […] Friedrich Merz, nahm nur an einem Gottesdienst teil und hielt bei einem Empfang der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung eine Rede. Anders als Scholz positionierte er sich als bewusster Katholik – etwa in der Friedenspolitik. Als katholischer Christ fühle er sich der Gewaltfreiheit verpflichtet. „Aber für einen Staat ist bedingungsloser Pazifismus und Gewaltlosigkeit keine verantwortungsvolle Position – denn in der Welt ist Gewalt Realität.“ Deutlich lehnte Merz den von Boris Pistorius (SPD) geprägten Begriff der „Kriegsfähigkeit“ Deutschlands ab und betonte das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels.

Und deutlicher: „Selbstverständlich bedeutet Friedenspolitik aus christdemokratischer Perspektive, sich für den Schutz der Menschenrechte weltweit einzusetzen, für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern, religiösen und ethnischen Minderheiten und marginalisierten Gruppen, für das Recht auf Religionsfreiheit für verfolgte Christen.“ Dafür gab es großen Applaus – und mancher der Besucher fragte sich, warum so eine Rede eigentlich nicht zum Teil des offiziellen Katholikentagprogramms wurde.

Platzmangel in Erfurt: Zu Besuch bei den Katholikentags-Campern – Benedikt Heider (katholisch.de)

Nicht nur in den Kirchen und Sälen wurde es in Erfurt eng, auch bei der Unterbringung der Gäst:innen gab es durchaus Engpässe. Manche mussten auf Hotels in benachbarten Städten wie Weimar ausweichen. Die Orga von Privatquartieren war nicht nur durch die an sich lästige religiöse Indifferenz der Thüringer behindert, sondern wurde wohl auch nicht clever genug angegangen. Darüber hinaus fand der Katholikentag auch noch (und trotz Fronleichnam) in einer normalen Arbeitswoche und kurz vor Schuljahresende statt.

Wie Katholikentagsbesucher:innen mit diesen Herausforderungen kreativ umgegangen sind, hat Benedikt Heider für katholisch.de aufgeschrieben. Anders als in den „Live-Blogs“ am gleichen Ort kommen so auch mal nicht vornehmlich die Bischöfe zu Wort.

In Gemeinschaftsquartieren sind laut Katholikentag rund 2.000 Besucher untergebracht. Allein 900 von ihnen schlafen in einer Messehalle. Die üblichen Unterkünfte in Schulen und Turnhallen stehen nicht zur Verfügung, denn in Erfurt ist Fronleichnam kein Feiertag – der Schulbetrieb läuft daher ganz normal. Ein katholisches Krankenhaus hat eine Station für Menschen mit Behinderung freigeräumt. Auch die Erfurter Hotels sind voll: rund 6.000 Besucher haben hier Platz gefunden.

Wieder andere müssen aber aus umliegenden Städten nach Erfurt pendeln. „Das funktioniert ganz gut“, sagt einer der Pendler. Ein bisschen ärgert er sich aber, dass bei der Platzproblematik das Katholikentags-Bus-und-Bahn-Ticket nur bis an die Stadtgrenze reiche. Auch manch eine Abendveranstaltung leerte sich am ersten Tag schlagartig – denn zu später Stunde werden ÖPNV-Verbindungen ins Umland dünn.

Christ:innentreffen der „kurzen Wege“

Für einen Katholikentag der „kurzen Wege“ plädierte derweil Bischof Michael Gerber (Fulda), der stellvertretende Vorsitzende der DBK. Wie auch in Nürnberg 2023 mischten sich die Gäste unter die Stadtbevölkerung. Im Unterschied zum protestantischen großen Bruder waren in Erfurt zudem Ordenschwestern und -Brüder zwischen all den Leuten gut sichtbar, dafür aber deutlich weniger Pfadi-Klüfte. Überhaupt, die Jugendlichen: Sie sangen, beteten, tanzten und vermöbelten sich gut gepolstert mit Schaumstoff-Kissen, aber es waren ihrer doch wenige. Die Besucher:innenreihen bei den thematischen Diskussionen wurden von grauen Häuptern dominiert.

Unter den gut 170 Menschen, die am Donnerstag dem Nebeneinander-Gespräch zwischen Bischof Bätzing und der ZdK-Vorsitzenden Irme Stetter-Karp im großen Saal des Erfurter Landeskirchenamts lauschten (auch hier wurden viele Menschen nicht mehr eingelassen), waren nur 15 eindeutig junge (nicht „kirchenjung“, also unter 40, sondern jung jung).

By the way: Wo sind eigentlich die katholischen Sinnfluencer:innen und Stars und Sternchen der Jungen geblieben? Die dezidiert jugendlichen und im besten Sinne woken Veranstaltungen wurden nämlich echt ökumenisch, also vor allem evangelisch bespielt. Katholikentag und Kirchentag teilen sich nicht nur zunehmend ein Milieu, sondern auch viele Akteur:innen.

Während der nächste Katholikentag dem Kleine-Großstadt-Schema mit Gemütlichkeit und Fußläufigkeit treu bleibt – es geht 2026 nach Würzburg –, steht dem Kirchentag in Hannover 2025 ein gewaltiger Spagat bevor. Er wird nämlich wieder zugleich auf dem ausladenden Messegelände (diesmal aber inkl. Zentrum Jugend) und in der Innenstadt stattfinden. „Überfüllt“-Schilder und volle Plätze in pittoresker Altstadtatmo sind gemeint, wenn die Generalsekretärin des Kirchentages, Kristin Jahn, erklärt, man wolle ja nicht, „dass die Bilder gegen uns predigen“, wie das weite und leere Wittenberger Feld es 2017 noch getan hat. Man darf gespannt sein, ob und wie das in Hannover gelingen wird.

„Wo, wo, wo ist der Klimakanzler?“ – Daniel Deckers, Thomas Jansen (FAZ, €)

In Daniel Deckers und Thomas Jansens Bericht von einigen Katholikentagsveranstaltungen vor allem zum Thema Klimakrise spielt auch die kurzweilige Unterbrechung des Kanzler-Podiums durch Protestierende der Letzten Generation eine Rolle. So dramatisch wie insbesondere das ZDF und ein paar arg harmoniebedürftige Zuschauer:innen im vollbesetzten Saal des Erfurter Theaters (ca. 850 Plätze) empfand ich die Unterbrechung nicht. Von einer „massiven Störung“ zu sprechen, wo ein Dutzend junger Menschen Parolen ruft, ist drüber.

Und ich meine auch, es steht einem Bundeskanzler nicht zu und auch nicht gut zu Gesicht, den Störenden als erste Erwiderung den Mund zu verbieten. Dass der Protest an sich konzertiert und schematisch nicht-dialogorientiert war, stimmt zwar, aber dem kann und sollte man deutlich charmanter und entwaffnend dialogbereit begegnen. Im Übrigen war der Protest gegen Scholz deutlich harmloser als beim Stuttgarter Katholikentag 2022. Seine Wortwahl aber auch. Aber wer kann sich heute schon noch wenigstens zwei Jahre zurückentsinnen?

Die mehr als achthundert Zuhörer im Saal hatte der Kanzler ganz auf seiner Seite. Es gab tosenden Applaus. „Raus! Raus!“, skandierte das Publikum. Die Veranstaltung wurde für einige Minuten unterbrochen. Die Präsidentin des Zen­tralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, und ihr Generalsekretär Marc Frings persönlich eskortierten die Letzte Generation mithilfe mehrer Ordner aus dem Erfurter Theater. Danach konnte man beobachten, wie Deeskalation auf Katholisch aussehen kann. Das Publikum sang „Herr, gib uns Deinen Frieden“.

Zum Schluss der Diskussion präsentierte die Moderatorin das Ergebnis einer Onlineumfrage unter Katholikentagsbesuchern. Welche Herausforderung derzeit am dringendsten sei, wollten die Organisatoren wissen. Auf Platz eins landete der Klimaschutz, der Rechtsex­tremismus auf Platz zwei.

Nach meinem Eindruck aus dem Saal konnten sich die „Raus!“-Rufe nun aber auch nicht durchsetzen und das Absingen von „Herr, gib uns Deinen Frieden“ löste in mir sogar eine erheblich Dissonanz aus: Kehrt der Frieden ein, wenn die Störer:innen rausgeleitet werden? Beim Katholikentag sollte ja auch praktisch erprobt werden wie so eine „Oase der Toleranz und der Suche nach der Stadt und der Welt Bestes“ ausschauen kann. Dazu gehört aber, Konflikte auch zu benennen und auszuhalten.

Deckers/Jansens setzen ein ähnliches Vorbeigehen an der harten politischen Realität, dass eben viele Menschen bei Solidarität und Nächstenliebe nur bedingt mitmachen wollen, am Beispiel einer Veranstaltung über die Kooperation von schrumpfenden Bistümern mit dem Magdeburger Bischof Gerhard Feige in Szene.

[…] ist von Resignation nichts zu spüren. Zum einen arbeiten die Diözesen schon lange enger und vertrauensvoller zusammen als die oft auf Abgrenzung bedachten Westbistümer, etwa in Form einer gemeinsamen Schulinspektion. Zum anderen scheint die Not wie einst in der DDR auch erfinderisch zu machen – aber diesmal so, dass man nicht aus Furcht und Angst vor dem Verlust des Eigenen die äußeren Grenzen befestigt, sondern sich des Wertes von Partnerschaften mit anderen Kirchen, anderen gesellschaftlichen Gruppen und auch staatlichen Stellen bewusst wird.

Feige spricht von „schöpferischer Minderheit“, die Caritas-Mitarbeiterin schwärmt von „Herz und Haltung“, der MDR-Rundfunkbeauftragte bricht eine Lanze für Kinder- und Jugendchöre, Kollig plädiert für mehr Risikobereitschaft und für mehr Einigkeit, nicht aber Einheitlichkeit. Der Begriff „Synodaler Weg“, für viele West-Funktionäre eine Chiffre für alles Wahre, Schöne und Gute in der Kirche, fällt in der neunzig Minuten dauernden „tour d’horizon“ kein einziges Mal. Die AfD wiederum kommt allenfalls in dem Hinweis vor, dass die ostdeutschen Bischöfe schon im Januar den völkischen Nationalismus für mit dem Christentum unvereinbar und die in Teilen gesichert rechtsextremistische Partei für „nicht wählbar“ erklärt hatten.

Die große Eintracht der friedliebenden Mitte war auch bei der Bibelarbeit mit Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE, evangelisch, für einige immer noch Wessi) mit der Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages Kristin Jahn (logisch evangelisch, Ossi) und musikalischer Begleitung von Clemens Bittlinger (evangelischer Pfarrer und Liedermacher) am Freitagmorgen zu spüren. Wenn doch alles so klar und auch offensichtlich ist, dass wir alle Respekt und Zuhörer:innen brauchen, Parteien, Aktivist:innen, Kirchen und auch demokratische Medien – warum verlieren „die Guten“ dann immer mehr an Zuspruch, Ramelow die Landtagswahl und die Kirche Mitglieder? Auf diese Frage habe ich in Erfurt keine Antwort gefunden.

Die von Thomas Wystrach und mir im Eule-Podcast „RE:“ Mai 2024 Mitte der Woche aufgeworfene Frage, ob die Katholische Kirche eine Lehrmeisterin in Demokratie sein kann, die „Zeitansage“ also verfängt, die sich der Katholikentag zutraut (oder anmaßt?), muss ich wohl auch abschlägig beantworten. Der Wille ist wohl da, aber kann eine Institution, die doch Diskriminierung und Ungleichbehandlung in den eigenen Reihen bekämpfen muss und dabei nur schleppend vorankommt, einer Mehrheitsgesellschaft auf dem Feld der Demokratie- und Vielfaltsliebe vorausgehen, die ihr schon davongelaufen ist? Ich muss bei solchen Dissonanzen unweigerlich an das olle Talleyrand-Zitat denken:

„Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach. Ich bin sein Führer!“

nachgefasst

Hildesheimer Aufarbeitungsstreit

Am späten Samstagabend versendete das Bistum Hildesheim eine Friedensbotschaft. Bischof Heiner Wilmer und Pfarrer Matthias Eggers haben sich begleitet von einem Paar AufpasserInnen zusammengesetzt und ausgeprochen, ist auch auf der Bistums-Website zu lesen. Zuvor war der Streit um den Wolfenbütteler Pfarrer und seine Kritik an Bischof Wilmer und dem Aufarbeitungswillen im Bistum Hildesheim so sehr eskaliert, dass der Hausfrieden empfindlich gestört war (s. Bericht des NDR & erste Stellungnahme Wilmer)

Die Wolfenbütteler solidarisierten sich mit ihrem Pfarrer, bis hin zu einem Offenen Brief des Bürgermeisters. Der ganze Vorgang hat dennoch als „gute Nachricht des Monats“ Eingang in unseren jüngsten Podcast gefunden, weil sich endlich einmal zeigt, dass die Drängenden und Störer so alleine eben doch nicht dastehen. Ergebnisse des sonnabendlichen Friedensgipfels sind ein hemdsärmeliges Foto des Bischofs in einträchtiger Verbundenheit mit seinem Kritiker, seine Zusage, auf einen Amtsverzicht von Eggers verzichten zu wollen, und ein Plan für einen neuerlichen Dialogprozess. So, liebe Leute, wird professionell (ab-)moderiert.

Arbeitsrechtsreform katholisch

Und sie bewegt sich doch! Vielfalt als Bereicherung, keine Kündigungen aufgrund der Lebensführung mehr: Das neue katholische Arbeitsrecht hat vieles geändert (und wurde parallel zum Synodalen Weg u.a. auch von den Generalvikaren der Bistümer vorangetrieben). Mit der Unterschrift des neuen Bamberger Erzbischofs Herwig Gössl gilt es nun flächendeckend und dauerhaft in ganz Deutschland, berichtet Felix Neumann auf katholisch.de.

Rechtsnormen und Strukturreformen sind die eine Seite der Medaille auf deren anderen das schöne Wort „Kulturwandel“ steht. Beide bedingen sich gegenseig, wirken wechselseitig aufeinander ein. Darüber habe ich erst vor kurzem in anderem, aber ähnlichen Zusammenhang hier in der Eule geschrieben. Sollte das Recht aber wirklich überall auch so gelebt werden, dann ist der römisch-katholischen Kirche doch ein erheblicher Schritt nach vorn gelungen. Auf dem „Katholisch gegen Katholisch“-Podium, auf dem ich beim Katholikentag u.a. mit Bischof Bertram Meier (Augsburg) diskutieren durfte, sagte dieser, er könne sich auch gut vorstellen, dass man mal über die „nihil obstat“-Menge für Berufungen in Lai:innen-Verbänden (und universitäre Berufungen?) nachdenke. Ich glaube auch, dass das ne gute Idee ist.

Derweil macht Papst Franziskus nun schon zum zweiten Mal binnen weniger Tage mit flappsigen Formulierungen Schlagzeilen. Nach den „Schwuchteleien“ (ui, ui, ui ..) sind es nun „Frauensachen“. Für eine gescheite Medienschulung und ein Diversity-Seminar ist der Mann vermutlich zu alt.

Theologie

Gute Texte wissen mehr – Albrecht Grözinger (zeitzeichen)

90 Jahre alt ist die Barmer Theologische Erklärung geworden. Aber ist sie auch gut gealtert? Am 31. Mai 1934 verabschiedete die Bekenntnissynode in Barmen die Barmer Theologische Erklärung. Den 90. Geburtstag der BTE zu feiern, fällt den evangelischen Kirchen ein wenig schwer. Der Text ist zeitgebunden und er hat klaffende Löcher, wenn es zum Beispiel um die 1934 alltägliche Diskriminierung und einsetzende Verfolgung von Jüdinnen und Juden geht oder auch die Solidarität mit Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen, die zum Zeitpunkt der Abfassung schon aus Ämtern, Parlamenten und/oder dem neuen deutschen Reich vertrieben waren, wenn sie nicht bereits in den KZs der Nazis eingekertet waren.

Wie also umgehen mit der Barmer Erklärung? Albrecht Grözinger, Emeritus für Praktische Theologe an der Universität Basel, schlägt in den zeitzeichen eine „Lektüre nach vorne“ vor und fragt, wovon der Text mehr weiß als seine Autoren. Grözingers Ansatz ist dem 90. Geburtstag der BTE angemessen und gut protestantisch, insofern er nach den Quellen fragt, aber in die Zukunft denken will.

Die „Lektüre nach hinten“ fragt nach den Entstehungsbedingungen und Intentionen des Autors oder der Autorin. Die „Lektüre nach vorne“ fragt nach den Potenzialen eines Textes, die dessen Entstehungsbedingungen und ursprüngliche Intentionen übersteigen. […] Wenn es um die Frage des Pluralismus geht, fiele wahrscheinlich den Meisten nicht unbedingt sofort die BTE ein. Und sie wurde nach 1945 auch eher als ein pluralismuseinschränkendes theologisches Dokument gelesen und interpretiert. Ich versuchte zu zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. In der BTE wurden entscheidende theologische Weichen gestellt, um die Stellung des Christentums und der Kirchen im Pluralismus zu bestimmen.

Ein guter Satz

„Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“

– aus der 3. These der Barmer Theologischen Erklärung