Vertrauen wagen? – „Splitter“ vom Kirchentag 2023

Geschichten, Themen und Personen des Kirchentages. In einem fortlaufenden Blog sammelt Eule-Redakteur Philipp Greifenstein „Splitter“ vom Kirchentag in Nürnberg und Fürth.

Herzlich willkommen zum „Splitter“!

Vom 7.-11. Juni findet in Nürnberg und Fürth der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag statt. Eule-Redakteur Philipp Greifenstein berichtet von Veranstaltungen, Begegnungen und Debatten des Kirchentages. In diesem Blog wird Philipp „Splitter“ vom Geschehen einsammeln: Kleine Geschichten, Themen und Personen, die andernfalls (und anderswo) keine Aufmerksamkeit bekommen. Und es gibt auch kurze „Splitter“ über zentrale Veranstaltungen und Meldungen.


„Nürnberg erobern“: Eröffnungsgottesdienst und Abend der Begegnung

Mittwoch, 7. Juni 2023

Man wolle „Nürnberg erobern“, kündigte der Präsident des diesjährigen Kirchentages, Thomas de Maizière, auf der Pressekonferenz zum Start des größten Christ:innen-Treffens im deutschsprachigen Raum an. Aus dem Mund eines ehemaligen Bundesministers der Verteidigung hört sich das weniger verheißungsvoll an, als der CDU-Politiker vermutlich dachte. Er hat es sowieso nicht leicht dieser Tage, sich verständlich zu machen. Statt vom Erobern sprach de Maizière dann bei der offiziellen Eröffnung während des Gottesdienstes auf dem Hauptmarkt vom Kennenlernen: „Nürnberg soll uns kennenlernen!“ Warum nur hört sich auch das aus seinem Munde wie eine halbe Drohung an?

Über 50.000 Christ:innen haben bereits ein Ticket für den Kirchentag gelöst. Zu den Eröffnungsgottesdiensten auf Hauptmarkt (ca. 20.000) und Kornmarkt (ca. 10.000) fand sich ein Großteil von ihnen Mitten in der Nürnberger Altstadt ein. Es gab folglich keine Bilder von leeren Stadiontribünen wie noch vom Kirchentag in Dortmund, sondern fröhliches Gewusel auf Plätzen, Straßen und Gassen. Die Rückkehr der Kirchentagsgottesdienste in das Zentrum der Gastgeberstadt, nachdem man über die letzten 20 Jahre immer größere Eventlocations bespielt hatte, ist in jedem Fall zu begrüßen.

Der Eröffnungsgottesdienst auf dem Hauptmarkt war eine unaufgeregte Angelegenheit. Highlight war die musikalische Gestaltung durch den großen Posaunenchor und den Pauluschor aus Halle (Saale) unter Leitung von Kirchenmusikdirektor Andreas Mücksch, u.a. mit einem sehr schönen Segenslied (T: Barbara Schatz). Das Lied ist allerdings nur im Liedblatt des Eröffnungsgottesdienstes, nicht im gedruckten Liederheft des Kirchentages zu finden. Das gedruckte Liederheft (4 €) mit 34 zum Teil sehr kurzen Liedern und ein paar Gebeten/Liturgien, das viele Teilnehmer:innen schon allein als Souvenir erwerben, ist leider sehr schmal (man möchte sagen: läppisch).

In seiner Eröffnungspredigt rief Heinrich Bedford-Strohm, als Landesbischof der gastgebenden Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern für diesen Anlass auserkoren, zum gemeinsamen Fragen und Nachdenken über die Zukunft von Welt, Gesellschaft und Kirche auf. Nicht, ohne ein paar der Antworten in seiner Predigt schon vorweg zu nehmen. Für einige seiner Zukunftshoffnungen – weniger Tempo auf der Autobahn, mehr Solidarität, weniger Reichtum, mehr Nächstenliebe … – gab es Szenenapplaus. Die offenbar durch die Dramaturgie angelegte Möglichkeit, mit einer am Bühnenrand sitzenden Gauklerin ins Spielen zu kommen, schlug Bedford-Strohm aus. Jene Gauklerin fächerte sich während der anschließenden offiziellen Eröffnung durch de Maizière (erfrischend kurz) Luft zu. Auf dem Markt herrschte schönster Sonnenschein.

Aufsehen erregte dann in seinem Grußwort an die versammelten „Brüder und Schwestern“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der der versammelten Gemeinde eröffnete, es sei – schweren Herzens – eben „auch Zeit für Waffen“. Einzelne Buhrufe erklangen. Die von ihm eingefordere Solidarität mit der Ukraine bekundete die Kirchentagsgemeinde mit einem lauten Applaus.

Den anschließenden Abend der Begegnung verlebten die Teilnehmer:innen in der ohnehin von Bürger:innen gut angefüllten Innenstadt. Überall waren die grünen Kirchentagschale zu sehen, in den Gassen Stände und Buden der Evangelischen Jugend, von Dekanaten und kirchlichen und nicht-kirchlichen Organisationen. Der Abend endete mit Abendsegen-Spenden auf den Plätzen: Tausende Christ:innen singen „Meine Zeit in deinen Händen“. Einige Eindrücke:


Vertrauen wagen in Banker? Bibelarbeit mit Christian Sewing und Thorsten Latzel

Donnerstag, 8. Juni, 9:30 Uhr, Germanisches Nationalmuseum

Aus dem Angebot an Bibelarbeiten, die jeden Vormittag auf dem Kirchentag zum Nachdenken einladen, habe ich mir die von Christian Sewing und Thorsten Latzel herausgesucht. Selten genug, dass Akteur:innen aus der Wirtschaft auf dem Kirchentag stattfinden. Sewing ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, Latzel ist Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR). Im Germanischen Nationalmuseum ist der Saal voll, als Latzel mit ein paar Scherzen in die partnerschaftliche Auslegung der Hochzeit zu Kana (Johannes 2, 1-12) einführt. Die beiden gehen strikt arbeitsteilig vor: Latzel ist für Exegese und Humor zuständig, Sewing für die Aktualisierung der Bibelstelle ins politische und wirtschaftliche Leben.

Die beiden haben sich das Thema Vertrauen vorgenommen. Das Vertrauen, das Maria in die Gottessohnschaft ihres Sohnes hatte, das Vertrauen der Jünger:innen, das sich nach dem erfolgreichen Wandlungswunder entfaltet – das Vertrauen, das heute so oft fehlt. „Wir haben Credo und Kredit verspielt“, fasst Latzel das Dilemma sowohl der Bankenwelt als auch der Kirche zusammen. Viele junge Menschen hätten die Hoffnung auf Lösungen der multiplen Krisen unserer Zeit längst verloren, Corona hätte sie in dieser Diagnose nur noch bestärkt. Manche würden sich nur noch von „Depression zu Demo zu Party“ schleppen. Es ist, wenig überraschend, der gute Geist Gottes, den Latzel dafür verantwortlich macht, uns alle darin zu bestärken, „um Gottes Willen etwas Tapferes zu tun“.

Was genau, das bleibt im Verlauf des Gesprächs allerdings ein wenig unklar. Sewing kann sich nicht vom Jargon seines Geschäfts lösen, der zwar voll ist von großen Substantiven, aber wenig von Substanz ausdrückt. Man solle Entscheidungsträger unterstützen, die ins Risiko gingen. Dazu brauche es eine Kultur, die auch Fehler zulässt. Die müsse man erkennen und beseitigen usw. usf. Endlich ein Wirtschaftsboss auf dem Kirchentag! Doch wer ist hier eigentlich die Attraktion? Das ist ganz sicher Thorsten Latzel, der wirklich witzig und charmant sein kann. Nicht allein der EKiR-Fanclub im Saal kann dem viel abgewinnen. Der an Unterhaltungstalenten wahrlich nicht im Übermaß gesegnete Protestantismus in Deutschland kann so jemanden gebrauchen.


Über die überfüllte und mit großem Interesse bedachte Bibelarbeit von Manuela Schwesig (SPD, Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommern) mit Influencerin Lilly Blaudszun (Kirchentagspräsidium, auch SPD) in Halle 6 der Messe hat Benjamin Lassiwe im Tagesspiegel geschrieben. Zum Schluss ihrer Bibelarbeit berichtete Schwesig, die wegen des Skandals um die Klimastiftung MV derzeit unter großem politischen Druck steht, sehr persönlich von ihrer Krebserkrankung:

In dieser Situation habe ihr das von dem evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer 1944 im Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes gedichtete Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ geholfen, bekannte Schwesig. „Margot Käßmann hat mal gesagt: Du kannst nicht tiefer fallen, als in Gottes Hand – das sagt auch dieses Lied.“ Woraufhin der die Bibelarbeit begleitende Gospelchor das Lied auf Bitten Schwesigs noch einmal sang, „damit Sie alle daraus Kraft schöpfen können.“ Margot Käßmann hätte es nicht besser machen können.


Und über die Bibelarbeit in Leichter Sprache von Sabine Weingärtner, Präsidentin des Diakonischen Werks Bayern, in Halle 5 der Messe berichtet Mirjam Petermann in einem kleinen Kirchentags-Blog bei Michael Haspel von der Universität Erfurt:

Alles Gesagte wurde auf der Leinwand übertragen, es gab einen Gebärden-Dolmetscher. Das Publikum erhielt zwei Karten, eine rote und eine grüne, mit der jeder während der Veranstaltung direkt signalisieren konnte, ob alles verständlich oder etwas unklar sei. […] Dieses Konzept birgt mehr Potenzial, als nur eine Option von vielen zu sein. Kirchliche Veranstaltungen sollten viel öfter ihre Sprache auf die Verständlichkeit hin prüfen. Und doch ist es nicht immer umzusetzen, wenn es um theologisch tiefergehende Fragen geht, wie sich heute am Bibeltext zeigte.

Denn die Überschrift aller Bibelarbeiten lautete „Meine Stunde ist noch nicht da“. Die Worte Jesu stammen aus der Geschichte im Johannesevangelium, Kapitel 2, die unter dem Titel „Die Hochzeit zu Kana“ bekannt ist. „Im Dorf Kana gibt es eine Hochzeit. Jesus feiert mit. Und die Mutter von Jesus. Und Schülerinnen und Schüler von Jesus“ – so klingt der Text in leichter Sprache. Doch der Vers, der das Thema der Bibelarbeit ist, und viele Fragen aufwirft, kam in der Auslegung gar nicht vor.


„Was uns verbindet, ist stärker als das, was uns trennt.“: Podium „Sexismus kommt selten allein“

Donnerstag, 8. Juni, 15-17 Uhr, Messe

Eigentlich müsste man es einfach weiter so laufen lassen: Während des Podiums über Elemente einer intersektionalen Theologie sprechen die Teilnehmer:innen in kleinen Grüppchen oder Tandems, so wie sie halt im Saal „Sydney“ der Messe Nürnberg zum Sitzen gekommen sind. Die Bühne ist leer, das intergenerationelle Gespräch läuft.

Prof. em. Katharina von Kellenbach, Leiterin des Forschungsprojekts „Bildstörungen“, Helene Braun, Rabbinatsstudierende in Potsdam, Marie Hecke, die an der KiHo Wuppertal theologische Geschlechterforschung betreibt, die Neutestamentlerin Prof. Dr. Claudia Janssen (ebenfalls Wuppertal), Prof. Dr. Elisa Klapheck, Feministische Theologin aus Paderborn, und Karoline Ritter, Praktische Theologin in Greifswald und an der Evangelischen Akademie zu Berlin, gestalten das Podium „Sexismus kommt selten allein“ im interreligiösen und intersektionellen Nach- und Miteinander.

Die Kirchentags-Teilnehmer:innen sind zahlreich gekommen, alle Plätze sind besetzt. Es ist eine Mischung, die wir in unserer Gesellschaft wirklich selten finden: Ältere und vor allem viele junge Menschen, die gemeinsam lernen, verstehen und diskutieren wollen. Dass ein Podium zur intersektionalen Theologie dem „Zentrum Juden und Christen“ auf dem Kirchentag zugeordnet ist, erweist sich thematisch als sehr gute Entscheidung:

Katharina von Kellenbach gelingt es in ihrem Einführungsvortrag auch diejenigen (vermutlich wenigen) Teilnehmer:innen mit den Grundzügen intersektionaler Theorie vertraut zu machen, die sich bisher noch nicht mit feministischer Theologie, LGBTQI* oder Antisemitismus auseinandergesetzt haben. Dabei identifiziert sie „Lehren der Verachtung“ in der Bibel, in deren Rahmen Menschen „kollektive Identitäten“ zugeschrieben werden, aufgrund derer sie geringgeschätzt und systematisch abgewertet werden: Alle Frauen tragen den Fluch Evas. Alle Juden werden als „Gottesmörder“ angeklagt. Kellenbach macht in wenigen Worten klar, dass diese Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Teil unseres Erbes ist, zu dem sich Christ:innen heute verhalten müssen.

Das inter-generationelle und -religiöse Gespräch muss forciert werden, es ereignet sich leider nicht von selbst. Das zeigen manche Konflikte zwischen Feminist:innen unterschiedlichen Alters (wie sie Carlotta Israel in unserer Kolumne „Sektion F“ schon nachgezeichnet hat). „Schockierend“ findet Kellenbach, „dass es den Jüngeren genauso geht, wie wir das damals empfunden haben, nämlich die erste Generation zu sein“. Eigentlich müsste man das Gespräch also einfach laufen lassen. Jedenfalls ernsthaft darüber nachdenken, wie Veranstaltungen zur Intersektionalität selbst weniger Verständnisbarrieren enthalten können. Zugleich für Neueinsteiger:innen attraktiv zu sein und „Profis“ zum Weiterdenken anzuregen, Treffpunkt der Bubble und Einführungskurs zu sein, das ist ein bisschen viel für ein Podium. Weniger Fremdwörter und Selbstverortungen wären aber so oder so verkraftbar gewesen.

Mein Highlight des Podiums war trotz der Attraktivität der Wortbeiträge aber der Gesang von Sofia Falkovitch. Die jüdische Kantorin, Sängerin und Komponistin aus Paris trug die Schewa Brachot, die Sieben Segenssprüche für Braut und Bräutigam der traditionellen jüdischen Hochzeitszeremonie vor. Bevor sie zum Gesang ansetzte, erklärte Falkovitch, sie arbeite mit liberalen, orthodoxen und konservativen Jüdinnen und Juden gleichermaßen zusammen, denn: „Was uns verbindet, ist stärker als das, was uns trennt.“


Sanft falle Regen auf deine Felder und warm auf dein Gesicht der Sonnenschein: Gewittersturm am Donnerstagnachmittag

Herrliches Sommerwetter begleitet den Kirchentag in Nürnberg. Doch dann macht es am Donnerstagnachmittag lang und andauern richtig Krach vom Himmel her. Die ohnehin schon gut gefüllten Hallen sind nun mehr als überfüllt, da alle Teilnehmer:innen unter Dach und Schirm Zuflucht vor einem ordentlichen Gewitter suchen. Zwischenzeitlich stehen vor allem im Zentrum Jugend viele der Outdoor-Veranstaltungen auf der Kippe. Das Konzert der Musikanten von O’Bros am Abend aber konnte stattfinden, erzählt mir eine müde-glückliche Helfern in der U-Bahn auf der Heimfahrt.

Am nächsten Tag informiert der Kirchentag, dass durch das Gewitter keine Teilnehmer:innen zu Schaden gekommen sind. Das plötzlich fallende Wasser hat allerdings einige Outdoor-Veranstaltungen unterbrochen: Auch das Interview mit Kristin Jahn, der Generalsekretärin des Kirchentages, auf dem „Roten Sofa“ (hier ist der Blitz-Knall deutlich zu hören). Alle Ehrenamtlichen an den Veranstaltungsorten und Teilnehmer:innen hätten sich vorbildlich verhalten, erklärte am folgenden Tag Mario Zeißig, Vorstand Marketing und Service beim Kirchentag. Und das bei einem Großevent, bei dem ehrenamtliche, zumeist junge Menschen die Security und Orga am Ort übernehmen. Gut Pfad!

Ein paar Impressionen:


Markus Söders Würstchen

Freitag, 9. Juni, Messe

Die Bibelarbeit am Freitagmorgen habe ich geskipped, weil ich am Schreibtisch im Hotel schreiben musste. Nämlich diesen Text für die zeitzeichen, der sich mit dem Zentrum Digitale Kirche in Fürth befasste, wohin ich am Donnerstagnachmittag noch einen Abstecher unternommen hatte. In die Halle 4A zum Podium mit Carla Hinrichs von der „Letzten Generation“ und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) habe ich mich eingedenk des vermutlich großen Andrangs aber so früh begeben, dass ich die letzten Minuten von Markus Söders (CSU) Bibelarbeit noch mitbekommen habe.

Söder ist ein demokratischer Populist, der Säle für sich einnehmen kann – auch wenn es kein Freibier gibt. Auf dem Kirchentag genügte es außerdem zu betonen, man selbst sei ja evangelisch und daher sowieso mit von der Partie. Söder und sein Parteikollege im Amt des Nürnberger Oberbürgermeisters, Marcus König (katholisch), der übrigens mehrere Dutzend Veranstaltungen des Kirchentages besuchte, haben ihre Rolle als Gastgeber emphatisch ausgefüllt: Werbung für Stadt und Land zu machen, ist einer der Gründe, eine Großveranstaltung wie den Kirchentag überhaupt auszurichten. Eben darum beteiligte sich die Stadt mit 3 Millionen Euro (+ bis zu 1 Million Sachkosten) und der Freistaat mit 5,5 Millionen Euro am Gesamtbudget des Kirchentages von 20,5 Millionen Euro.

Zurück zu Söder: Auf zwei seiner Aussagen lohnt es sich doch noch einmal einzugehen, für die er von den Teilnehmer:innen seiner Bibelarbeit herzlichen Applaus erhielt. Darüber habe ich mich doch gewundert.

Söders Kreuzerlass

Zunächst einmal sprach er sich dafür aus, das Kreuz als christliches Symbol offensiv in der Öffentlichkeit zu zeigen. Als ob irgendwer von Rang und Namen gefordert hätte, Christ:innen dürften sich nicht auch durch das Tragen eines religiösen Symbols zu ihrem Glauben in der Öffentlichkeit bekennen. Was den Applaudierenden vielleicht nicht präsent war: Söder meinte damit nicht allein Kirchentagschals und Kreuz-Kettchen, sondern auch Kreuze in staatlichen Foyers und Amtsstuben sowie Gerichtssälen. Scheinbar ist Söders Kreuzerlass von 2018, obwohl das ja erst fünf Jahre her ist, in Vergessenheit geraten. Damals kritisierten u.a. Beatrice von Weizsäcker, Jörg Alt und Burkhard Hose Söder scharf. Hose sagte im Eule-Interview:

„Erhebt eure Stimmen und nehmt das nicht einfach so hin! Wir wollen ein Stopp-Signal setzen, weil wir erleben, z.B. beim Kreuz-Erlass, dass religiöse Themen immer häufiger politisch verzweckt werden. Wir wollen nicht mehr zuschauen, wenn das Kreuz als Abwehrwaffe gegen Muslime und Zuwanderer missbraucht wird.“

Ich hätte gedacht, dass eine solche Haltung eher auf der Linie der Kirchentagsteilnehmer:innenschaft liegt. Nicht der einzige Moment, wo eine konservative Verschiebung spürbar wurde. Kreuze in staatlichen Einrichtungen und vor allem Gerichtssälen sind aber in einer Gesellschaft ein Problem, in der Bürger:innen mit gleichem Recht auch Kippa und Hidschāb tragen dürfen. Na, vielleicht hat Söder sich diesen Applaus auch durch die Unbestimmtheit seines fränkisch-fröhlichen Vortrags ermogelt.

Söders Würstchen-Mogelei

Wo wir schon beim Mogeln sind: Applaus erhielt Söder auch für sein Bekenntnis zur Nürnberger Bratwurst, die es ja leider auf dem Kirchentag nicht gäbe. Keine 100 Meter von seiner morgendlichen Kanzel entfernt konnte man an einem Messe-Imbiss aber selbstverständlich „3 im Weggla“ kaufen (direkt hinter dem Gebäude, in dem sich auch Halle 4A befindet). Im Übrigen sind drei Mini-Bratwürstchen aus der Fabrik in einem trockenen Brötchen für 4 Euro einfach auch nicht der Burner, den Söder meint anpreisen zu müssen.

Viel besser schmeckten Bratwürste und andere Gerichte mit und ohne Fleisch überall in der Stadt, wo sich die Kirchentagsteilnehmer:innen vor allem in den Abendstunden versorgten. An dieser Stelle noch einmal ein Lob der Coburger Bratwurst am Grill des Dekanats Coburg beim „Abend der Begegnung“. Die Evangelischen in Coburg (das nicht nur kulinarisch eigentlich zu Thüringen gehören sollte) schneiden aus konfessionellen Gründen ihre Brötchen übrigens nicht längs, sondern quer auf.

Söder bezog sich mit seinem Bekenntnis zur Wurst während der Bibelarbeit natürlich auf Meldungen in der Presse über das fleischlose Frühstück in den Gemeinschaftsunterkünften und über das „Gläserne Restaurant“ des Kirchentages in Halle 4. Halle 4 und 4A? Genau! Die Bio-Küche des Kirchentages befindet sich ebenfalls in Rufnähe von Söders Bibelarbeitsvenue. Gekocht wurde dort übrigens mit Zutaten aus der Region und aus fairem Handel – und ja, es gab kein Fleisch. Dafür aber zum Beispiel „Bayerischen Reis aus Urgetreidemix, mit Spargel, Rhabarber und Bergkäse“. Ich habe dort im Verlauf des Kirchentages leider nicht gegessen. Die Schlangen von Hungrigen waren dort – wie an allen Imbissen auf dem Messegelände – immer zu lang, als dass ich mir die Zeit einräumen konnte. Übrigens auch für Familien mit Kindern und ältere Besucher:innen eine sichtbare Tortur – wenn man denn hinschaute.

Nun kann Söder ja über Würstchen scherzen wie er lustig ist, aber bei den Fakten könnte er schon bleiben. Allzumal, weil das Essen auch ein sehr ernstes Thema ist. In unserem Land werden tagein, tagaus Millionen von Menschen in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, in der stationären und ambulanten Pflege, auch in Kirchenämtern, Behörden und Ministerien mit Kantinenessen versorgt. Dazu kommen gut 10 % der Werktätigen, die mehrmals in der Woche in ihrem Betriebsrestaurant essen. Deutschland wird in der Mensa satt.

Das bedeutet auch: Der Klimaschutz beim Essen hat im Mensa- und Kantinenessen einen riesigen Hebel. Und genau damit befassten sich während des Kirchentages 60 Küchenmitarbeiter:innen während ihrer Live-Fortbildung im „Gläsernen Restaurant“. Dort erprobten sie an den täglich rund 1.000 Gästen, ob und wie sie die Hungrigen „nur mit saisonalen, regionalen, ökologisch angebauten und fair gehandelten Lebensmitteln versorgen können“. Da nun wirklich alle Kantinen, Mensen und Betriebsrestaurants vor der Herausforderung stehen, unter starkem Kostendruck (s. Inflation) nachhaltig und klimaverträglich und lecker zu kochen, keine schlechte Idee, oder?

Söder meint, darüber harmlose Witzchen machen zu können. Am nächsten Tag hat er in Erding erleben können, wohin die grassierende Unernsthafigkeit und Faktenschwäche von Demokrat:innen auch führt: Dann übernehmen nämlich Trumpisten wie der stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und die rechtsradikale AfD, die von Diskursverschiebungen wie solchen allein profitieren. Applaus, Applaus.


Robert Habecks Kampf

Freitag, 9. Juni, Messe

Gut die Hälfte der Teilnehmer:innen der Bibelarbeit von Markus Söder bleibt gleich in Halle 4a für das Podium mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Carla Hinrichs von der „Letzten Generation“. Die restlichen Plätze füllen sich schnell, am Ende werden es wieder ca. 4.000 Menschen sein, die „im Fleische“ dabei sind.

Der Evangelische Kirchentag ist – mit den Worten eines Journalistenkollegen gesagt – die größte einzelne gesellschaftspolitische Bildungsveranstaltung des Landes. Wann und wo kommen mehr Menschen zusammen, um gemeinsam zu lernen und zu streiten? Auf dem Kirchentag treffen sich Menschen guten Willens. Kaum jemand – vielleicht der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer – trifft auf ein Publikum, das ihm/ihr* nicht prinzipiell wohlgesonnen ist. Als Robert Habeck die Halle betritt, empfängt ihn warmer Applaus.

Kein anderer Vorwurf wird dem Kirchentag häufiger gemacht als der, er würde Politiker:innen und Themen der Grünen unkritisch ein Podium bieten. Der Kirchentag als Fanal einer „linksgrünversifften“ evangelischen Kirche. Diese Kritik unterschätzt zugleich das kritische und empathische Potential verantwortungsbereiter Bürgerlichkeit. Auf dem Kirchentag muss auch ein Bundeswirtschafts – und Klimaschutzminister während „seiner“ Veranstaltung, wie es in den Medien leider viel zu schnell heißt, vor allem zuhören.

Wirklich die „letzte“ Generation?

Zunächst ist Carla Hinrichs von der „Letzten Generation“ dran, der die bayerische Polizei während der bundesweiten Razzien vor ein paar Wochen mit vorgehaltener Waffe in die Wohnung platzte. Hinrich erklärt die Dringlichkeit, der Klimakrise mit politischem Handeln zu begegnen. Deshalb setze man die Politik mit den Klebeprotesten unter Druck. Von Anfang an, so scheint es mir, sieht sich Hinrichs in einer Opferrolle. Angesichts der großen Zustimmung, die ihr mittels Szenenapplaus und einer gespannten Aufmerksamkeit entgegenschwappt, scheint das zunächst deplatziert. Aber sind es nicht doch die Medienkampagnen und die überzogene Verfolgung durch die Sicherheitsbehörden, die die „Letzte Generation“ kriminalisieren? Wird die „Letzte Generation“ durch den Staat viktimisiert, in die Opferrolle gedrängt?

Immer wieder irritierend finde ich das „Ich“ in Hinrichs Rede: „Ich habe erlebt, wie …“, „Ich sehe, dass …“, „Ich fühle …“. Wenn man einmal das „Ich“ gegen ein emphatisches „Wir“ tauscht – „Wir sehen doch, dass …“, „Wir erleben …“, „Wir fordern, dass …“ – würde womöglich eine Tür zu noch größerem Einverständnis geöffnet. Dann würde auch klar, dass ähnliche Forderungen von Dorothee Sölle und anderen Akteur:innen vor Jahrzehnten schon auf Kirchentagen formuliert wurden. Die „Letzte Generation“ ist die bis dato letzte in einer langen Ahnenreihe. Viele hier in der Messehalle wissen, dass es zur Bewältigung des Klimawandels mehr braucht als steile Forderungen und aufsehenerregende Protestformen, denn sie sind zum Teil bereits seit Jahrzehnten auf dem Weg. Ein älterer Teilnehmer erzählt mir nach dem Podium, er habe sich in den 1980er Jahren auch als „letzte Generation“ empfunden und müsse heute bewusst versuchen, über die Anmaßung der jungen Menschen hinwegzuhören, denn inhaltlich hätten sie ja doch Recht.

„Wir werden uns nicht davon abbringen lassen, laut zu sagen, was zu sagen ist“, ruft Hinrichs den Teilnehmer:innen und dem auf dem Podium sitzenden Habeck entgegen. Dafür erhält sie kräftigen Applaus. Ihre Frage „Wer übernimmt Verantwortung, wenn alles auf dem Spiel steht?“ scheint mir im Kirchentags-Kontext ein No-Brainer zu sein: Wer hier zuhört, der weiß, dass man das Feld nicht allein Politik und Wirtschaft überlassen kann. Interessant ist Hinrichs Zuspitzung auf die Klimaschäden, die von den allerreichsten Personen verursacht werden. Die Verknüpfung mit der sozialen Frage kommt bei den Zuhörer:innen sehr gut an. Am Ende ihrer Rede erhebt sich gut die Hälfte von ihnen zu standing ovations.

Nun ist Habeck dran. Er ist erkennbar im Kampfmodus. Der Kirchentag ist der Ort, wo der Klimaschutzminister auf einem Podium mit der „Letzten Generation“ zusammenkommt. Das ist „in unserer Zeit“ (typische Habeck-Floskel) schon ein politisches Zeichen für sich – und fordert den Akteur:innen unterschiedlich viel ab. Habecks Widerwillen wird während seiner Rede mehrfach spürbar, als er den Klebeprotest am Nürnberger Hauptbahnhof vom Morgen kritisiert. „Dieser Protest verhindert eine Mehrheit für Klimapolitik“, diagnostiziert er unter starkem Applaus. Habeck stößt vor allem die Zielungenauigkeit des Protestes auf, der Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder eben zum Kirchentag trifft, eine unbestimmte Allgemeinheit. Hinrichs wird sich später dagegen verwahren, dass ausgerechnet die Regierung, gegen die man protestiere, die Stilkritik des Protestes übernimmt.

Auch die Veranstalter bekommen Habecks Kampfeswillen zu spüren. „Wer hat’s verbockt? Und was machen wir jetzt? – Verantwortung und Schuld in der Klimakrise“ ist die Veranstaltung überschrieben. Aber Habeck will weder in die Vergangenheit schauen, noch Schuld individualisieren: „Bei allem Respekt für die Veranstalter, aber die Frage ‚Wer hat‘s verbockt?“ ist irrelevant!‘. Auch dafür bekommt er kräftigen Beifall. Für seinen Appell zum gemeinsamen Handeln, gegen Apokalyptik und für eine hoffnungsvolle Vision vom Gelingen erhält Habeck zum Schluss seiner Rede ebenfalls stehende Ovationen.

Nicht wenige der Teilnehmer:innen stehen nacheinander für Hinrichs und Habeck zum Beifall auf.

Was sagt uns das? Das Publikum dieses Podiums ist keine enthemmte Klimaaktivist:innen-Bande, sondern ein Durchschnitt des deutschen Bürgertums. (Mehr jedenfalls als die Protestierenden am Folgetag in Erding.) Unter einem starken Rechtsstaat und einer liberalen Demokratie stellt man sich hier etwas anderes vor, als das Eintreten von Türen, den bayerischen Präventivgewahrsam und das Bedrohen friedlicher Demonstrant:innen mit Gewalt. Zugleich neigt man dem Hoffnungs- und Gemeinschaftsnarrativ des Vizekanzlers deutlich mehr zu als der Dramatik und Apokalyptik der „Letzten Generation“.

„Wir solidarisieren uns …“

Doch die Bildungsveranstaltung ist nach Habecks Vortrag keineswegs zu Ende. Nach einem kurzen Intermezzo mit einer Gesprächsrunde, an der auch der ehemalige Siemens-Chef und heutige Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens Energy und Daimler Truck Joe Kaeser und die Wirtschaftsministerin von Nordrhein-Westfalen Mona Neubaur (Grüne) sowie Christiane Averbeck von der Klima-Allianz Deutschland teilnehmen, spricht die Soziologin Anita Engels, die dem „Alle-zusammen-und-dabei-immer-schön-hoffnungsvoll-bleiben“-Narrativ Habecks mit Fakten entgegenhält, dass sich eben doch nur dann etwas bewegt beim Klimaschutz, wenn die Zivilgesellschaft wirklich Druck auf die Politik und diese dann Druck auf die Wirtschaft ausübt. Ihr Thema ist insbesondere die Frage, ob „die“ Gesellschaft überhaupt angemessen handeln kann. Und da bleiben doch erhebliche Zweifel.

Insgesamt hat der Vizekanzler und Klimaschutzminister am Ende mehr als doppelt so lange zuhören müssen als reden können. Das ist doch in unserer Zeit auch schon ein Zeichen, meine ich. Engels wurde bei ihrem kleinen Soziologie-Seminar genauso intensiv zugehört, wie zuvor den Nöten Hinrichs und Politik-Erklärungen Habecks gelauscht wurde. Damit setzt die Veranstaltung performativ den von Mona Neubaur in der Diskussion hingefetzten Satz „Mir muss hier keiner was erklären“ ins Unrecht. Doch, wir haben uns alle viel zu erklären und wir alle haben zu lernen. Das gilt für Protestierende, die als „Letzte Generation“ mit apokalyptischen Pathos aufgeladen auftreten, ebenso wie für Regierende wie Habeck und Neubaur.

Am Ende beschließen die Kirchentags-Teilnehmer:innen in der Halle eine Resolution des Kirchentages (Text), die von Christian Seidel vom Ökumenischen Pilgerweg für Klimagerechtigkeit eingebracht wird. Nur ein Dutzend Hände geht bei „Nein“ hoch, bei „Ja“ derer fast 4.000. Eine politische Willensbekundung, parteiungebunden, dringlich und konstruktiv. Deutschland ist ein glückliches Land. Die Resolution richtet sich an die Politik im Bund, in den Ländern, Landkreisen und Kommunen sowie an die Kirchen und uns alle:

„Wir solidarisieren uns deshalb mit den Bewegungen, die gewaltfrei die konsequente Einhaltung von internationalen Verträgen und nationalen Gesetzen für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit einfordern. […] Wir fordern alle auf, ihr persönliches Verhalten zu prüfen und eine nachhaltigere und solidarische Lebensweise anzustreben.“


Nachtsegen

Gottesdienste und Gebete auf dem Kirchentag

Die oberflächlichsten Kritiken am Kirchentag, z.B. von Frédéric Schwilden in der WELT oder Susanne Gaschke in der NZZ, warten mit der Analyse auf, Spiritualität suche man auf dem Kirchentag vergebens und es ginge mehr ums Klima denn um Gott. Gaschke greift dazu auf eine atemberaubende Auswertung des Kirchentagsprogramms durch den Meinungsforscher Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach zurück, der einfach Wörter gezählt hat. Demnach sei im Programm 95 Mal vom Klima die Rede, von „Gott (ohne Gottesdienst)“ hingegen nur 77 Mal.

Wenn man sich vor Ort nicht oder nur unzureichend umgesehen hat, womöglich vom heimischen Schreibtisch aus wirkt, in dem man in einer Schublade schon Artikelvorlagen zur Lage der Kirche und eine spitze KommentatorInnen-Feder bereitliegen hat, schreibt sich so etwas einfach. Ich selbst habe den Kirchentag vor Ort als sehr spirituelles Event wahrgenommen, obwohl ich es aufgrund der Fülle der Angebote nicht zu Gottesdiensten in den Kirchen geschafft habe. An jeder Ecke wurde gesungen, gebetet und auch gepredigt. 72 Gottesdienste und Gebetsveranstaltungen habe ich im Programm gezählt. Kinder- und Jugendgottesdienste, geistliche Konzerte und Happenings nicht mitgezählt. Alle Gottesdienste und Konzerte waren dem Vernehmen nach gut gefüllt oder sogar „überfüllt“. Hier hat die Verknappung des Programms durch die Organisator:innen also schon gewirkt.

Und die Vielfalt ist groß: Die Seafarers‘ Night der Deutschen Seemannsmission lockte ebenso wie ein Handwerkergottesdienst und ein Salbungsgottesdienst für liebende Paare. Über den KI-Gottesdienst in Fürth (420 Teilnehmer:innen) wurde sogar neugierig von den sog. säkularen Medien berichtet. Zum „Mysterion“-Abendmahl mi Electro-Chill-Music und der Präses der EKD-Synode, Anna-Nicole Heinrich, war die Lorenzkirche in der Nürnberger Innenstadt am Donnerstagabend voll, beim Liturgischen Abend „Ganz bei Trost“ am gleichen Abend waren es 1.500 Teilnehmer:innen. Es gab Theater- und internationale Gottesdienste, Meditationen „mit Baum und Boden“, queer-feministische Andachten, digitale Gottesdienste, Agape- und Feierabendmahle, vor allem zahlreiche Friedensgottesdienste und -Andachten. Das alles übersehen zu wollen, ist einfach ungehörig gegenüber den Teilnehmer:innen.

Ich selbst habe beim Durcheilen der Nürnberger Innenstadt in den späten Abendstunden vor allem von den Nachtgebeten / Kerzenmeeren auf dem Haupt- und Kornmarkt Notiz genommen. Da musste ich einfach stehen bleiben. Wie anrührend diese Nachtsegen waren, zeigt gut dieses YouTube-Video:

Die offiziellen Kirchentagszahlen weisen für die Abendsegen auf den Marktplätzen an jedem Kirchentagsabend zwischen 6.500 und 11.000 Teilnehmer:innen aus. Natürlich fanden an gleicher Stelle zuvor teils große Konzerte statt (Viva Voce / Nürnberger Symphoniker: 11.000 Personen), aber die Menschen sind zu großen Teilen einfach geblieben und haben sich den Segen für die Nacht geben lassen, sangen und beteten. Das mag kaum mehr eine Meldung in den Medien wert sein, aber ich finde es dennoch bemerkenswert.

Es zeigt, wonach Menschen auf dem Kirchentag auch (und vor allem) suchen: Geistliche Gemeinschaft, Besinnung und Stärkung für die mancherlei Mühen der Ebene (auch und besonders für Ehrenamtliche in den Kirchen). Man kann das alles lächerlich machen, aber dann verliert man – als dezidiert „bürgerliche“ Medien allzumal – doch den Kontakt zu den Menschen, die unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht mit ihrem Engagement und Wohlwollen zusammenhalten.

Vielleicht das schönste Beispiel für ein solches Engagement ist die Bläserserenade zum Mitmachen am späten Sonnabend gewesen. Mit der European Tuba Power aus Bad Liebenzell und den Posaunenchören des Kirchentages wurde in die Nacht geblasen. Egal wer sich derzeit emphatisch zur Zukunft der Kirche äußert, seien es konservative Kommentator:innen oder auch so manche:r Kirchenreformer:in, mit den Bläser:innen in den evangelischen Posaunenchören, die es immer noch landauf landab gibt, rechnen sie nicht. Ich meine: Damit haben sie sich verrechnet.

„Flächengold“ Bläserserenade zum Mitmachen mit European Tuba Power, Foto: DEKT / Aslanidis


Der Kanzler kommt – und geht

Samstag, 10. Juni, Frankenhalle (Messe)

Mit Spannung erwartet wurde der erste Auftritt von Olaf Scholz als Bundeskanzler auf einem Kirchentag. Seine Vorgängerin Angela Merkel hatte sich, allzumal gegen Ende ihrer Kanzlerinnenschaft, auf dem Podium des Kirchentages immer besonders nahbar und persönlich gezeigt. Eine Offenheit, die von den Kirchentagsbesucher:innen mit großer Zuneigung belohnt wurde. Scholz hingegen konnte sich für den Kirchentag sichtbar nicht erwärmen. Kirchentagspräsident Thomas de Maizière sprach im Anschluss davon, der Kanzler sei die Kirchentagsatmosphäre „noch nicht gewöhnt“, aber zutreffender müsste man wohl sagen: Der Kanzler schert sich einfach nicht. Weder um das Kirchentagspubklikum noch um die politischen Interventionen der Christ:innen.

Die Frage, ob und wie prominente Politiker:innen auf dem Kirchentag zu Wort kommen sollen, bedarf der weiteren Diskussion. Viele Jahre lang profitierten der Kirchentag als Organisation und die Politprominenz vom – häufig genug – einträchtigen Miteinander. Spricht der Bundespräsident zur Eröffnung des Kirchentages, kommt der Kirchentag in die Hauptnachrichten. Lässt sich der Kanzler zu einem Interview auf einer Bühne des Kirchentages herab, schauen die Medien des Landes hin.

Moderiert wurde das dreiviertelstündige Gespräch mit Scholz von der ZEIT-Hauptstadtjournalistin Tina Hildebrandt. Sie startete mit irritierenden Fragen zur persönlichen Religiosität des Kanzlers, die er ausweichend beantwortete. Extrem positiv ausgelegt könnte man feststellen, dass er sich vom Kirchentag nicht vereinnahmen lassen wollte (er trug auch keinen Schal) noch den Christ:innen eine übergriffige Vereinnahmung für seine Politik zumuten wollte. Er sei Kanzler aller Deutschen, sprach Scholz. Sein Amtseid binde ihn auch an die Verpflichtung, alle religiösen und nicht-religiösen Bekenntnisse unterschiedslos zu schützen.

Die restliche Fragerunde (hier in der ARD-Mediathek) verlief wie ein ZEIT-Salon oder ein beliebiges Sommerfest-Interview. Der Kanzler gefällt sich in der Rolle des intellektuellen Politikerklärers und furztrockenen Machers. Hildebrandt ließ die Kanzler-Show laufen. Der WDR-Journalist und EKD-Synodale Arnd Henze stellte auf Twitter fest, der Kirchentag leide „unter einer Unsitte, die auch andere Veranstalter schon länger trifft: dass das Kanzleramt massiv Einfluss auf die Auswahl der Moderationen nimmt“. Henze hat auf dem Kirchentag selbst Moderationen übernommen, seine Ehefrau war als Anwältin des Publikums bei der Kanzlerrunde tätig. Christoph Strack von der Deutschen Welle kommentierte ebenfalls auf Twitter knapp: „Wieder einmal muss man fragen, warum eine Moderatorin aus dem Berliner Orbit, die spürbar keinen größeren Bezug zum Kirchentag hat, zum sogenannten Gespräch eingebunden wird. #JetztistdieZeit, aber diese ZEIT brauchte es nicht.“

Nur ganz am Schluss, als vermittelt über die Anwält:innen des Publikums doch einmal kritisch zur EU-Flüchtlingspolitik nachgefragt wurde, gab es ein wenig Bewegung: Scholz garnierte seine länglichen Ausführungen über die Vorteile von Zuwanderung für die Wirtschaft, die ihn vor weiteren Nachfragen schützten, mit einer ziemlich herzlosen Anekdote vom Treffen des Europäischen Rates. Sein dort vorgetragener Witz, Deutschland müsse wohl einen großen Mittelmeerstrand haben, so viele Geflüchtete fänden im Land Zuflucht, verfing bei den Kirchentagsbesucher:innen nicht.

Doch wirklichen Unmut ob der Ausführungen der Kanzlers äußerten nur wenige. Scholz redete die ihm warm zugetane Frankenhalle zwar binnen einer halben Stunde kalt, aber es waren nur einzelne Aktivist:innen, die mittels Transparenten und Zwischenrufen auf die Gefahren der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung hinwiesen. Die dpa schrieb im Anschluss, Scholz sei von einem Besucher „regelrecht niedergebrüllt“ worden, er habe „seinen Ton verschärfen“ müssen, „um akustisch überhaupt noch durchzudringen“.

In der Halle selbst stellte sich dieser kurze, nicht einmal eine halbe Minute andauernde Vorfall gleichwohl weniger dramatisch dar: Mouatasem Alrifai, Menschenrechtsaktivist und Mitglied des Nürnberger Rates für Integration und Zuwanderung, stand von seinem Sitzplatz in der Mitte der Halle auf und rief – wie in diesem kurzen Video zu sehen – seine Anklage durch die Halle. Danach verließ er friedlich und ohne irgendeine Auseinandersetzung die Halle. Wenn schon eine solche Meinungsbekundung als Skandal durchginge, hätte sich der Kirchentag vollends von seinem kritischen Potential verabschiedet. In der Berichterstattung des ZDF wurde Alrifais Kritik sinnverstellend wiedergegeben, wogegen er in der Berliner Zeitung protestierte.

Die anderen Besucher:innen konnte Alrifai gleichwohl nicht mitreißen. Die bürgerliche Höflichkeit unter ihnen hat im Jahr 2023 endgültig überhandgenommen. Immerhin erhielt der Kanzler am Ende nur spärlichen Schlussapplaus – deutlich weniger als CDU-Chef Friedrich Merz für seine Bibelarbeit an gleicher Stelle noch eine Stunde zuvor. Im Anschluss an die Matinee auf der Bühne wurde Scholz über den „Markt der Möglichkeiten“ geführt. Nach gut zwei Stunden Kirchentag kehrte er an den Nürnberger Flughafen zurück, wo er der Station der DRF-Luftrettung einen fast ebenso langen Besuch abstattete. Den Mitarbeiter:innen dort sagte er, er „sei berührt von dem Gefühl, dass man sich auf diese Frauen und Männer verlassen könne“. Ähnlich warme Worte für die Christ:innen, z.B. für ihre Leistungen bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten, fand er auf dem Kirchentag nicht.

Kann man sich entfremden, wenn man sich nie wirklich nahe war? Der Auftritt des ehemaligen Konfirmanden, der als einer der wenigen Menschen im Land die Bibel komplett gelesen haben will (noch so ein Moment zum Fremdschämen angesichts des frommen Publikums), zeigte deutlicher noch als andere Podien mit prominenten Politiker:innen auf diesem Kirchentag den Bedeutungsverfall der Kirchen an. Braucht’s ihre Interventionen überhaupt noch, werden sie gehört? Um die Stimmen der Christ:innen hat der Kanzler jedenfalls nicht geworben. Womöglich hält er das für unter seiner Würde. Für wen die „respektvolle Distanz“ zwischen Kanzler und Kirchen am Ende problematischer ist, wird sich erst noch zeigen.


Bisher zum Kirchentag 2023 in der Eule erschienen:


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