„Jetzt ist die Zeit“ – aber wofür?

Der Evangelische Kirchentag will sich den großen Fragen unserer Zeit widmen. Aber traut er sich auch, zu Einsicht und Umkehr zu rufen? Eine Orientierung zum Start des Kirchentages 2023 in Nürnberg:

Heute startet in Nürnberg und Fürth der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag. Das größte Treffen von Christ:innen im deutschsprachigen Raum will Podium für die wichtigen Themen und Akteur:innen der Gesellschaft sein, Ort des lange ersehnten Wiedersehens nach der Corona-Pandemie, Schauplatz attraktiver Konzerte und Kulturevents und nicht zuletzt Raum für Gebet und Gottesdienst bieten. Bisschen viel auf einmal für „nur“ 5 Tage im Juni 2023.

Schon der Apostel Paulus wollte den Heiden ein Heide und den Judenchristen ein Jude sein, also allen alles. Wie dem Apostel ist auch der Evangelischen Kirche eine umtriebige Rastlosigkeit eigen: Sie sucht nach ihrem Platz in einer vielfältigen, auch religiös pluralen Gesellschaft. Sie will sich für wichtige Anliegen verwenden: Den Frieden, den Klimaschutz, die Geflüchteten. Sie will auch ein Zeichen geben, dass ihr Bedeutungsverlust (noch) aufzuhalten ist. Der Nürnberger Oberbürgermeister Marcus König (CSU, katholisch) erhofft sich vom Kirchentag, er möge „dem Glauben den richtigen Glanz geben“.

Die Menschen, die in diesen Tagen nach Nürnberg und Fürth kommen, suchen nach Begegnungen, nach Orientierung, nach Erbauung, nach Unterhaltung. Von all dem bieten das offizielle Kirchentagsprogramm und die Seitenprogramme von Medien, kirchlichen und nicht-kirchlichen Organisatoren, Parteien, Religionsgemeinschaften und Kirchen ein Übermaß. Unmöglich, alles mitzubekommen. Wer den Kirchentag leibhaftig „im Fleische“ besucht, wird sich auch bei dieser Ausgabe des Kirchentages häufig vor schwierige Entscheidungen gestellt sehen, welche Veranstaltung man tatsächlich besuchen wird können. Neben den Podien locken geistliche Veranstaltungen, Konzerte und die Begegnungen beim Schlendern über den „Markt der Möglichkeiten“ und an den – hoffentlich warmen – Sommerabenden. Und warum auch sollten die Evangelischen mit ihrer Buntheit, Themen- und Formatvielfalt hinter dem Berg halten?

Doch der Kirchentag will seit jeher auch Forum sein für die wichtigen gesellschaftlichen Debatten. „Jetzt ist die Zeit“ steht als frohe Botschaft – oder Drohung? – über dem diesjährigen Kirchentag. „Jetzt ist die Zeit“ – aber wofür eigentlich?

Zeit für Einsicht und Umkehr?

Vor 40 Jahren hat der evangelische Theologe Walther Bienert in seiner „Besinnung zum Frieden“ den Bibelspruch, der dem Motto des Kirchentages 2023 zugrunde liegt, noch mit „Ändert eure Gesinnung!“ übersetzt. Das Wort „Gesinnung“ ist völlig aus der Mode gekommen. Mit Herbert Wehner könnte man sagen, die gibt es bei Evangelischen umsonst dazu. Gesinnungsethik ist, sei es in Fragen von Krieg und Frieden oder beim Klimaschutz, in Verruf geraten. In der Lutherübersetzung von Markus 1,15 aber ist nach wie vor von „Buße“ die Rede:

„Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“

2023 heißt es hübsch evangelisch ergebnisoffen: „Jetzt ist die Zeit!“. Zum Glauben an das Evangelium aufrufen, gar zur Buße, das haben die Veranstalter so deutlich dann doch nicht gewagt. (Hier in der Eule hat der Neutestamentler Daniel Hoffmann eine erklärende „Bibelarbeit“ zum Kirchentags-Motto geschrieben.)

Was bleibt vom Gesinnungswandel übrig, auf wie viel Einsicht und Umkehr darf man hoffen? Die Kirchentagsmaschine läuft – nach einem kleinen rein digitalen, ökumenischen Umweg 2021 – wieder in den gewohnten Gleisen. Unaufhaltsam sind auch schon die beiden nächsten Kirchentage 2025 in Hannover und 2027 in Düsseldorf in den Blick der Akteur:innen geraten. Immer weiter, immer so fort. Veränderungen werden beim Kirchentag am offenen Herzen vorgenommen: Er wird beständig digitaler, nachhaltiger, ökologischer, kleiner. Zu Beginn des Kirchentages sind zunächst einmal nur halb so viele Tickets für das ganze Event verkauft (etwa 60.000), als noch 2019 in Dortmund Besucher:innen gezählt wurden. Die Feierlaune will man sich dadurch nicht verderben lassen.

Generationenfragen

Allein Einsicht in die Notwendigkeit wäre auch nicht sexy. Der Präsident des Nürnberger Kirchentages, Thomas de Maizière, verwahrt sich in der ZEIT vehement dagegen, den älteren Generationen die Schuld für die Krisen der Jetztzeit zuzuschieben. Eine mutige Deutung von einem Mann, der von 1990 bis 2018 – also 28 Jahre lang – in Landes- und Bundesregierungen gedient hat. Man möchte meinen, ein ehemaliger Chef des Bundeskanzleramts und Bundeminister der Verteidigung sowie des Innern könnte ein wenig mehr Einsicht in die Folgen des eigenen (Nicht-)Handelns wagen.

Mit seinen Verdikten gegen die jüngere Generation („Anspruchshaltung“) hat sich der Kirchentags-Präsident schönster Boomer-Rhetorik bedient, jedes Vorurteil gegenüber CDU-Politikern bestätigt und sich bei den hunderten ehrenamtlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ohne die kein Kirchentag überhaupt stattfinden könnte, ein Ei gelegt. Dass er im ZEIT-Interview auch ein Lob der Jugend sprach, gerät darüber fast in Vergessenheit: „Dass die junge Generation Druck macht beim Klimathema“, sei „ein Segen“, sprach der Kirchentagspräsident: „Sie ist politisch, argumentiert präzise und ohne Blabla.“

Megathemen der Jetzt-Zeit

Es sind die drei Mega-Themen unserer Gesellschaft in dieser Zeit, die auch die evangelischen Christ:innen bewegen und die auf dem Kirchentag neben vielen anderen Anliegen diskutiert werden sollen: Der Ukraine-Krieg, die Klimakrise und die Flüchtlings- und Migrationspolitik. Sie hängen alle miteinander zusammen und doch stehen sie auch in Konkurrenz zueinander. Wird von diesem Kirchentag ein Signal in die Gesellschaft ausgehen? Wenn ja, zu welchem Thema?

Der letzte Kirchentag „im Fleische“ 2019 in Dortmund endete mit dem Satz „Man lässt keine Menschen ertrinken! Punkt!“, den Pastorin Sandra Bils in der Predigt des Schlussgottesdienstes im Westfalen-Stadion sagte. Dazu gab es die Kirchentags-Petition „Schicken wir ein Schiff“. Im Nachgang des Kirchentages machte sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit ihrem damaligen Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm gemeinsam mit einigen EKD-Gliedkirchen, kirchlichen Werken und vielen engagierten Christ:innen auf den Weg, die Seenotrettung auf dem Mittelmeer ganz konkret und großzügig zu unterstützten. Das Aktionsbündnis „United 4 Rescue“ sammelte so viel Geld, dass tatsächlich ein Schiff geschickt werden konnte. Und dann noch eins. Und noch eins. Dazu viel Geld, dass an andere Rettungshelfer:innen fließen konnte.

Viele Menschenleben konnten so auf dem Mittelmeer gerettet werden. Das ist das Wichtigste. Der Evangelischen Kirche bescherte ihr Engagement für ein „Kirchen-Schiff“ anhaltende Debatten um ihre Positionierung in den Asyl- und Migrationsdebatten. Weil es wegen des Eintretens für die Seenotrettung auch Kirchenaustritte gab, hat sie sich – so Asyl- und Migrationsrechtsexperte Maximilian Pichl im Eule-Interview – „in eine Verteidigungsposition hineinmanövriert“: „Angesichts der Lage müsste man wieder in eine selbstbewusste Haltung kommen, die kirchliche Position wieder stärker in die politische Debatte einbringen.“

Mit dem Treffen der EU-InnenministerInnen am Donnerstag in Luxemburg gibt es sogar einen konkreten Anlass während des Kirchentages, auf den vor Ort mit Demonstrationen und Aktionen eingegangen werden könnte: Die Bundesregierung hat ihre Zustimmung zum neuen EU-Asylsystem bekundet, das eine weitere Verschärfung des Grenzgregimes an den EU-Außengrenzen und die Internierung von Geflüchteten vorsieht. Die Bundesministerin des Innern, Nancy Faeser (SPD), wird aufgrund des InnenministerInnen-Gipfels nicht wie angedacht am Kirchentag teilnehmen können. Dabei ist aber die Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock (Grüne), die am Samstagabend mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck diskutieren wird.

Grün beschalte Polit-Promis

In den kommenden Tagen wird sich die politische Prominenz des Landes in Nürnberg ein Stelldichein geben. Zu erwarten sind wieder reichlich schöne Bilder von Spitzenkräften aus Politik, Wirtschaft und Kirchen, in bunte Kirchentagsschals gewandet, lächelnd, selig. Das fröhliche Miteinander täuscht gelegentlich über Dissens hinweg, den Kirchen und Christ:innen mit der Politik austragen. Der Kirchentag will die Relevanz des christlichen Glaubens für unsere Zeit beweisen und gerät doch in Gefahr, zur Bühne für die Akklamation des Status quo und dessen Akteur:innen zu werden.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird ebenso erwartet wie sein Stellvertreter Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und CDU-Chef Friedrich „Asyltourismus“ Merz. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nahm schon an der Eröffnungspressekonferenz teil, auf der er die „tiefe Krise“ und die „Abstimmung mit den Füßen“ hinaus ausder Kirche sogleich ansprach. Vielleicht kommt auch Söders Stellvertreter Hubert Aiwanger (Freie Wähler) zu einem der von ihm so geschätzten Fototermine vorbei. Vermutlich wird er dabei demonstrativ eine Wurst in die Kamera halten.

Das Fähnlein für die FDP halten die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Nicola Beer sowie die EKD-Synodale und Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg hoch. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hat seine Teilnahme abgesagt und Christian Lindner, der FDP-Parteichef und Bundesminister der Finanzen, hat schon seit langem ein schwieriges Verhältnis zum Protestant:innen-Treff, dem er bereits 2011 „strukturelle Fehlentwicklungen“ vorgeworfen hatte.

Ist jetzt die Zeit für Waffen?

Natürlich gehört auch Kirchentagspräsident Thomas de Maizière zu den Polit-Promis. Er wird den Kirchentag nicht nur offiziell eröffnen, sondern auch auf dem Hauptpodium zum Thema Frieden diskutieren. Der Vorstand des Kirchentagspräsidiums, dem neben de Maizière noch der Bürgermeister von Lutherstadt Wittenberg, Torsten Zugehör, und die ehemalige thüringische Umweltministerin Anja Siegesmund (Grüne) angehören, hatte sich in den vergangenen Monaten deutlich auf die Seite derjenigen evangelischen Akteur:innen gestellt, die Waffenlieferungen an die Ukraine für vertretbar und angeraten halten.

Man darf also gespannt sein, wie auf dem Kirchentag über die Friedensethik im Allgemeinen und den Ukraine-Krieg im Besonderen debattiert wird. Das umfangreiche offizielle Kirchentagsprogramm fällt zu diesem Thema erstaunlich dünn aus. Evangelische Friedensinitiativen präsentieren sich auf dem „Markt der Möglichkeiten“ und laden zu Workshops und Podien ein: Ist damit der evangelischen Vielfalt der friedensethischen Positionen Genüge getan? Auf gleich zwei Podien wird der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer (EKM), sich – wie gewohnt – kritisch zu den Waffenlieferungen verhalten – nicht, ohne dass de Maizière zuvor schon einmal das Feld abstecken darf.

Die prominenteste Stimme derjenigen, die sich gegen Waffenlieferungen aus Deutschland stark machen, fehlt auf diesem Kirchentag: Die ehemalige hannoversche Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann wird nicht dabei sein. Sie habe gleich mehrere Einladungen zu konkreten Veranstaltungen abgesagt, erklärte Kristin Jahn, die Generalsekretärin des Kirchentages.

Der Kairos Gottes und die fränkische Hoffnung

Auch die aktuelle EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus wird aufgrund einer Corona-Erkrankung fehlen. Der Rat der EKD wird in Nürnberg – wie inzwischen ganz generell und überall – vor allem von Anna-Nicole Heinrich vertreten, der Präses der EKD-Synode und dem jungen Gesicht des Protestantismus in Deutschland. Ihr Anliegen ist in den vergangenen Monaten vor allem der Klimawandel gewesen und die damit verbundene Solidarität der Kirche mit der „Letzten Generation“. Wo Heinrich aufkreuzt geht es um Klima und Generationengerechtigkeit. Das birgt, das zeigt nicht zuletzt die Gesinnung des Kirchentagspräsidenten, jedenfalls mehr Irritationspotential als die Eintracht mit der Politprominenz.

Und genau darum, um ein Aufrütteln am „Ende der Endzeit“, einen Auftakt des göttlichen Kairos, müsste es dem Kirchentag 2023 im Sinne seines Mottos ja gehen. Die Zukunft des Protestantismus, so war sich Paul Tillich, der große Denker des Kairos im 20. Jahrhundert sicher, liegt darin, die Grenzen des bloß Kirchlichen und Theologischen hinter sich zu lassen und ganz nach der Situation heute zu fragen, um auf sie eine Antwort der ewigen Botschaft zu geben. Der scheidende bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sprach zu Beginn des Kirchentages vom „jahrtausendalten Orientierungswissen“, das man in die Debatten einbringen könne. Und von einem „Signal an die Welt“, dass „wir zur Veränderung unseres Lebenswandels bereit sind“. Die radikalsten Auslegungen des Kirchentags-Mottos kommen bisher von Bedford-Strohm und Anna-Nicole Heinrich, zwei Lutherischen aus Bayern.

Wenn die Kirche für die Menschen der Jetztzeit eine Botschaft haben will, dann muss sie lernen, dass „Religion in erster Linie eine geöffnete Hand ist, eine Gabe entgegenzunehmen, und erst in zweiter Linie eine tätige Hand, Gaben auszuteilen“, schrieb Tillich dereinst. Der Kirchentag mit seiner einzigartigen Mischung aus Spiritualität und politisch-gesellschaftlicher Debatte könnte der Ort sein, an dem die Kirche genau das (neu) lernt.


Alle Eule-Beiträge zum Evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg.


Die Eule auf dem Kirchentag 2023

Vom 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2023 berichtet Eule-Redakteur Philipp Greifenstein vom 7.-11. Juni aus Nürnberg und Fürth. In einem fortlaufenden Blog wird Philipp „Splitter“ vom Geschehen einsammeln: Kleine Geschichten, Themen und Personen, die andernfalls (und anderswo) keine Aufmerksamkeit bekommen. Und es wird auch kurze „Splitter“ über zentrale Veranstaltungen und Meldungen geben. Gesplittert wird ab Mittwochabend hier.

Außerdem wird es im Magazin einige Artikel geben, die das Geschehen kontextualisieren und die großen Debatten des Kirchentages in Nürnberg abbilden, mit den #LaTdH am Sonntag als Überblick über das Geschehen bis dahin.

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Aktualisiert am 8.6.2023; 6:55 Uhr