Bild: Collage (Olivier Bruchez (Flickr, CC BY-SA 2.0), Kadir Celep (Unsplash), Thierry Ehrmann (Flickr, CC BY 2.0))
Interview Kirche und Antisemitismus

„Wir haben noch viel zu lernen“

Antisemitismus ist eine nicht zu leugnende Realität in Deutschland. Die Evangelischen Akademien haben sich in einem Netzwerkprojekt mit Geschichte und Gegenwart der protestantischen Judenfeindschaft beschäftigt.

Eule: Was ist protestantischer Antisemitismus?

Holz: Der christliche Antisemitismus speist sich schon immer aus der Vorstellung, Gott habe durch den Messias Jesus von Nazareth einen neuen Bund geschlossen, der den alten Bund mit den Juden abgelöst habe. Es gibt bis heute auch evangelische Christ:innen, die glauben, die Juden hätten ihren Messias ermordet. Diese Grundmuster der Abwertung des jüdischen Glaubens und der Juden sehen wir in allen Formen der christlichen Judenfeindschaft.

Eule: Diese Stilfigur findet sich zum Beispiel im Werk des protestantischen Theologen und „Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts“ Friedrich Schleiermacher. Aus welchen Quellen speist sich denn der spezifisch evangelische Antisemitismus?

Holz: Die Abwertung des Judentums finden wir außer bei Schleiermacher eigentlich bei allen evangelischen Theologen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich um eine dezidiert theologische Ablehnung, die den christlichen Glauben der jüdischen Religion für überlegen hält. Der lutherische Gegensatz von Gesetz und Gnade wird mit dem Alten bzw. Neuen Testament, mit Judentum und Christentum in eins gesetzt. Die jüdische Religion wird als gewalttätig, archaisch, als „Stammesreligion“ verunglimpft und als Folie für das Christentum genutzt, das vor diesem Hintergrund als aufgeklärt und friedlich präsentiert wird, als ein Glaube voll Liebe und Gnade.

Neben dieser theologischen Begründung des Antisemitismus finden wir aber bereits bei Martin Luther und seit der Reformation bei vielen evangelischen Theologen auch säkulare antisemitische Erzählungen. Da ist dann von den Juden als Brunnenvergiftern die Rede und die jeweils aktuellen antisemitischen Vorurteile werden in Predigten und theologische Aufsätze übernommen. Es ist also notwendig, in unserer eigenen Geschichte die unterschiedlichen Begründungen für Judenfeindschaft differenziert wahrzunehmen, denn einfach voneinander trennen kann man sie nicht.

Eule: Ich habe den Eindruck, dass Luthers Judenfeindschaft zum 500. Reformationsjubiläum ausführlich thematisiert wurde. Mit der evangelischen Kirchengeschichte nach der Reformation tun wir uns da schwerer.

Holz: Das stimmt. Ein Grund dafür ist sicher, dass uns die Beschäftigung mit dem Antisemitismus zu einer kritischen Betrachtung unserer eigenen Geschichte führt. Eine kritische Betrachtung führt dazu, eigene Glaubensgewissheiten und Überzeugungen in Frage zu stellen. Antisemitismus wahrzunehmen bedeutet, es sich nicht einfach zu machen. Zum Beispiel ist es dann nicht mehr so einfach möglich, Theologen wie Schleiermacher vorbehaltlos zu feiern.

Eule: Welche Formen hat der protestantische Antisemitismus in der Gegenwart?

Holz: Zunächst muss man einmal sagen, dass die evangelischen Kirchen sich seit dem Holocaust und verstärkt seit den 1980er-Jahren ganz deutlich gegen Judenfeindschaft und für die Solidarität mit Jüdinnen und Juden aussprechen. Das ist nach der Geschichte des protestantischen Judenhasses bis zur Shoah nicht selbstverständlich so zu erwarten gewesen. Trotzdem sind unter Protestant:innen die Zustimmungsrate zu antisemitischen Äußerungen ähnlich hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Das Grundmuster von der Abwertung der jüdischen Religion sehen wir heute zum Beispiel bei evangelikalen Christen. Paradoxerweise finden wir diese Form des Antisemitismus auch bei Evangelikalen, die sich als Freunde des jüdischen Volkes und des Staates Israel darstellen. Im Hintergrund steht aber die Überzeugung, die Juden müssten sich schlussendlich zu Jesus Christus bekehren, um gerettet zu werden. Anders als die großen Kirchen setzen sich viele Evangelikale für die Judenmission ein.

Eule: Es gibt daneben auch einen Antisemitismus im Links-Protestantismus, den man wohl am besten als israelbezogenen Antisemitismus begreifen kann.

Holz: Ja, in den 1960er-Jahren hat sich unter linken Christen, die sich mit den Palästinensern solidarisch erklärten, diese Form des Antisemitismus ausgebreitet. In den 1980er-Jahren und danach hat sich das bis in offizielle kirchliche Organisationen wie „Brot für die Welt“ und andere Hilfswerke hineingefressen. Es gibt ihn bis heute und er wirkt gesellschaftlich nach bis in die Israel-Berichterstattung säkularer Medien, auch wenn die Zeit seiner größten Wirksamkeit, denke ich, hinter uns liegt. Gerade den Antisemitismus, der mit berechtigter wie überzogener Kritik an der Politik des Staates Israel verbunden ist, haben evangelische Christen lange nicht ausreichend sensibel wahrgenommen.

Eule: Haben auch die Evangelischen Akademien an dieser Entwicklung einen Anteil? Noch in jüngster Zeit gibt es ja Diskussionen z.B. über die Einladung von BDS-Aktivist:innen.

Holz: Unser Netzwerkprojekt „Antisemitismus und Protestantismus“ war auch so etwas wie eine langanhaltende Fortbildung für uns als Evangelische Akademien. Natürlich haben wir das Thema Antisemitismus immer schon als Teil unserer Programme und Arbeit, aber es war doch wichtig, es als Querschnittsthema durch alle unsere Arbeitsbereiche und Themenfelder zu betrachten.

Dabei ist erneut klar geworden, dass wir wirklich genau hinschauen und differenzieren müssen. Die Akademien als Orte des gesellschaftspolitischen Austauschs kann es nur geben, wenn unterschiedliche Akteur:innen mit ihren Überzeugungen zu Wort kommen – auch wenn wir uns mit diesen ausdrücklich nicht gemein machen. Trotzdem gilt es auch für uns, klare Grenzen zu formulieren. Das ist ein schwieriges Abwägen, das nicht immer gelingt, das aber auch von außen durch verhärtete Positionen belastet wird.

Eule: Woran erkennt man denn den Antisemitismus, der in den Akademien keinen Platz finden soll?

Holz: Im Gespräch ist da immer wieder der sog. 3-D-Test für Antisemitismus. Der ist für eine erste Einschätzung, wenn wir womöglich Antisemitismus im Alltag begegnen, durchaus nützlich. Aber unsere ausführliche Beschäftigung mit dem Thema während des Netzwerkprojekts hat auch gezeigt, dass vereinfachende Kategorisierungen und Zuschreibungen uns nicht weiterführen.

Der Vorwurf ein Antisemit zu sein, gehört ja zu den schlimmsten, die man einem Menschen heute in der Öffentlichkeit machen kann. Man sollte da vorsichtig sein, auch weil uns nicht daran gelegen sein kann, eine unbedachte Äußerung mit umfassendem Judenhass gleichzusetzen. Jede:n Gesprächspartner:in, die antisemitische Sprechfiguren benutzt, direkt eine:n Antisemit:in zu nennen, beendet das Gespräch, in dem ich auf solche problematischen Inhalte erst hinweisen kann.

Eule: Wir gehen auf Weihnachten zu. Da werden wir in den Gottesdiensten wieder aus dem Jesaja-Buch lesen und in dem verkündeten Friedensfürst Jesus Christus erkennen. Ist das nicht kulturelle Aneignung, wie sie derzeit von linken Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen kritisiert wird?

Holz: Ich denke, es kommt darauf an, wie Christen das machen. Wenn wir so tun, als ob es sich bei alttestamentlichen Texten nicht zuerst um jüdische Texte handelt, dann kann es passieren, dass wir das Judentum tatsächlich enteignen. Das Christentum ist dabei bisher auch höchst selektiv vorgegangen. Wir haben uns die schönen Psalmen und die Propheten genommen, aber andere, schwierige Bücher und Stellen liegen lassen bzw. abgewertet.

Eule: Sollte man also auf das Alte Testament ganz verzichten?

Holz: Nein, damit würde man nur nachvollziehen, was antisemitische und völkische Theologen schon immer wollten: Die Reinigung des Christentums von allem Jüdischen. Dabei entstellt man den christlichen Glauben. Wir müssen verstehen, dass uns im Judentum nichts ganz Fremdes, sondern auch etwas Eigenes entgegenkommt.

Eule: Die Kirchen sind immer schnell dabei, sich als Vorreiter zu präsentieren, wenn sie von etwas Wind bekommen haben. Aber mir scheint doch, dass wenn wir das verstanden hätten, wir für viele Zeitfragen besser gerüstet wären.

Holz: Ganz sicher kann uns das einen entspannten Umgang mit verschiedenen Identitäten und Ambiguitätstoleranz auch bei anderen Themen lehren. Die Beschäftigung mit dem christlichen Antisemitismus führt dahin, vereindeutigende Identitätsmodelle generell in Frage zu stellen. Wir sehen, dass diese immer darauf setzen, Teile der eigenen Tradition und Geschichte wegzulassen oder falsch darzustellen. Das Extrembeispiel aus unserer Geschichte dafür ist natürlich der Versuch, Jesus selbst als Arier zu erfinden.

Aber wir sehen dieses identitäre Denken auch in aktuellen politischen Debatten. Denken Sie zum Beispiel an die Beschneidungsdebatte vor ein paar Jahren und an die antisemitischen Vorurteile, die da aufgerufen worden. Von der Beschneidung kleiner Jungen bis zum Kinderdiebstahl durch die Juden, einen bekannten antisemitischen Mythos, ist es da nicht weit – übrigens auch bei ganz und gar säkularen Akteur:innen.

Eule: Müssen Jüdinnen und Juden unsere Lehrer:innen sein? Ich verstehe gerade Vertreter:innen einer neuen Generation von Juden in Deutschland wie Max Czollek so, dass sie sich von der (christlichen) Mehrheitsgesellschaft nicht mehr auf diese Weise vereinnahmen lassen wollen.

Holz: Czollek hat Recht mit seinem Hinweis auf das Gedächtnistheater, in dem Jüdinnen und Juden feste Positionen zugewiesen werden, und wir müssen sehr dankbar sein, dass junge Juden wir er das in die Debatte einbringen. Die Mehrheitsgesellschaft kann ihre Verantwortung nicht einfach auf die Juden abstreifen, und sie auf diese Weise für antisemitische Vorurteile verantwortlich machen.

Das Gedenken an den Holocaust und die Aufarbeitung der deutschen Schuld bleiben wichtige Aufgaben, eine „Normalität“ zwischen Juden und Deutschen kann man nicht einfach behaupten oder erzwingen. Ich glaube aber auch, dass wir in unserer pluralen und multireligiösen Gesellschaft andere Gesprächsfäden knüpfen können, wenn wir das jüdische Leben der Gegenwart in Deutschland in seiner religiösen und nicht-religiösen Vielfalt stärker wahrnehmen.

Eule: Das Netzwerkprojekt Antisemitismus und Protestantismus geht Ende des Jahres zu Ende. Ist es ein Erfolg?

Holz: Ja, unbedingt. Da ist zum einen der, von mir bereits erwähnte, Erfolg als andauernde Fortbildung derer, die in den Akademien arbeiten. Antisemitismus nicht als ein von anderen Zeitfragen losgelöstes Problem und Nischenthema zu begreifen, sondern als Querschnittsaufgabe von Bildung, ist ungemein wichtig. Auf der anderen Seite haben wir viele neue Entdeckungen und Erkenntnisse mit dem Akademie-Publikum teilen können, das hat sich zuletzt auch in unserer Broschüre „Antisemitismus und Protestantismus – Impulse zur Selbstreflexion“ niedergeschlagen.

Eule: Das „Akademie-Publikum“ besteht ja aus vielen grauen und weißen Häuptern …

Holz: Das ist mir zu einseitig und gibt die aktuelle Situation nicht präzise wieder. Natürlich haben die Evangelischen Akademien auch viele weiße Häupter zu Gast, und dafür bin auch dankbar. Aber der personell größte Arbeitsbereich der Akademien ist die gesellschaftspolitische Jugendbildung, mit der wir viele junge Menschen bis Mitte Zwanzig erreichen. Schauen Sie mal auf unserer Homepage unter „Evangelischer Trägergruppe“ nach!

Eule: Nun sind Antisemitismus, aber auch Rassismus oder Antifeminismus ja eigentlich nicht spezifische Jugendprobleme. Ich wundere mich daher immer, wenn in diesen Debatten so sehr auf die Schule und Bildung von jungen Menschen abgestellt wird.

Holz: Das stimmt und in der Tat stehen die jungen Menschen in unserem Land bei der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus zu Unrecht zuerst im Fokus. Ich führe das auch auf eine gewisse Ratlosigkeit zurück, wie wir mit anderen Altersgruppen oder Demografien zu diesen Themen arbeiten können.

Ich kann für die Evangelischen Akademien nur sagen, dass wir uns sehr darum bemühen und die Erkenntnisse aus dem Netzwerkprojekt auch langfristig mit in unsere weitere Arbeit integrieren wollen. Es wird deshalb weiter viele Veranstaltungen und Bildungsformate der Akademien zu diesem Themenkomplex geben.

Eule: Herr Holz, zum Abschluss: Wo sehen sie die evangelischen Kirchen in Deutschland auf ihrem Weg zu einem konstruktiven Umgang mit dem protestantischen Antisemitismus?

Holz: Ich finde es doch immer noch erstaunlich, wie weit wir – auch dank des Dialogs mit dem Judentum – seit dem Holocaust gekommen sind. In allen evangelischen Kirchen positionieren sich Kirchenleitungen und Pfarrer:innen deutlich gegen Judenhass und Ausgrenzung. Das sollten und können wir in den nächsten Jahren mit einer verstärkten Aufarbeitung der antisemitischen Traditionslinien im Protestantismus unterfüttern.

Dazu gehört für mich auch, neuen Hinweisen aus den Wissenschaften und aus der Gesellschaft über das Zusammenwirken christlicher und säkularer Vorurteile nachzugehen. Die Kirchen dürfen sich hier nicht versperren, wir haben noch viel zu lernen. Abgesehen davon ist in der so genannten „Neuen Rechten“ eine zutiefst antisemitische Strömung erstarkt, die auch auf Christ:innen anziehend wirkt. Gegen diese müssen wir das Evangelium wie die Menschenrechte immer wieder neu erklären und verteidigen.


Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.


Schwerpunkt: Antisemitismus

Immer wieder widmen wir uns in der Eule dem Schwerpunktthema Antisemitismus, zuletzt zu „Corona und Antisemitismus“ und dem evangelikalen Antisemitismus, im vergangenen Jahr mit mehreren Beiträgen zum 80. Jahrestag der Gründung des evangelischen „Entjudungsinstituts“ in Eisenach sowie zum Antisemitismus in der DDR und bei Friedrich Schleiermacher. In unserem Newsletter „Links am Tag des Herrn“ beobachten wir den christlichen Antisemitismus kontinuierlich. Alle Beiträge zum Thema Antisemitismus.

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