Von den Kindern lernen
Können wir eigentlich noch Tod? In der aktuellen „Gotteskind & Satansbraten“-Ausgabe geht Daniela Albert der Frage nach, was wir von Kindern über Tod, Sterben und Trauern lernen können.
Derzeit wird vor allem in der evangelischen Kirche über Sterbehilfe diskutiert. Ich selbst tue mich schwer, mir ein abschließendes Urteil zu bilden. Zu viele komplexe Dinge sind abzuwägen – und deshalb höre ich zu und versuche zu lernen. Philipps Erklärungen der Situationen, in denen jemand im Extremfall dabei unterstützt wird, das Ende seines Sterbeprozesses selbst zu bestimmen, haben mir beispielsweise sehr geholfen.
Gleichzeitig frage ich mich, ob in dieser Debatte eine Frage nicht zu kurz kommt: Welchen Platz weisen wir Krankheit, Leiden und dem Sterbeprozess generell zu? Können wir eigentlich noch Tod?
Manchmal habe ich das Gefühl, dass alles, was sich mit der Endlichkeit des Lebens befasst, schwer geworden ist. Sicher: Leicht war das nie. Doch es scheint mir, als fehle es in unserer Gesellschaft zunehmend an Wissen über den Umgang mit Trauernden, Sterbenden oder schwer erkrankten Menschen. Das ist fatal.
Denn bevor wir die Frage beantworten wollen, ob wir assistiertem Suizid einen Platz in unserem Gesundheitssystem einräumen wollen, müssen wir uns vorher mit unserer eigenen Leidensfähigkeit befassen. Mit der des Selbsterleidens, mehr aber noch mit unserer Fähigkeit des Mitleidens. Es ist wichtig zu wissen, ob wir mitleiden können. Wie viel Kraft haben wir am Sterbebett eines unheilbar kranken Menschen? Können wir seine Hand bis zum Schluss halten, den Schmerz und die Angst ertragen, wenn Organe nach und nach versagen und das Leben langsam vor unseren Augen endet? Ertragen wir die Geräusche, die Gerüche, die Ausscheidungen, das allzu Menschliche?
Wie stark sind wir in den Gesprächen über das Unvermeidliche? Können wir den Blickkontakt halten, wenn uns jemand sagt, dass er sterben wird? Widerstehen wir dem Drang zu widersprechen, obwohl wir wissen, dass es so ist?
Können wir die Bekannte, deren Mann am Ende seines Lebens ist, im Supermarkt ansprechen oder verstecken wir uns zwischen Küchenrolle und Mehl, bis sie den Laden verlassen hat? Gehen wir rüber zum Nachbarn, der plötzlich und unerwartet seine Frau verloren hat, auch wenn uns die Worte fehlen? Greifen wir zum Hörer und trauen uns, die Familie anzurufen, die gerade erfahren hat, dass ihr Kind sterben muss?
Dabei bleiben bis zum Schluss
Wenn es Ihnen so geht wie mir, dann möchten Sie jetzt am allerliebsten bei allem fest und bestimmt „Ja, natürlich!“ sagen. Vielleicht ergänzend: „Ich bin schließlich Christ:in. Ich muss den Tod nicht fürchten.“ Und wenn es Ihnen so geht wie mir, dann wissen Sie doch, dass es Ihnen in Wirklichkeit nicht so leicht fällt.
Ich habe einige Menschen sterben sehen, bin dabei geblieben bis zum Schluss. Doch leicht fiel es mir nie. Im Gegenteil. Es fällt mir auch schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn jemand trauert. Schriftlich geht es gerade noch. Persönlich – und dann auch noch im Supermarkt –, allein die Vorstellung lässt mich erschaudern. Mit jemandem sprechen, der mir von seinem Tod erzählt, der unausweichlich kommt? In meinem Wortschatz gibt es keinerlei Vokabeln für solche Gespräche. Ich hoffe inständig, dass ich zumindest auf der nonverbalen Ebene nicht total versage.
Meine Kinder sind da anders. Vor einigen Jahren, ziemlich genau um diese Zeit, stand ich am Küchenfenster und sah hinüber zum Nachbarhaus. Tränen liefen über meine Wangen, denn Tags vorher war meine Nachbarin gestorben. Am Morgen war ich zusammen mit einer Freundin bei ihrem Mann gewesen. Ohne Worte. Immerhin mit Umarmungen. Froh, dass wir zu zweit waren und dass wir irgendwann über unverfängliche Themen sprachen.
Nun war mein Sohn drüben. Allein. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Und genau das war es für ihn. Er war oft bei den beiden, hat Zeit mit den Nachbarn verbracht, und für ihn war völlig klar, um was es ging. Mit einem Bild in der Hand ist er zu unserem Nachbarn gegangen und fast eine Stunde geblieben. Damit er nicht so allein ist. Denn um nichts anderes geht es.
Das Gespräch über wesentliche Dinge
Dass Kinder manchmal ein besseres Gespür haben, als wir Erwachsenen, hat mir auch meine Tochter schon bewiesen. Damals, als die Großfamilie um den Tisch saß und wie beim Tanzen auf rohen Eiern das eine Thema vermied, das unausweichlich war. Sie war es, die sich irgendwann vor meinen Schwiegervater stellte und ihm fest in die Augen sah. „Du musst sterben, oder?“, fragte sie.
Allen blieb kurz das Herz stehen – doch er antwortete einfach und ehrlich. „Ja, leider.“ „Dann bist du bei meinem Uropa Robert“, sagte mein kleines Mädchen, „und bei meiner Katze Mickey“. „Ja“, sagte mein Schwiegervater, „und genau da sehen wir uns irgendwann alle wieder“. Da war es. Das Gespräch über alle wesentlichen Dinge. Über die unausweichliche Wahrheit. Über das, was wir fühlen und glauben. Über Endlichkeit und Trauer. Trost und Hoffnung. Eingeleitet von einer Dreieinhalbjährigen, die kurz darauf in ihrer Kinderküche verschwand, um dem kranken Opa Suppe zu kochen.
Kinder haben oft einen sehr viel natürlicheren und offeneren Umgang mit all diesen Themen. Und ja – als Pädagogin ist mir bewusst, dass es viel damit zu tun hat, dass ihnen schlicht die Vorstellung von Endlichkeit noch fremd ist. Doch das bedeutet ja nicht, dass wir uns von ihnen nicht dennoch etwas abschauen könnten.
Zumindest können wir lernen, dass Worte besser sind als Schweigen, und falls sie dennoch fehlen, das zugewandte Schweigen besser ist als Ignorieren. Dass ein Besuch bei Trauernden besser ist, als sich vor ihnen hinterm Klopapierstapel zu verstecken. Wir können lernen, dass es um die Selbstverständlichkeiten geht: Traurige Menschen lässt man nicht allein. Leidenden spendet man Trost. Kranken kocht man Suppe. Im Umgang mit Sterbenden tut man nicht so, als ginge das Leben weiter.
Ich jedenfalls tue mich leichter mit dem Gedanken an einen assistierten Suizid, wenn ich mich in einer Gesellschaft weiß, die mitleiden kann.
Mit Kindern über Tod und Sterben zu sprechen, fällt vielen Erwachsenen zunehmend schwer. Bereits 2019 hat Philipp Greifenstein in der Eule darüber geschrieben, wie man Kinder in die Geheimnisse von Leben und Tod einführen kann: „Die Schnecke muss sterben“.
Seit wenigen Wochen wird insbesondere in den evangelischen Kirchen und in der Diakonie heftig über den assistierten Suizid gestritten. Dazu sind in der Eule unterschiedliche Debattenbeiträge und -Überblicke erschienen. Alle Eule-Beiträge zur aktuellen Sterbehilfe-Debatte.