Bild: Wandmalerei aus dem 14. Jhd., Katharinenkapelle Landau (DKrieger / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DEED), Porträt Gardei: EKBO

Antisemitismus und Kirche: „Grabe, wo Du stehst!“

Die Wanderausstellung „Von christlicher Judenfeindschaft“ macht Muster christlichen Antisemitismus anschaulich. Ein Gespräch über kirchliche Erinnerungskultur.

Eule: Frau Gardei, in der Sophienkirche in Berlin ist derzeit die Ausstellung „Von christlicher Judenfeindschaft“ der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) zu sehen. Welche Epochen der Christentumsgeschichte werden betrachtet und welchen Schwerpunkt setzt die Ausstellung?

Marion Gardei: Die Ausstellung zeigt Muster christlicher Judenfeindschaft beginnend mit dem Neuen Testament bis in die Gegenwart. Ein Schwerpunkt liegt aber auf dem Mittelalter, weil damals viele antijüdische Legenden, Vorurteile und Beschuldigungsmuster entstanden sind, die bis heute immer wieder auftauchen.

Eule: Warum heißt die Ausstellung nicht „Vom christlichen Antisemitismus“?

Gardei: Der Begriff Antisemitismus wird unterschiedlich definiert. Klassisch wird von Antisemitismus mit Beginn der Neuzeit gesprochen, also etwa ab dem 19. Jahrhundert. Die Judenfeindschaft, die es zuvor bereits gegeben hat, wird als Antijudaismus bezeichnet. Das ist allerdings eine Trennung, die sich so nicht mehr halten lässt, weil der kirchliche Antijudaismus und der politische Antisemitismus eine sehr große Schnittmenge haben. Die Muster kirchlicher Judenfeindschaft haben den Antisemitismus, bis hin zum rassistischen Antisemitismus geprägt, weil er ja hier im christlichen Abendland entstanden ist.

Eule: Wenn in der Kirche statt von Antisemitismus von Antijudaismus gesprochen wird, hat das inzwischen einen verharmlosenden Klang: So als ob Luthers Judenhass mit dem eliminatorischen Antisemitismus des 20. Jahrhundert nichts zu tun hätte.

Gardei: Ich habe das an der Hebräischen Universität von Wissenschaftlern wie Moshe Zimmermann, dem man nun überhaupt keine Verharmlosung vorwerfen kann, auch noch so gelernt. Ganz unsinnig ist die Unterscheidung zwischen einer christlicher Judenfeindschaft auf der einen Seite und dem politischen Antisemitismus ab dem 19. Jahrhundert bei Wilhelm Marr und anderen auf der anderen auch nicht, denn deren Antisemitismus verstand sich als nicht kirchlich. Aber in der Sache geht es immer um die Diskriminierung, Herabsetzung und Verfolgung von jüdischen Menschen und jüdischer Religion.

Eule: Friederike Henjes hat hier in der Eule erst vor wenigen Tagen die Geschichte christlicher Antisemitismuserzählungen nachgezeichnet. In ihrem Text weist sie immer wieder darauf hin, dass Christen ganz konkret von der Ausgrenzung von Juden profitiert haben. Der Judenhass hat den Christen sozial und wirtschaftlich genützt. Inwiefern spielt das in der Ausstellung eine Rolle?

Gardei: Unsere Ausstellung weist den Profit konkret nach, den die Kirche aus erfundenen Erzählungen wie die vom „Hostienfrevel“ oder von Ritualmorden zog. Beim Vorwurf des „Hostienfrevel“ geht es darum, dass behauptet wurde, geweihte Hostien würden von Juden gestohlen und missbräuchlich verwendet. Davon profitierte vor allem das Wallfahrtsgeschäft, wie man zum Beispiel sehr schön an der antijüdischen Gründungslegende des Kloster Stift zum Heiligengrabe in Brandenburg sehen kann. Die wurde erst 200 Jahre nach der Gründung erfunden, weil man neidisch war auf die guten Geschäfte an anderen Wallfahrtsorten. Auch hatte man für den Reliquienhandel im Mittelalter zuweilen zu wenig Märtyrerknochen. Also wurden Geschichten erfunden, in denen Juden Christen umgebracht haben sollen.

Grundsätzlich profitiert das Christentum seit jeher davon, sich vor der Negativfolie des Judentums strahlend abzuheben. Das beginnt an einigen Stellen schon im Neuen Testament, das weitgehend in einer Zeit geschrieben wurde, als das Christentum noch eine Form des Judentums war und die Kirche sich noch nicht gebildet hatte. Später sehen wir das bei Skulpturen wie der gebrochenen, blinden Synagoga, die neben einer strahlenden Ecclesia abgebildet wird.

Eule: Solche Darstellungen finden sich an und in vielen christlichen Kirchen, wie auch sog. „Judensäue“, z.B. an der Stadtkirche in Wittenberg. Bei der Eröffnung der Ausstellung in der Sophienkirche hat Bischof Christian Stäblein abermals dafür geworben, solche antijüdischen Bilder zu entfernen oder sie visuell zu kontextualisieren.

Gardei: Unsere Kirche, von der ich jetzt nur sprechen kann, hat sich bei diesem Thema in den letzten Jahren radikalisiert, aufgrund der negativen Erfahrungen, die wir zum Beispiel mit Wittenberg gemacht haben. Dort hat jahrelang eine Expertengruppe getagt, die am Ende einstimmig eine in meinen Augen sehr gute Lösung vorgeschlagen hat: Die Plastik sollte abgenommen und in einem nahegelegenen Ladengeschäft kommentiert ausgestellt werden. Nur drei Wochen später hat der Gemeindekirchenrat diese Lösung aber abgelehnt.

Als EKBO sind wir deshalb im Bezug auf unsere eigenen Schmähplastiken noch einmal empfindlicher geworden. Zum Beispiel bei der Schmähplastik im Dom zu Brandenburg reicht es uns nicht mehr, sie in Form von Erklärungen zu kontextualisieren. Sie steht zwar bereits jetzt in einem Gang, der zum Museum gehört, aber dennoch wollen wir die verstörende Wirkung der Plastik durch Sichtblenden brechen. Man wird die Plastik weiterhin betrachten können, aber man muss dazu künftig an einer Bildstörung vorbeigehen. Eine unkommentierte Betrachtung wird dadurch unmöglich gemacht. Bei solchen Lösungen ist der Denkmalschutz häufig sehr konservativ. Es ist sehr gut, dass Bischof Stäblein dabei ganz auf unserer Seite steht und durchgesetzt hat, dass wir diese Lösung jetzt in Angriff nehmen können.

Eule: Im Eule-Interview vom Herbst 2022 hat Christian Staffa, der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), erklärt, dass heutige antisemitische Verschwörungsmythen häufig ohne Bezug zu ihren christlichen Ursprüngen verbreitet werden. Ihre Ausstellung wurde von der Kirche konzipiert und findet in einer Kirche statt. Warum ist eine fortgesetzte Beschäftigung mit antisemitischen Verschwörungsmythen in der Kirche wichtig?

Gardei: Viele Menschen wissen gar nicht, dass wir als Kirche die Erfinderin all dieser Muster, Vorurteile und Anschuldigungen gegen Juden sind, weil sie sich zum Teil profanisiert haben. Um die gegenwärtigen antisemitischen Vorurteile zu entlarven, ist es aber notwendig, ihre Geschichte zu kennen. Den Mythos vom „Kindermord“ gibt es noch heute, wenn zum Beispiel im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts Jüdinnen und Juden vorgeworfen wird, palästinensischen Kinder „zu fressen“. Bei einer Demonstration von Corona-Leugnern am Reichstag hier in Berlin wurde ein jüdischer Kameramann von einem Redner mit dem Vorwurf konfrontiert: „Wer hat Jesus umgebracht?“

Wir sehen im erstarkenden Antisemitismus immer wieder, dass die Muster auch des rassistischen Antisemitismus noch lange nicht getilgt sind. Die waren in einer Art Winterschlaf und blühen gerade wieder auf. Nebenbei bemerkt: Einige Muster der christlichen Judenfeindschaft tauchen auch im muslimischen und israelbezogenem Judenhass wieder auf. Das aufzudecken, ist aber nicht vordringlich Aufgabe der Kirche. Wir müssen vor unserer eigenen Tür anfangen.

Eule: Die kirchliche Erinnerungsarbeit muss sich gelegentlich den Vorwurf des „Gedächtnistheaters“ anhören. Bloß zu Gedenktagen an jüdisches Leid und deutsche Verbrechen zu erinnern, genügt sicher nicht. Aber wertlos ist es eben auch nicht, dass Kirchgemeinden zum Beispiel am 9. November oder 27. Januar zu Gedenkveranstaltungen einladen.

Gardei: Den 9. November als Gedenktag an die Novemberpogrome von 1938 und den 27. Januar als Holocaust-Gedenktag haben wir inzwischen in unsere Agende aufgenommen, also in den liturgischen Kalender. Das war ein wichtiger Schritt, den wir übrigens deshalb gegangen sind, weil viele Gemeinden das schon seit vielen Jahren so gehandhabt haben. Deswegen denke ich, dass diese Erinnerung nicht nur ein Schauspiel von Profis ist, sondern in den Gemeinden sehr präsent ist. An kirchlichen Gedenkveranstaltungen wie dem Putzen von Stolpersteinen und Andachten auf Friedhöfen beteiligen sich viele Menschen.

Gleichzeitig müssen wir sicher nach neuen Formen der Gedenkkultur suchen, bei denen zum Beispiel junge Menschen nicht nur Objekt der Belehrung sind, sondern echte Partnerinnen und Partner im Nachdenken über die Frage, was die Geschichte für uns heute bedeuten kann. Das Besondere an kirchlicher Erinnerungsarbeit ist ja die Vergegenwärtigung des Geschehenen, die in unserer Tradition eine große Rolle spielt. Man denke nur an das christliche Abendmahl oder das jüdische Pessach. Das feiern wir nicht allein aus historischem Interesse, sondern wir fragen danach: Was bedeutet das für mich? So wird Erinnern zum Teil des eigenen Erlebens.

Auch scheinbar „altmodische“ Rechercheprojekte über Opfer der Shoah von Schülerinnen und Schülern bleiben deshalb wichtig. Viele Menschen begleitet eine solche Erfahrung ihr ganzes Leben lang, weil es sich dabei um ein ganz anderes Lernen handelt, als etwas in Büchern nachzulesen.

Eule: An dieser Stelle fällt mir – wie auch bei anderen Themen – in der Evangelischen Kirche auf, dass man zwar gedenken will, auch um Vergebung bittet, aber die Aufklärung eigener Schuld und Verstrickungen ausgelassen wird. In vielen Gemeinden steht noch aus, sich mit der eigenen Antisemitismus-Geschichte zu befassen, mit den Pfarrern während des Nationalsozialismus, aber auch mit antisemitischen Bewegungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Gardei: Da hat sich zum Glück auch schon einiges verändert. In den 1990er Jahren ist die Täterforschung verstärkt aufgekommen und weil die Kirche nicht im luftleeren Raum lebt, hat sie auch in der Kirche an Bedeutung gewonnen. Wir haben zum Beispiel eine große Reihe über Täter und Komplizen in Theologie und Kirche in Kooperation mit der Stiftung „Topographie des Terrors“ realisiert.

In fast jeder Gemeinde, in der zum Beispiel eine Festschrift zu einem Jubiläum erscheint, erlebe ich da einen sehr kritischen Blick. Ich begleite solche Prozesse jeden Tag. Wichtig ist, dass wir uns Historikerinnen und Historiker von außen holen, die mit einem kritischen Blick auf die Schwachstellen schauen. Dadurch werden in den Gemeinden auch schwierige Lernprozesse angestoßen. Es gilt das bürgerschaftliche Motto: Grabe, wo Du stehst!

Eule: Wie können wir mit dem antijüdischen Erbe in unseren Kirchen umgehen?

Gardei: In der EKBO haben wir seit zwei Jahren ein Kirchengesetz, das antijüdische, nationalsozialistische und rassistische Darstellungen im kirchlichen Raum verbietet. Das bedeutet nicht, dass wir als eine Art Kunstpolizei durch die Kirchen ziehen und die Sachen abholen. Aber die Gemeinden müssen solche Objekte melden und wir sind verpflichtet, gemeinsam mit den Gemeinden einen Weg zu finden, wie wir mit ihnen umgehen wollen.

Jeder Fall ist anders: Manchmal geht es nur um einzelne Bilder, die man im Kirchenraum dokumentieren und erklären kann. Es gibt aber auch Fälle, wo das nicht ausreicht. Im schlimmsten Fall liegt, wie bei der Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin, ein Gesamtkonzept nationalsozialistischer Ideologie und der Theologie der Deutschen Christen vor. Kirchgemeinden brauchen sicher die Unterstützung ihrer Kirchen, aber wichtig ist vor allem, dass wir miteinander über dieses schwierige Erbe sprechen.

Eule: Die Ausstellung „Von christlicher Judenfeindschaft“ ist noch bis zum 24. März in der Sophienkirche zu sehen. Gibt es für die Wanderausstellung schon weitere Ausstellungsorte?

Gardei: Ja, ab Ende April wird sie in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu sehen sein, es gibt auch schon zwei weitere Anfragen aus Berlin. Ein weiteres Exemplar der Ausstellung wird hoffentlich noch weiter wandern: Wir haben Anfragen aus Cottbus, Fürstenwalde und Görlitz, aber es gibt auch bereits Interesse von jenseits der Grenzen der EKBO.

Auch zwei Schulen haben schon Interesse bekundet, die Ausstellung zu sich zu holen. Das finde ich besonders wichtig! Die Ausstellung hat zwar eine anspruchsvolle Sprache, aber viele Begriffe sind auf den Tafeln erklärt. Sie besteht aus 29 Tafeln, die man in einem Kirchenraum oder in einer Aula gut aufstellen kann. Für den Transport reicht schon ein größeres Auto aus. Die Leihe ist kostenlos, nur um den Transport muss man sich kümmern. Die Ausstellung soll Gespräche am Ausstellungsort anregen und lädt zum gemeinsamen Lernen ein!


Wanderausstellung „Von christlicher Judenfeindschaft“

Die Ausstellung „Von christlicher Judenfeindschaft“ kann von Kirchgemeinden, Schulen und anderen öffentlichen Institutionen ausgeliehen werden. Ansprechpartnerin für Interessierte ist Marion Gardei (E-Mail). Konzipiert wurde die Ausstellung von einer ExpertInnen-Gruppe unter ihrer Leitung und unter Mitwirkung von Rabbiner Andreas Nachama (Eule-Interview von September 2021) und der ehemaligen Präses der EKD-Synode Irmgard Schwaetzer. Kurator der Ausstellung ist der Historiker Bodo Baumunk, die graphische Umsetzung gestaltete Sabine Klopfleisch. Gefördert wurde die Ausstellung über den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, vom Bundesministerium des Inneren.

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Das Artikelbild zeigt ein Detail einer Kreuzigungsszene einer Wandmalerei aus dem 14. Jahrhundert in der Katharinenkapelle in Landau in der Pfalz (DKrieger / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DEED). Typisch für die christliche Judenfeindschaft ist der Judenhut des Mannes mit dem Hammer. Die Darstellung illustriert den christlichen „Gottesmordvorwurf“ gegenüber Juden. Mehr dazu im Artikel von Friederike Henjes hier in der Eule.

Das Interview führte Philipp Greifenstein.