EKD: Verbesserungen für Missbrauchs-Betroffene
Auf der Tagung der EKD-Synode in Ulm wurden Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit im Beteiligungsforum (BeFo) vorgestellt. Es gibt einige Fortschritte, von denen Betroffene zukünftig profitieren sollen.
„Wir werden alte Gewissheiten, gewohnte Strukturen und eingeübte Verhaltensweisen überdenken und verändern müssen“. So formuliert Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst (Pfalz) ihre Erwartungen an die „ForuM“-Studie über sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie, die im Januar 2024 veröffentlicht werden soll: „ForuM wird weh tun.“ Wüst ist Sprecherin der Beauftragten der evangelischen Kirchen im Beteiligungsforum (BeFo) der EKD für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt.
Wenn sich die Evangelischen wirklich zu Herzen nehmen, was die „ForuM“-Studie zeigen wird, dann wird viel in Bewegung kommen müssen. Betroffenensprecher:innen sind sich sicher, dass die Studie die Aufarbeitungs-Diskussionen in den evangelischen Kirchen maßgeblich verändern wird. Sie soll zeigen, welches Ausmaß der Missbrauch in den vergangenen Jahrzehnten hatte. Betroffenensprecher Detlev Zander spricht von Zahlen, die nicht weniger schlimm als in der katholischen Kirche sind. Vor allem aber soll die „ForuM“-Studie Muster des Missbrauchs aufdecken, Spezifika evangelischen Missbrauchs erklären. Das dürfte viele alte Gewissheiten tatsächlich in Frage stellen, vorneweg: Die immer noch weit verbreitete Meinung, sexualisierte Gewalt sei ein katholisches Problem.
Aber die Studie ist nur eines von zahlreichen Projekten, die sich in den evangelischen Landeskirchen und der Diakonie mit Prävention, Intervention, Aufklärung, Anerkennung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen beschäftigen. Über die aktuellen Stand der Arbeit auf EKD-Ebene informierte auf der Tagung der EKD-Synode in Ulm (11.-15. November 2023) das Beteiligungsforum der EKD (BeFo), in dem Betroffene mit Beauftragten der Kirche zusammenarbeiten (Bericht als PDF und als Video).
Das BeFo: Ein Erfolg für sich
Diese Form der Zusammenarbeit ist selbst schon eine Reform gewohnter Strukturen. Die EKD-Gremien (Synode, Rat und Kirchenkonferenz) haben sich dazu verpflichtet, alle Entscheidungen zum Missbrauch in Absprache mit Betroffenen zu treffen. Eine derartige Einbindung von Betroffenen in die Entscheidungen der Organisation, in der sie Leid erfahren haben und Opfer von Verbrechen wurden, ist in Deutschland bisher einmalig. In anderen Tatkontexten lassen sich Institutionen von Betroffenenbeiräten beraten, die aber keine operativen Mitentscheidungskompetenzen haben. Häufig genug fehlt die institionalisierte Beteiligung von Betroffenen ganz. Das BeFo selbst verdankt sich dem Scheitern des EKD-Betroffenenbeirates im Jahr 2021 und wurde im Sommer 2022 eingerichtet (wir berichteten z.B. hier, hier & hier).
Entscheidungen auf EKD-Ebene müssen gleichwohl hernach von den 20 evangelischen Landeskirchen umgesetzt werden. Was im Herbst auf der EKD-Synode als Fortschritt präsentiert wird, hat noch einen monate-, teilweise jahrelangen Gang durch die evangelischen Synoden vor sich. „Da ist keiner mehr in der Kirchenkonferenz (Versammlung der Leitenden Geistlichen und Jurist:innen der EKD-Gliedkirchen, Anm. d. Red.), der die Verbindlichkeit und Dringlichkeit nicht verstünde“, erklärte Wüst dazu vor der Presse. Die rechtliche Umsetzung in den Landeskirchen dauert trotzdem: Die bereits im letzten Herbst angekündigten verbesserten Informationsmöglichkeiten für Betroffene in kirchlichen Disziplinarverfahren zum Beispiel sollen 2024 ins Gesetzgebungsverfahren eintreten.
Auf der Tagung der EKD-Synode in Ulm haben die Sprecher:innen von Betroffenen und KirchenvertreterInnen erneut von ihrer Arbeit berichtet und auf jene Projekte hingewiesen, die kurz vor dem Abschluss – bzw. Start – stehen. Die Sprecher:innen der Betroffenen zeigten sich ebenso wie die Beauftragten der Kirchen zufrieden mit der Arbeit des vergangenen Jahres. Der BeFo-Bericht auf der Synode wurde von der Arbeitsgemeinschaft Synodaltagung des BeFo vorbereitet und enthielt neben Sachstandsberichten auch eine poetische Intervention, im Anschluss waren die Betroffenen auch in die Ausschüsse der Synode eingeladen. Christiane Lange, ein Mitglied der Betroffenenvertretung im BeFo, erklärte, wo auch heute noch zu oft das Problem der Kirche liegt: „Für Betroffene sind Schweigen oder das Nichtwahrnehmen das Schlimmste.“
„Gemeinsame Vereinbarung“ von Kirche und Diakonie mit der UBSKM
Zu den Projekten, die neben der „ForuM“-Studie in den kommenden Wochen und Monaten nach jahrelanger Arbeit endlich abgeschlossen werden können, gehört die „Gemeinsame Vereinbarung“ von Evangelischer Kirche und Diakonie mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM), Kerstin Claus, die am 13. Dezember in Berlin unterzeichnet werden soll.
Sie sieht die Einführung von insgesamt neun regionalen und unabhängigen Aufarbeitungskommissionen vor, an denen alle Landeskirchen und Landesverbände der Diakonie mitwirken. Zu den Aufgaben der Kommissionen wird es gehören, eine quantitative Erhebung des Missbrauchsgeschehens in ihren Regionen durchzuführen und regionale Tatschwerpunkte zu untersuchen. Außerdem werden die Kommissionen Ansprechpartner für Betroffene und die Kirchen und Diakonischen Werke in ihrer Region bei ihren Aufarbeitungsbemühungen sein.
Die Mehrheit der Kommissionmitglieder wird von Betroffenen und externen Expert:innen gestellt, während eine Minderheit von Vertreter:innen der Kirche mitwirkt. Die Vorsitzenden sollen von den Landesregierungen vorgeschlagen werden. Hier hat die Evangelische Kirche aus ihrem Fehler gelernt, von ihr als „unabhängig“ bezeichnete und beworbene Kommissionen doch mehrheitlich mit kirchlichen Mitarbeitenden zu besetzen. Eine Korrektur bei den „Unabhängigen Kommissionen“ (sic!), die für die Bewilligung von Anerkennungsleistungen zuständig sind, steht noch aus (s.u.).
Die „Gemeinsame Erklärung“ wird von Anne Gidion, der Bevollmächtigen des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und der UBSKM, Kerstin Claus, unterzeichnet. Damit schließt die Evangelische Kirche ein Stück weit zur Katholischen Kirche auf, die bereits im Jahr 2020 mit Claus‘ Vorgänger Johannes-Wilhelm Rörig eine solche Vereinbarung (PDF) geschlossen hatte. Partner des UBSKM war damals die Deutsche Bischofskonferenz (DBK), das Erzbistum Köln zum Beispiel unterzeichnete im März 2021. Auch in der katholischen Kirche müssen Fortschritte bei der Aufarbeitung regional überprüft werden.
Annerkennungsleistungen endlich vereinheitlichen
Auch bei den Bemühungen um die Vereinheitlichung der Anerkennungsleistungen gibt es Fortschritte: Alle Landeskirchen haben sich darauf verständigt, die Zahlungen an Betroffene in Anerkennung ihres Leids in Zukunft individuell zuzusprechen. Es dürfe keinen Unterschied mehr machen, fordern Betroffene seit Jahren, in welcher Landeskirche oder in welchem diakonischen Werk sich Missbrauch ereignet hat. Betroffene sollen sich auf ein einheitliches und transparentes Verfahren verlassen können.
Gegenwärtig gibt es hier noch von Landeskirche zu Landeskirche unterschiedliche Vorgehensweisen, manchmal werden Pauschalbeträge gezahlt und die Anerkennungsleistungen sind je nach Region unterschiedlich hoch. Kirchenvertreter:innen sprechen von mittleren und höheren fünfstelligen Beträgen. In den Jahren 2012 bis 2023 wurden beispielsweise in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) nach Informationen der Landeskirche an 20 Betroffene Anerkennungsleistungen in Höhe von insgesamt 352.000 Euro ausgezahlt, im Durchschnitt also etwas mehr als 17.000 Euro. Die Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWUE) hat das Leid der Betroffenen bisher mittels einer Pauschalzahlung von 15 000 Euro „anerkannt“. Auf der EKD-Synode wurde bekannt, dass inzwischen in Einzelfällen auch niedrige sechsstellige Beträge gezahlt würden. Betroffene hingegen berichten von zum Teil aberwitzigen Anerkennungsleistungen im niedrigen vierstelligen Bereich, die ihnen nach mehrjährigen Verfahren zugesprochen wurden.
Die Anerkennungsleistungen sind eine freiwillige Leistung der Kirchen und sind nicht mit einem Schuldeingeständnis verbunden. Grundlage der Leistungen ist die Anerkennung einer institutionellen Verantwortung für Missbrauchstaten, die im Raum der Kirche begangen wurden, die aber vor Gericht nicht (mehr) bestraft werden können. In ihrer Höhe sollen sich die kirchlichen Anerkennungsleistungen an den Schmerzensgeldzahlungen orientieren, die in vergleichbaren Fällen vor Gericht zugesprochen werden. In jüngster Zeit hat sich die Rechtssprechung in Deutschland hier weiterentwickelt und erste Betroffene konnten auf dem Rechtsweg Entschädigungen von bis zu 300.000 Euro erstreiten (s. #LaTdH vom 18. Juni 2023).
Anerkennungsleistungen werden bisher von „Unabhängigen Kommissionen“ (sic!) der Landeskirchen (im Verbund mit ihren diakonischen Werken) zugesprochen (mehr dazu hier in der Eule). Eine erste deutschlandweite Musterordnung, an deren Formulierung noch der EKD-Betroffenenbeirat defizitär beteiligt war, wurde nicht flächendeckend umgesetzt (wir berichteten). Das neue gemeinsame Verfahren, das aber wie bereits üblich von den schon bestehenden regionalen sog. „Unabhängigen Kommissionen“ (sic!) durchgeführt werden wird, soll im Laufe des nächsten Jahres beschlossen werden.
Die Empfehlungen des BeFo: Endlich unabhängig?
Wie das neue Verfahren im Detail aussehen wird, ist noch Gegenstand der Beratungen im BeFo und mit den Landeskirchen, u.a. soll es ein „Recht auf ein Gespräch“ für Betroffene vor der Antragskommission geben, um Nachteile für Betroffene im schriftlichen Antragsverfahren auszugleichen. Auch eine Widerspruchskommission auf EKD-Ebene, an die sich Betroffene wenden können, wird vom BeFo empfohlen. In ihrem Bericht vor der Synode (PDF) empfahl die zuständige Arbeitsgemeinschaft des BeFo auch, „dass Verjährung und Unzumutbarkeit der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen den*die Täter*in keine Voraussetzung des Zugangs zur Anerkennungskommission mehr sein sollten“.
Was Leistungshöhe und -Modell angeht, gibt die Arbeitsgemeinschaft in ihrem Bericht Einblick in die gegenwärtig laufende Diskussion: Im Gespräch ist unter anderem ein Mischmodell, das „einen pauschalen Sockelbetrag mit einer individuellen Leistung verbindet“. Der „Sockelbetrag“ soll das „in allen Fällen vorliegende institutionelle Versagen anerkennen“, „die individuelle Leistung auf Basis der Schmerzensgeldtabellen die Tat und ihre Folgen berücksichtigen“. In der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) wird bisher in vergleichbarer Weise verfahren. Der evangelische Föderalismus muss also nicht zwingend hinderlich sein, sondern kann auch inspirieren.
In jedem Fall sollen die Kommissionen, die für die Bewilligung von Anerkennungsleistungen zuständig sind, nach dem Willen des BeFo endlich unabhängiger werden: Mehr als die Hälfte der Mitglieder sollen keine Beschäftigten von Kirche und Diakonie mehr sein, „bei allen Mitgliedern ist öffentliche Transparenz über kirchliche oder diakonische Ehrenämter bzw. Beschäftigungen herzustellen“, und Mitglieder der Kirchenleitungen der Landeskirchen sollen nicht mehr in den Kommissionen vertreten sein.
Vernetzungsplattform „BeNe“
Neben diesen Reformbemühungen, die vor allem die Institution Kirche betreffen, konnte das Beteiligungsforum auch über die neue digitale Vernetzungsplattform „BeNe“ berichten. Sie soll im Frühjahr 2024 an den Start gehen und wird dann allen Betroffenen aus evangelischen Tatkontexten für den vertrauensvollen – auch anonymen – Austausch zur Verfügung stehen.
Auf der „BeNE“-Plattform sollen für mögliche Betroffene auch alle notwendigen Informationen für die Meldung eines Falls und alle Anschlussfragen gebündelt zur Verfügung gestellt werden. „Es braucht an vielen Stellen transparentere Vorgehensweisen und klarere Strukturen“, forderte Christiane Lange in Ulm. Mit „BeNe“ will man einen Beitrag dazu leisten, „Transparenz und Übersichtlichkeit zu schaffen und Barrieren in der Kommunikation abzubauen“. Die Plattform sei in Rücksprache mit Betroffenen entwickelt worden und soll auch bei laufendem Betrieb auf die Bedürfnisse von Betroffenen hin weiter optimiert werden, versicherten die Betroffenenvertreter:innen im BeFo. Finanziert wird die Plattform von der EKD.
Die digitale Form der Plattform steht leider nicht allen Betroffenen offen: Menschen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Personen, die dem digitalen Austausch skeptisch gegenüber stehen, müsse man anders erreichen, erklärten die Betroffenenvertreter:innen in ihrem „BeNe“-Bericht (PDF). Vor allem aber baten sie um Unterstützung dabei, „BeNe“ bekannt zu machen: „BeNe kann nur so gut sein, wie sie auch genutzt wird.“ Material dafür stellt das Beteiligungsforum zur Verfügung. „Bitte weisen Sie auf BeNe hin, machen sie Werbung, in jeder Gemeinde sollte bekannt werden, dass es BeNe bald gibt.“
Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.
Alle Eule-Beiträge zur Tagung der EKD-Synode in Ulm 2023.
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