Brauchen wir „Väterlichkeit“?
Hans-Martin Gutmann hat ein Buch über „Väterlichkeit“ geschrieben. Ist der Versuch, Vaterschaft vor Rechten und Neoliberalen zu retten, gelungen? Brauchen wir eine „Väterlichkeitsbewegung“?
Neoliberalismus und Rassismus haben steigenden Zulauf. Dagegen muss etwas passieren! Das meint auch Hans-Martin Gutmann, emeritierter Professor für Praktische Theologie in Hamburg, in seinem neuen Buch „Wir brauchen Väterlichkeit. Ein Plädoyer“. Gutmann befürchtet, dass wir „in eine formierte und rassistische Gesellschaft hineinschliddern“, und will dem Väterlichkeit entgegensetzen.
Gegen Rassismus und Neoliberalismus anzutreten, finde ich mehr als unterstützenswert. Da stimme ich im Grundsatz vollumfänglich zu! Aber welches Bild von Väterlichkeit entwickelt Gutmann in seinem Buch? Bei und nach der Lektüre frage ich mich also: Was brauchen wir und was brauchen wir nicht – von diesem Buch? Diese Fragen stelle ich mir als intersektionale Feministin, als eine FLINTA* (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) und auch als Mutter. Mein größtes Irritationsmoment ist nämlich, dass Gutmann Väterlichkeit – trotz allem guten Willen – exkludierend konstruiert. Gehöre ich einfach nur nicht zur Zielgruppe des Buches – oder steckt da mehr dahinter?
Im Buch unternimmt Gutmann dreierlei: Er erzählt (1) von seinem eigenen Leben als Kind eines Vaters, als Vater und Großvater. Dazu stellt er (2) Geschichten aus Büchern und Filmen über Vaterschaft und Väterlichkeit vor. Und aus diesen beiden Elementen leitet er (3) ein Leitbild von Väterlichkeit ab bzw. entwickelt es in Rücksprache mit ihnen. Gegen Ende des Buchs soll Väterlichkeit zunächst politisch eingesetzt werden und zum Schluss wird sie theologisch mit dem Vaterunser gedeutet.
Der „Väterlichkeit“ auf der Spur
Wenn ich kritisch fragen will, ob wir Väterlichkeit überhaupt brauchen können, dann muss ich zunächst danach fragen, was Gutmann unter Väterlichkeit versteht. Was meint Gutmann, wenn er Väterlichkeit sagt?
Zunächst: Väterlichkeit sei ein „Lebensgefühl“, das eine*n durchzieht. Das kann nur dann zustande kommen, wenn mensch entsprechend positive Erfahrungen gemacht hat: „Bereitschaft und Befähigung zu einer Haltung von Väterlichkeit können sich, denke ich, nur aufbauen, wenn ich als Heranwachsender selbst Väterlichkeit erfahren habe.“ (S. 14f.) Mir scheint das Erfahrungskriterium ganz schön exklusiv zu sein. Väterlichkeit bezieht Gutmann allerdings nicht nur auf Vater-Kind-Beziehungen, sondern soll auch überindividuelle Wirklichkeit beanspruchen. Sonst wäre das Politische am Ende des Buches ja auch irgendwie schwer einlösbar.
Väterlichkeit wird im Buch stark durch Geschichten konturiert. Gutmann erzählt von seinem Vater und (Groß-)Vatersein, aber auch von Geschichten, in denen väterliche Figuren vorkommen, zum Beispiel Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“. Dort sind es vor allem die Figuren des „Justus“, also des Hauslehrers, und des „Nichtrauchers“. Ich mag „Das fliegende Klassenzimmer“ sehr gern und ich finde Gutmanns kurze Wiedergabe auch besonders gelungen. Gegenüber weiteren folgenden („Der König der Löwen“, „Harry Potter“, „Game of Thrones“ etc.) sticht sie mir deutlicher hervor und nimmt auch mehr Raum im Buch ein. Attribute von Väterlichkeit sind den Geschichten nach zum Beispiel Zugewandtheit, Zärtlichkeit und Liebe. Das sind ja auch sehr schöne Attribute, aber mir ist nicht so ganz klar, warum all das als „Väterlichkeit“ bezeichnet werden muss. Warum nennen wir es nicht einfach „Menschlichkeit“?
„Väterlichkeit“ und die Politik
Diese Frage stellt sich besonders dann, wenn Gutmann auf die politische Dimension von „Väterlichkeit“ eingeht: Väterlichkeit stellt sich – nach Gutmann – gegen Neoliberalismus und reaktionären Konservativismus, dafür enthält sie „heilsamen“ Konservativismus. Damit möchte Gutmann auch den Linken beistehen (S. 96f.), sogar einen „linken Konservatismus“ formulieren, „um das Lebensgefühl der Leute zu erreichen“ (S. 6). Das gestaltet sich dann so: „Heilsamer Konservativismus sucht und revitalisiert Traditionen (aus Philosophie, Politik, Religion, Kultur), die allgemeine Menschenrechte, Demokratie, soziale Verantwortung begründen.“ (S. 98) Und dann:
„Die Väterlichkeitsbewegung ist offen gegenüber allen Lebensentwürfen und Lebensformen, soweit sie die Würde und den Wert aller Beteiligten achten und fördern, unabhängig davon und in Wertschätzung all dessen, was an kulturellen Formen, an Lebensentscheidungen und Lebensgefühlen von Individuen und sozialen Gemeinschaften entwickelt wird.“ (S. 100f.)
Die Väterlichkeitsbewegung, die Gutmann vorschwebt und zu der er explizit aufruft, ist also eine, die auf Menschlichkeit abzielt, wie sie in den Menschenrechten verbrieft sind. Ich finde es sehr angenehm, dass Väterlichkeit bei Gutmann erstmal nichts Reaktionäres sein soll. Das ist bei einem „alten Mann“ (S. 6) in unserer Zeit ja nicht selbstverständlich. Es hätte mich auch sehr irritiert, weil Gutmann, der ehemalige Assistent der großen Göttinger Theologin Hannelore Erhart, sonst auch echt sehr vom Weg abgekommen wäre. Das passiert gerade nicht wenigen. Aber warum nennt er sein Gegenprogramm zu reaktionärer Ideologie „heilsamen Konservativismus“? Vielleicht will er den Begriff zurück-claimen und nicht den Rechten überlassen.
Gutmanns Väterlichkeit behält für mich dennoch ein Geschmäckle. Er schreibt, er möchte sich nicht mit der Frauen- oder der Genderbewegung anlegen (S. 97). In ihnen sähe er „Kooperationspartner“. I see. Aber wirklich inklusiv ist sein Konzept von Väterlichkeit nicht. Wenn die Frauenbewegung auf jeden Fall etwas ganz anderes ist als das, was er macht, stellt er sich und sein Ansinnen außerhalb des Feminismus. Dafür müssen wir noch einmal einen Blick darauf werfen, was Gutmann über männliche Elternschaft im Buch schreibt.
Binäre (Groß-)Elternrollen führen uns nicht weiter
Aus eigenen biographischen Erfahrungen entwickelt Gutmann ein Leitbild guter (Groß-)Vaterschaft. Dabei sieht er sich keineswegs als strahlendes Vorbild, auch Momente des Scheitern – insbesondere als Vater – spart er nicht aus. Gutmann erzählt von seiner Care-Arbeit für seine damals kleine Tochter, die er während seiner Zeit als Inspektor im Theologischen Stift Göttingen in einer Art WG in der Inspektorenwohnung übernommen hat, als seine Frau mehrere hundert Kilometer entfernt arbeitete (S. 44). Er wehrt sich gegen ein reaktionäres Familienbild:
„Die Vorstellung, dass eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen aus der Natur des Mannes und der Frau erwachsen – und nicht einfach pragmatische Übereinkunft zur familialen Arbeitsteilung sind –, haben lange Tradition.“ (S. 87)
Diese reaktionären Familienbilder halten „den Vater von der häuslichen Arbeit und von der Beziehung zu den Kindern fern […]“, kritisiert Gutmann (S. 90). Dass feste Geschlechterrollenbilder im Grunde alle einschränken, ist auf jeden Fall richtig. Geschlechtsspezifische Unterschiede in Elternrollen sind bei Gutmann auch keine Sache der Natur. Das wäre auch plumper Maskulinismus.
Aber auch wenn „pragmatisch“ zu den Strukturen gefunden wird, in denen Frauen andere Aufgaben übernehmen als Männer, ist dies trotzdem eine Einschränkung von Lebensvollzügen. Gutmann denkt hier zu wenig an die systemischen Voraussetzungen und zu stark an konkrete familiäre Strukturen und eventuell auch persönliche Erfahrungen. Das biographische Erzählen kommt an seine Grenzen.
Ich hingegen denke an den Gender-Care-Gap, weil sich Frauen auch aufgrund der immer noch weit verbreiteten Lohndifferenzen (Gender-Pay-Gap) für längere Elternzeiten entscheiden als Männer. Es herrscht zudem an vielen Orten Kita-Betreuungsnotstand! Das Themenfeld Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben wird von Gutmann überhaupt nicht aufgerufen (dazu hier in der Eule z.B. das Gespräch mit „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumnistin Daniela Albert und mir im „Eule-Podcast“, und Danielas dazugehöriger Artikel), von der Problematik des mental load gar nicht erst zu sprechen (s. hier, hier & hier in der Eule). Diese Leerstellen im Buch resultieren letztlich aus einer binären Rollenverteilung, die Gutmanns pädagogischem Denken zugrunde liegt.
In einer Passage beschreibt Gutmann sein Großvatersein als „Kinder-Kommen-Lassen“ und grenzt sich damit auch von dem Verhalten seiner Frau ab: „Meine Frau ist aktiver im Zugehen und in den Unternehmungsvorschlägen für die Zwillinge; ich habe den ruhigeren Part und warte, bis sie mich von sich aus einbeziehen. Beide Rollen sind notwendig.“ (S. 8) Vorbilder für eine solche Haltung gegenüber Kindern findet Gutmann auch in Erich Kästners Nichtraucher und Justus: „Sie drängen sich nicht in den Lebensalltag der Jungen. Sie sind im Hintergrund da und lassen sich rufen.“ (S. 35) Dadurch würden sie die Selbsttätigkeit der Jungen motivieren, die Gutmann anfänglich als einen der zwei Teile von pädagogischer Beziehung anführt. Der andere ist Präsentation oder Re-Präsentation (S. 14).
In Zeiten, in denen „Helikopter-Eltern“ oder „Curling-Eltern“ herumgeistern, will ich keinesfalls eine zu starke Involvierung herbeiidealisieren, aber mir scheint es doch auch etwas plump und zu kurz gedacht, wenn solche Zurückhaltung und Freiheitsermöglichung vor allem Vätern als Aufgabe zukommen soll. Wer „spielt“ denn dann die andere „Rolle“? Das klingt mir doch schon ziemlich deutlich nach binären Dichotomien. Gutmann beharrt darauf, dass sich Väterlichkeit nicht gegen Mütterlichkeit richtet (S. 97). Aber wie viel binäres Denken in Fürsorgebeziehungen ist wirklich wünschenswert? Bei Gutmanns Väterlichkeitsentwurf handelt sich ja bewusst um ein „Plädoyer“ und keine empirische Untersuchung.
Das setzt sich auch beim zugrundeliegenden Verständnis von Männlichkeit fort: Tatsächlich geht es Gutmann auch darum, dass Männer zu sich finden müssen. „Männliche Initiation“, das mittlerweile schon seit über 20 Jahren als Mythos dekonstruierte Stichwort des Schriftstellers Robert Bly fällt (S. 75). Jungen brauchen auch bei Gutmann Männer, um in Männlichkeit hineinzufinden. Mann- und Vatersein sind bei Gutmann fundamental, wenn auch nicht biologistisch, vom Frau- und Muttersein unterschieden. Er verbleibt in binären Kategorien.
Ein letzter Aspekt: Gutmann erwähnt zwar auch zerstörerische Väter und Mütter (S. 64). Dass aber Väterlichkeit, auch in ihrer vermeintlich freiheitlich-pädagogischen Emphase, in familiären und institutionellen Kontexten, massenhaft missverstanden und missbraucht wurde streift er nur am Rande (S. 74). Da hätte ich mir eine umfänglichere und deutlichere Reflexion der Abgründe von Väterlichkeit in einem Buch eines Praktischen Theologen gewünscht, das im Jahr 2024 unter anderem ausdrücklich den Synodalen der Nordkirche gewidmet ist.
Brauchen wir mehr „Väterlichkeit“?
„Wir brauchen Väterlichkeit“, meint Hans-Martin Gutmann. Ich bin mir da nicht so sicher. Was wir sicher nicht brauchen, sind mehrfache Ausschlusskriterien von einer Lebenshaltung, die eigentlich Menschlichkeit meint. Gutmanns Väterlichkeit ist zwar nicht in einem solchen Sinne biologistisch determiniert, wie es Trans* Exklusive (sogenannte) Radikale Feministinnen (TERFs) und Differenzfeminist*innen tun, wenn sie auf der „Mütterlichkeit“ herumreiten, aber durch die über das biographische Erzählen zentral gestellte Kategorie der Erfahrung schmälert er den Zugang massiv ein. Letztlich baut Gutmann doch Hürden auf, um an seiner „Väterlichkeitsbewegung“ teilnehmen zu können.
Ich brauche keine Väterlichkeitsbewegung, die gegen Rechts, Rassismus und Kapitalismus kämpft. Ich möchte Männer und Väter, die sich selbstverständlich als Teil einer großen Bewegung empfinden und positionieren, die in diese Richtung arbeitet. Wenn Männer und Väter ihren Beitrag zu einer solchen emanzipatorischen, auf die Freiheit aller Menschen, auch von binären Geschlechterrollen, abzielenden Bewegung im Anschluss an Hans-Martin Gutmann als gute „Väterlichkeit“ begreifen wollen, dann: „Do it!“. Aber passt bitte gut auf, dass „Väterlichkeit“ nicht eine exklusive Form von Menschlichkeit bleibt!
Alle Ausgaben von „Sektion F“ in der Eule.
Hans-Martin Gutmann
Wir brauchen Väterlichkeit
Ein Plädoyer
Omnino Verlag 2024
116 Seiten
15 Euro
Verlagswebsite
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