Ohne Antisemitismus predigen

Der Podcast „#lutherserbsen“ will Predigende sensibler für Antisemitismus machen. Hörer:innen rücken in den Episoden ganz dicht an den Alltag zweier Pfarrpersonen heran.

„They hated Jesus because He told them the truth (Gal 4,16)”. Wer gerne etwas zu lange auf Internetplattformen für altgewordene Junggebliebene wie Twitter, 9GAG oder Reddit verbringt, mag dieses Meme kennen. In einem christlichen Comic steht Jesus vor eine Gruppe verärgerte Männer, die wohl jüdische Pharisäer und Schriftgelehrte darstellen soll. Der (christliche) Jesus hat uneinholbar Recht, seine zornigen Kontrahenten liegen falsch.

Diese Szene, das musste ich mir auch selbst eingestehen, reproduziert klassische judenfeindliche Klischees. Zu diesem Zweck wird ein Pauluswort verfremdet, das eigentlich eine Frage ist. Paulus erklärt keine Feindschaft, er ringt um gegenseitiges Verständnis. Wer mit Jesusbildchen hantiert, regelmäßig predigt oder einfach nur gerne mal die Bibel liest, fällt schneller als gewünscht in antisemitische Interpretationen.

Eike Thies und Stefanie Sippel haben Pfarrstellen im Berliner Nordosten und kennen dieses Problem. Deshalb haben die beiden den Podcast „#lutherserbsen“ ins Leben gerufen. Sie meinen: Wer in einer Martin-Luther-Gemeinde Pastor:in ist, könne nicht nur auf dessen theologische Errungenschaften verweisen, sondern sei verpflichtet, den Antijudaismus des Autors von „Von den Juden und ihren Lügen“ zu überwinden.

Der Podcast möchte „Luther mit den eigenen Mitteln schlagen“, also in genauer und gewissenhafter Auslegung der Bibel eben schrifttreuer als der Reformator sein. „Erbsen“ ist, so verstanden, eine etwas weniger pathosgeladene Version von „Erb*innen“

Mehr als das Abhaken von No-Gos

Jeden Monat erscheint eine Folge zum jeweils aktuellen Predigttext, der nach einer Hinführung vorgelesen und dann klassisch auf Verständnisprobleme, Übersetzungsfragen, Interpretationsmöglichkeiten und vieles weitere in einem ruhigem, wohl etwas vorbereiteten Gespräch untersucht wird. Als „Hausaufgabe“ tragen Steffi und Eike ihr eigene Predigtvorbereitung der Öffentlichkeit vor. Die Predigt einer der beiden ist dann auf Instagram abrufbar oder direkt als Podcastfolge nachzuhören. Hier sieht man schön, wie die Ideen aus der gemeinsamen Bibelarbeit auf die digitale Kanzel getragen werden – und wie der eigene Anspruch auf sensibleres Predigen tatsächlich umgesetzt werden kann.

Nicht jede Perikope – so werden die Textabschnitte der Bibeln über die gepredigt wirdn in der evangelischen Kirche genannt – sprüht vor Fallen antisemitischer Reflexe. Manche Episoden scheinen kaum davon zu handeln. Es ist aber die Orientierung an der kirchlichen Praxis, an den anstehenden Sonntagen, durch die dieser Tanz auf zwei Hochzeiten nicht vermeidbar ist. Der Fokus liegt nicht immer auf dem Abhaken von No-Gos, die der Predigttext mit sich mitbringt, viel mehr bekommen wir eine Predigthilfe zu hören, die sich allen Fragen in einem Text zuwendet.

Klar müssen die Kapitel neun bis elf des Römerbriefs als Zeugnis der bleibenden Erwählung von Jüd*innen gelesen werden, auf keinen Fall als Dokument der Überlegenheit des Christentums über das Judentum. Aber auch ein besseres Verständnis der Erzählung von Kain und Abel kann helfen, Vorurteile über Gott im Alten Testament abzubauen. Natürlich ist letzteres im Hinblick auf Antisemitismuskritik nicht ganz so ergiebig wie erstgenanntes.

Ganz dicht dabei

Wozu das alles? Sind die Kirchen von heute durch die lückenlose Aufarbeitung ihrer historischen Verantwortung und ihr ständiges Bemühen um den christlich-jüdischen Dialog überhaupt noch in der Gefahr, antisemitisch zu verkündigen? „Lückenlos“ und „ständig“ sind wohl übertriebene Vokabeln. Die aktuelle Debatte um die sogenannte „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche (hier in der Eule) zeigt, dass auch differenzierte und gutwillige Arbeit an der eigenen Vergangenheit einfache Antworten nicht auf Knopfdruck verfügbar macht und noch viel zu tun ist.

Im Gegensatz zu solchen brennenden Debatten erlaubt die Bibelauslegung für den jeweils nächsten Sonntag eine gewisse Ergebnisoffenheit. Vor diesem Hintergrund fände ich es cool, wenn #lutherserbsen gelegentlich zur Mahnung und Abgrenzung auf negative Beispiele aus der Auslegungsgeschichte des jeweiligen Predigttextes blickt. Das hat freilich auch mit meiner eigenen Begeisterung für die Geschichte der Exegese zu tun. Ebenfalls sinnvoll wäre es, gelegentlich mit jüdischen Gäst*innen ins Gespräch zu kommen.

Die Stimmung von #lutherserbsen ist sehr ruhig, fast schon meditativ, obgleich die Pointen und Einsichten keineswegs einschläfernd, sondern anregend und für mich nicht selten neu sind. So kann diese Predigthilfe, auch nach Selbstauskunft der Sprecher:innen, auch als spirituelles Angebot genutzt werden von jenen, die am Sonntag nicht in den Gottesdienst gehen möchten.

Anlässlich des Krieges in der Ukraine nahmen Steffi und Eike drei Sonderfolgen auf, in der sie vom Engagement ihrer Gemeinden bei der Unterbringung von Geflüchteten berichten und theologische Gespräche über Friedensethik, Gewaltverzicht und die Notwendigkeit von Gewalt führten: Wie reagieren, wenn ein Konfi „Fuck Putin“ auf die Straße sprayen will? Auch hier gelingt ihnen ein Rekurs auf ihr ursprüngliches Anliegen: Was sei denn zu erwidern, wenn ein Israeli aus dem Gemeindeumfeld die differenzierte Position Israels zum Ukraine-Krieg verteidigt?

Auf den ersten Blick folgt „#lutherserbsen“ der Idee eines auf Antisemitismus-Sensibilisierung ausgerichteten Podcast nicht konsequent, liefert aber gerade deswegen ein viel breiteres und nicht weniger ansprechendes Angebot: Wir sind am Predigtalltag zweier Pfarrpersonen ganz dicht dabei. Das Experiment, die aktuelle Predigttextordnung, aktuelles politisches Geschehen und den Gemeindealltag im Lichte einer kritischen Auseinandersetzung mit internalisiertem Antisemitismus zu besprechen, gelingt bisher. Leider nehmen die beiden Hosts des Podcasts grade eine längere Sommerpause. Es wäre sehr schön, wenn es mit „#lutherserbsen“ weitergeht.


#lutherserbsen auf podcast.de, bei Apple Podcasts, Spotify und Anchor.fm.


#abgehört: Podcast-Kritiken bei der Eule

In unserer Serie „#abgehört“ stellen wir seit 2017 Podcasts vor: Podcasts zu klassischen Kirchenthemen und solche, die Neuland betreten. Podcasts, die von Theolog:innen gemacht werden und sich um Bibel und Predigt drehen, und Podcasts zu (Rand-)Themen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen. Seit 2022 schreibt Frederik Ohlenbusch für uns frische Podcast-Kritiken.

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