EKD zur Abtreibung: Eine ehrliche Debatte führen
Die Debatte um eine gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs wird innerhalb der Kirchen heftig geführt. Dabei geht viel durcheinander. Eine Runde Housekeeping.
Kurz bevor die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Ulm zu ihrer jährlichen Tagung zusammenkommt, wird in den evangelischen Kirchen über die Positionierung zum Schwangerschaftsabbruch gestritten. Juristische, theologische, verantwortungsethische und kirchenpolitische Argumente und Befindlichkeiten werden ins Feld geführt, Sprecherpositionen nicht ausreichend geklärt: Der Streit gibt kein gutes Bild ab, was die Debattenfähigkeit der Protestanten angeht.
Äußerer Anlass der Diskussion ist eine Stellungnahme des Rates der EKD gegenüber einer von der Bundesregierung eingesetzten Kommission, die bis zum Frühjahr 2024 Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches prüfen soll. Die Stellungnahme des Rates wurde auch veröffentlicht (s. hier). In einem längeren Debattenbeitrag haben es in der vergangenen Woche die profilierten EthikerInnen Reiner Anselm, Petra Bahr, Peter Dabrock und Stefan Schaede in den zeitzeichen unternommen, der Stellungnahme theologisch-ethische Erklärungen hinzuzufügen.
Nachdem sich zuletzt auch der Württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl mit einem Gastbeitrag an gleicher Stelle zu Wort gemeldet hat, ist ein wenig Housekeeping angesagt. Mir geht es nicht um die inhaltlichen Argumente: Zur Frage, ob und wie die EKD-Stellungnahme eine Veränderung der bisherigen EKD-Position darstellt und wie sie mit anderen evangelischen Positionierungen korrespondiert, hat Carlotta Israel hier in der Eule bereits geschrieben. Und A. Katarina Weilert hat es ebenfalls hier im Magazin unternommen, die EKD-Stellungnahme juristisch und im Hinblick auf die weitere gesellschaftliche Debatte zu untersuchen. Niklas Schleicher schließlich hat sich den Artikel von Anselm, Bahr, Dabrock und Schaede hier in der Eule genau angeschaut, die Kernpunkte ihrer Argumentation herausgearbeitet und noch offene Fragen formuliert.
Aber wie ist es um die Qualität der evangelischen Debatte bestellt und wie könnte sie besser geführt werden?
Das Ökumene-Argument
Von Kritikern der EKD-Stellungnahme wie Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl (ELKWUE) und dem Wiener Professor für Systematische Theologie Ulrich H.J. Körtner wird eingewandt, die Evangelische Kirche entferne sich durch die Stellungnahme vom „bisherigen ökumenischen Grundkonsens“ zum Schwangerschaftsabbruch. Gohl hat gemeinsam mit seinem römisch-katholischen Bischofskollegen Gebhard Fürst (Diözese Rottenburg-Stuttgart) in diesem Sinne in dieser Woche eine Erklärung veröffentlicht (PDF). Auch weitere Kritiker aus der römisch-katholischen Kirche beklagen diesen – neuerlichen – Dissens in der gesellschaftspolitischen Positionierung der beiden großen Kirchen. Einige von ihnen allerdings deutlich unter dem gewünschten Debattenniveau (s. „Debatte“ in den #LaTdH vom 22. Oktober 2023). Aber hält das Ökumene-Argument einer genaueren Betrachtung überhaupt stand?
Gohl, Fürst und weitere Akteure beziehen sich, wenn sie vom „bisherigen ökumenischen Grundkonsens“ sprechen, vor allem auf die Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Evangelischen Bischofskonferenz (DBK) aus dem Jahr 1989 unter dem Titel „Gott ist ein Freund des Lebens“ (hier). Gemeinsame Erklärungen von DBK und EKD zu wichtigen ethischen, sozialen und politischen Fragen haben in Deutschland eine gute Tradition. Erinnert sei an das Gemeinsame Wort „Migration menschenwürdig gestalten“ von 2021 (PDF, wir berichteten), das in diesen Tagen so aktuell und notwendig wie zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung ist, oder die fast zeitgleich mit der EKD-Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch veröffentliche Gemeinsame Stellungnahme zum Referentenentwurf für ein Gesetz zur „Verbesserung der Rückführung“ (hier). Dass die beiden großen Kirchen gemeinsam – und gelegentlich im Verbund mit weiteren christlichen Kirchen – in die Gesellschaft hinein und zur Politik sprechen, ist in unserer weltanschaulich pluralen Gesellschaft notwendig und gut.
Aber die Gemeinsamen Erklärungen stehen nicht im Rang von Lehrdokumenten: Weder in der evangelischen Kirche, die in solchen Fragen überhaupt keine einheitliche Lehrautorität kennt, noch in der römisch-katholischen Kirche, wo das ordentliche Lehramt von den Bischöfen in Gemeinschaft mit dem Papst ausgeübt wird. Einen „ökumenischen Grundkonsens“ zwischen römisch-katholischer Kirche und evangelischen Kirchen gibt es zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs in Kirchenlehre und Praxis nicht.
Das können auch kirchenpolitische und theologische Laien schon allein daran erkennen, dass die Beratungsstellen der Diakonie im Schwangerschaftskonflikt jene Beratungsscheine ausstellen, die zu einer straffreien Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche nötig sind, die Beratungsstellen der Caritas hingegen nicht. Dass es mit „Donum Vitae“ einen eigenständigen Verein gibt, der von katholischen Christen 1999 in Reaktion auf das vatikanische Verbot der katholischen Beteiligung an der Schwangerschaftskonfliktberatung gegründet wurde, stellt diesen Befund nicht in Frage – auch wenn es erfreulich ist, dass „Donum Vitae“ inzwischen auch von einzelnen römisch-katholischen Bischöfen Wertschätzung erfährt.
Die Verteidiger des „ökumenischen Grundkonsenses“ meinen aber erkennbar nicht die unterschiedliche Beratungspraxis in den Wohlfahrtsverbänden der beiden großen Kirchen. Ihnen geht es – wohlwollend interpretiert – um den theologischen Kompromiss, der vor 34 Jahren erzielt wurde, und der durch das vatikanische „Nein“ zur zwischenzeitlich ja in ökumenischer Eintracht verantworteten Schwangerschaftskonfliktberatung ohnehin in Frage gestellt ist. Diesen theologischen Kompromiss aber wird man – wie es z.B. Anselm, Bahr, Dabrock und Schaede tun – angesichts der diakonisch-caritativen und gesellschaftlichen Realität, in der es jedes Jahr ca. 100.000 Abtreibungen in Deutschland zu verzeichnen gibt, kritisch hinterfragen müssen.
Darüber hinaus muss man 2023 sicher auch fragen, ob ein „ökumenischer Grundkonsens“ oder selbst nur ein ökumenischer Kompromiss ohne die Beteiligung weiterer christlicher Konfessionen überhaupt als solcher firmieren kann. Die Welt ist groß und bunt und auch wenn die beiden großen Kirchen in Deutschland fast 90% der Christen hierzulande umfassen, geht das Christentum nicht in ihren Synoden- und Kirchenleitungsbeschlüssen (evangelisch) oder Bischofsworten (katholisch) auf. Wie die EKD-Stellungnahme zurecht andeutet, ist der Schwangerschaftsabbruch auch ein Thema für den interreligiösen Dialog mit Muslimen und Juden. Gerade von der jüdischen Theologie ließen sich auch wertvolle Impulse für eine biblisch-theologische Arbeit gewinnen, die bisher im deutschen Diskurs weitgehend außen vor bleiben.
Die „Woche für das Leben“-Nebelkerze
Sowohl von Körtner als auch von römisch-katholischen Akteuren wird in die aktuelle Debatte das Auseinandergehen von EKD und DBK bei der Organisation der „Woche für das Leben“ als ein weiteres Beispiel für den zunehmenden Dissens beim Thema Lebensschutz eingebracht (s. #LaTdH vom 22. Oktober sowie vom 2. Juli & 9. Juli). Die beiden Diskussionen stehen nur in einem losen Zusammenhang miteinander.
Von der „Woche für das Leben“ hat sich die EKD vor allem deshalb verabschiedet, weil ihr das Format eines thematischen, auf mehrere Tage und Veranstaltungen ausgedehnten Events zu Themen des Lebensschutzes überlebt schien. Wenn man einmal realistisch auf die mediale und gesellschaftliche Wirkung der „Woche für das Leben“ in den vergangenen Jahren schaut, kann man dieser Diagnose nur zustimmen. Auch eine maßgeblich von der evangelischen Seite angestoßene konzeptionelle Weitung, die den Schutz des ungeborenen Lebens als einen Bereich eines ganzheitlichen Lebensschutzes auffasste, hat daran nichts ändern können. Wenn schon, hat sich das Format dadurch in Beliebigkeit verloren, so wichtig zum Beispiel die Thematisierung der Sterbehilfe oder der Lage junger Menschen in unserer Gesellschaft für sich genommen auch sind.
Kirchenpolitisch hat die EKD mit ihrem Abschied einer Neustruktuierung des Veranstaltungskonzepts höchstens vorgegriffen. Auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche wurde bereits seit längerem über Sinn und zukünftige Gestalt der „Woche für das Leben“ debattiert. Die sicher suboptimale wechselseitige Abstimmung in dieser Frage reiht sich ein in eine inzwischen stattliche Abfolge von Schienbeintritten, die sich EKD und DBK öffentlich in den letzten Jahren versetzt haben. Ursächlich dafür ist vor allem der in beiden Kirchen wahrgenommene Schwund an Mitgliedern und gesellschaftlicher Bedeutung. Man will sich halt auch mal auf Kosten des je anderen profilieren. Auch gibt es von einzelnen evangelischen Akteur:innen gelegentlich unkoordinierte Versuche, sich stärker von der krisengeschüttelten römisch-katholischen Kirche abzusetzen.
Von Seiten der Katholiken wird gewohnheitsmäßig ohnehin selten in Richtung der evangelischen Kirchen geschielt. Der Synodale Weg der katholischen Kirche in Deutschland kam weitgehend ohne Begleitung oder gar Input von Seiten der evangelischen Freunde aus. Selbst die liberalen Wegegänger:innen versuchen den Anschein zu vermeiden, ihre Reformforderungen verdankten sich irgendeiner evangelisch-konfessionellen Inspiration. Dass auch reformerisch gesinnte Bischöfe, wie der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing (Limburg), die Evangelischen zu mehr Zusammenarbeit bei allen ethischen Themen mahnen, darf in diesem Kontext verwundern. Evangelische Beiträge zu den katholischen synodalen Wegen und Prozessen sind unerbeten, aber die Protestanten sollen wegen einer Stellungnahme gegenüber einer Regierungskommission ein Konzil einberufen?
Dass der EKD nun ausgerechnet bei der „Woche für das Leben“ zum Vorwurf gemacht wird, einmal der strategischen Kommunikation den Vorrang vor dem geschwisterlichen Gleichschritt in die Irrelevanz gegeben zu haben, darf man also getrost als Nebelkerze im Diskurs verstehen. Darüber hinaus bleibt es den römisch-katholischen Bistümern und evangelischen Landeskirchen unbenommen, das Format regional gemeinsam weiterhin durchzuführen, was der württemberische Landesbischof Gohl bereits im Sommer sogleich angekündigt hat. Die EKD ist nämlich keineswegs die Alleinvertretung der Evangelischen und ihr Rat ganz sicher keine „Kirchenregierung“, wie es auch in kirchenfinanzierten Medien fälschlicherweise zu lesen ist.
Die Evangelische Uneinigkeit
Über einen weiteren Dissens in der aktuellen Debatte wird derzeit viel weniger (laut) gesprochen als über den zwischen römisch-katholischer Kirche und EKD: Die aktuelle Positionierung der Diakonie Deutschland weicht in wichtigen Punkten von der zeitgleich erarbeiteten EKD-Stellungnahme ab, besonders augenfällig in der Frage der Beratungspflicht. Der Rat der EKD empfiehlt in seinem Schreiben an die Kommission der Bundesregierung eine verpflichtende Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch, die Diakonie Deutschland hingegen „tritt für die Abschaffung der Beratungspflicht ein und fordert, dies zwingend mit einer Garantie des Beratungsangebots zu verbinden“.
Auch die Diakonie will demnach nicht einfach auf eine „Beratungspflicht verzichten“, wie Landesbischof Gohl in seinem zeitzeichen-Artikel verkürzend schreibt, sondern verbindet die Forderung nach deren Abschaffung mit einer weitreichenden gesellschaftspolitischen Zielformulierung. A. Katarina Weilert hat in ihrem Artikel hier in der Eule die Argumente des Rates der EKD für eine Pflichtberatung ausdrücklich gewürdigt, allerdings auch kritische Nachfragen zur intendierten Durchführung ohne strafrechtliche Bewehrung der Abtreibung gestellt, wie sie die EKD-Stellungnahme bis zur 22. Schwangerschaftswoche empfiehlt. Ob ein flächendeckendes und qualitativ hochwertiges Beratungsangebot ohne eine Pflicht zur Nutzung desselben überhaupt beibehalten (oder regional neu etabliert) werden kann, ist eine weitere wichtige, sich daran inhaltlich anschließende Frage.
Der Diakonie Deutschland als Spitzenverband der evangelischen Wohlfahrtspflege gehören 17 Diakonische Werke, mithin hunderte diakonische Unternehmen und tausende Einrichtungen aus den evangelischen Landeskirchen und manchen evangelischen Freikirchen an. Sie spricht weder für die Evangelische Kirche noch ist sie die Leitung der diakonischen Werke und Einrichtungen. Die Diakonie Deutschland ist für die politische und gesellschaftliche Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder verantwortlich. Über Positionierungen wie die aktuelle in der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch wird innerhalb der Diakonie in Deutschland weiterhin gerungen.
Die Diakonie Deutschland hat der Veröffentlichung ihres Fachpapiers darum auch einen Disclaimer vorangestellt, aus dem hervorgeht, dass die darin vertretenen Positionen „nicht die umfassende Position der Diakonie“ darstellen. Der seit einigen Monaten laufende innerdiakonische Diskussionsprozess wird ebenso fortgesetzt wie die Abstimmungsrunden mit der EKD, das alles „soll in eine ausführliche Stellungnahme münden, wird theologische und sozialethische Fragestellungen berücksichtigen und die Thematik umfassend beleuchten“.
„Lasst uns nochmals reden!“
Die evangelische Uneinigkeit allerdings reicht tiefer als der Dissens zwischen EKD und Diakonie Deutschland: Sie ist für den Protestantismus geradezu konstitutiv. Es gibt kein einheitliches Lehramt in den evangelischen Kirchen, Kirchenleitung wird in den Landeskirchen von Synoden, Kirchenleitungen und Leitenden Geistlichen kollegial ausgeübt und bio- und medizinethische Fragen stehen nicht im Rang von Bekenntnisfragen.
Wenn Landesbischof Gohl fordert „Lasst uns nochmals reden!“ insinuiert das mindestens, die evangelische Debatte sei durch die Übersendung der Stellungnahme des Rates der EKD an die Regierungskommission irgendwie zu einem Abschluss gekommen. Das ist mitnichten der Fall. Nicht nur enden evangelische Debatten sowieso nie, auch antwortet Gohl ja explizit auf einen Diskussionsbeitrag von vier TheologInnen, die der Stellungnahme des Rates die so dringend vermissten ethisch-theologischen Argumente hinzufügen wollen. Auch in der EKD-Stellungnahme selbst wird – wie im Fachpapier der Diakonie Deutschland – auf die Vorläufigkeit der Ergebnisse hingewiesen und eine weitere Befassung angekündigt (s.u.).
Für die Öffentlichkeit jenseits der evangelischen Landeskirchen und ihrer Leitungskreise ist die Vielfalt evangelischen Zeugnisses in der Gesellschaft seit jeher eine Herausforderung, umso mehr, da zunehmend Kenntnisse über die innere Verfasstheit der evangelischen Kirche bei Medienschaffenden und in der Bevölkerung fehlen. Das sollte aber nicht dazu führen, dass wir den evangelischen Diskurs „eindummen“.
Von Rat, Synode und „Kammernetzwerk“
Diakonie Deutschland und Rat der EKD wollen einen „breit angelegten Meinungsbildungsprozess“ (weiter-)führen. Auch Anselm, Bahr, Dabrock und Schaede verstehen ihren Artikel als Teil dieses Prozesses, an dem sie im Übrigen auch innerinstitutionell beteiligt sind. An dieser Stelle drängen sich einige kritische Nachfragen zu den gegenwärtigen Prozessen evangelischer Meinungsbildung auf:
Die Evangelische Kirche arbeitet arbeitsteilig. Nicht nur beraten und beschließen die 20 Gliedkirchen der EKD selbsttätig in ihren Synoden Kirchengesetze, sie diskutieren und empfehlen auch selbstständig ethische und gesellschaftspolitische Themen. Das findet auch weiterhin statt, obwohl es nur in den allerseltensten Fällen Aufmerksamkeit findet, selbst innerhalb der jeweiligen Landeskirchen. Hinzu kommt der Lobbyismus der Evangelischen Kirche in Berlin und Brüssel: Die Bevollmächtigte des Rates bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Anne Gidion, und ihre Mitarbeiter:innen sind permanent mit der Erarbeitung von Expertisen und Gesprächen mit Politiker:innen befasst. Inhaltlich orientiert sich diese Arbeit, die en detail (und weil es manchmal schnell gehen muss) in hoher Eigenverantwortlichkeit ausgeführt wird, an den Beschlüssen der EKD.
Diese wiederum werden im besten Falle von EKD-Synode, Rat und Kirchenkonferenz (den leitenden TheologInnen und leitenden JuristInnen der Gliedkirchen) gemeinsam gefasst. Hier besteht also qua Grundordnung der EKD eine große synodale und gliedkirchliche Rückkopplung. Der Württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl kritisiert in seiner Replik auf Anselm et al. ausdrücklich, dass „zentrale Positionen ohne Abstimmung mit der Synode und den Gliedkirchen einfach neu konfiguriert“ würden. Im Falle der EKD-Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch mag es so gewesen sein, in anderen Fällen wird dies aber billigend – gerade von den Gliedkirchen – in Kauf genommen.
Die Klimaschutzrichtlinie der EKD zum Beispiel wurde den EKD-Synodalen im vergangenen Jahr mundgerecht von Rat und Kirchenkonferenz angereicht, mit dem sanften Hinweis verbunden, man solle doch an den bereits verabredeten Kompromissen auf der Synodentagung möglichst nichts Grundlegendes mehr ändern. Dass sie überhaupt diskutiert wurde, war nur dem Antrag des Synodalen Arnd Henze zu verdanken (s. Live-Blog von der EKD-Synode ’22). Verschärft wurde sie kaum. Vor allem gibt es aber kein EKD-Klimaschutzgesetz, zu dessen rechtlicher Umsetzung die Landeskirchen verpflichtet wären. Kirchenkonferenz rulez.
Beim Schwangerschaftsabbruch fühlt sich der Landesbischof aus dem Südwesten übergangen, und man kann das gut nachvollziehen. Die Region ist im Rat und in der Synode schwach vertreten. Dem soll durch die Nachwahl von Stefan Werner in den Rat der EKD auf der in Ulm stattfindenden Tagung begegnet werden. Werner ist Direktor im Evangelischen Oberkirchenrat der württembergischen Landeskirche und der juristische Stellvertreter von Landesbischof Gohl. Beide Vorfälle zeigen jedoch unabhängig von den verhandelten Sachfragen, dass es im Miteinander der drei Leitungsgremien der EKD gewaltig knirscht. „Die Bedeutung der Stellungnahme [..] gegenüber der unabhängigen Kommission [der Bundesregierung] wurde falsch eingeschätzt“, beschwert sich Gohl.
Die Beteiligungsrechte der Synode zu stärken, wie es einer evangelischen Kirche sehr angemessen wäre, bedeutete allerdings mehr als bei Beschlüssen und Textproduktion (Gemeinsame Erklärungen, Denkschriften) auf sie zu „warten“. Die EKD-Synode müsste zu einer unterjährig arbeitenden Synode umgestaltet werden. Anders als die Synoden der Landeskirchen treffen sich die EKD-Synodalen zwischen ihren jährlichen Tagungen nämlich nicht kontinuierlich analog oder digital in allen ihren Ausschüssen. Oftmals erhalten Synodale erst wenige Tage vor einer Tagung Kenntnis von Themen, Positionen und Expertisen, die auf der Tagung diskutiert und beschlossen werden sollen. Wäre die EKD tatsächlich die „Zentrale“ der Evangelischen Kirche und ihre Synode damit die Zentralveranstaltung, müsste man an diesem Missverhältnis zwischen Arbeitsaufkommen und -Stilen dringend arbeiten.
Im Konzert der evangelischen Meinungsbildung spielt zum Schluss auch das neue „Kammernetzwerk“ der EKD eine gewichtige, wenn auch völlig intransparente Rolle. Ihr System aus Kammern zu wichtigen gesellschaftlichen und theologischen Themenfeldern hat die EKD (wiederum ohne die Synode ausreichend einzuvernehmen) im vergangenen Jahr durch ein „agiles“ Kammernetzwerk ersetzt. Die an ihm beteiligten Expert:innen sind nun aber kaum mehr zu fassen. Erst vor wenigen Wochen habe ich im Stile einer ironischen Glosse in den zeitzeichen gefragt, ob man das Netzwerk nicht gleich durch klandestine Minigrüppchen ersetzen sollte. Aber ist die Evangelische Kirche da nicht schon längst angekommen?
So wie die Expertise im Falle der EKD-Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch hinzugezogen wurde, kann es jedenfalls in Zukunft nicht weitergehen. SprecherInnen-Positionen müssen geklärt, AutorInnenschaften offengelegt und Argumentationen und Diskussionen transparent dargestellt werden. Alles andere ist einer protestantischen Kirche unwürdig. Natürlich braucht es auch Räume für das vertrauliche und intensive Fachgespräch: Aber die Ergebnisse solcher Diskurse müssen in der Öffentlichkeit – an der „frischen Luft“ – so präsentiert werden, dass auch normale Kirchenmitglieder, mindestens aber doch die eigenen Synodalen mithalten können.
Die richtige Antwort geben: Wo Gohl recht hat
Mit einem seiner zahlreichen Kritikpunkte hat Landesbischof Gohl übrigens in meinen Augen vollumfänglich Recht und liegt damit auch auf der Linie der Kritik von A. Katarina Weilert hier in der Eule: Wenn sich die EKD auf Nachfrage der Bundesregierung oder von zivilgesellschaftlichen Partnern positioniert, dann muss sie das als Kirche tun – gerade weil sie auch als Kirche nur ein gesellschaftlicher Akteur neben anderen ist. Eine spezifisch evangelische Stimme spricht aus der EKD-Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch nämlich nur, wenn man darunter konsensgetriebene Unklarheit versteht. „Die Stellungnahme zielt mit ihrem Papier auf die Öffnung von Diskursräumen“, kritisiert Gohl, „und will eine moderierende Position einnehmen. Aber das verkennt, dass die EKD niemand um diese Aufgabe gebeten hat.“
Es entstünde, so Gohl, der Eindruck, die Kirche sei nur ein „Sozialverband“ neben anderen. Das ist sie aber natürlich auch – und die unternehmerisch agierende Diakonie erst recht. Evangelische Positionen sollten sich der „gesellschaftliche Mitverantwortung“, dem „medizinischen Fortschritt und neueren sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen“ nicht verweigern. Sonst könnte man ja gleich katholisch werden! Die Evangelische Kirche muss sich – aber selbstbewusst – als eine gesellschaftliche Akteurin besonderer Prägung neben anderen wahrnehmen. So verstanden ist die Gohlsche Kritik sinnvoll: „Eine Kirche, die nicht mehr von dem ihr Eigenen spricht, die nicht mehr theologisch argumentiert, wird auf Dauer für gesellschaftliche Debatten nicht mehr gebraucht.“
Die „Zeitgeist“-Keule
Vom Eigenen zu sprechen, das meint für die Evangelische Kirche die immer wiederkehrende Suche danach, wie man das Evangelium in unsere Zeit und Gesellschaft hineinsagen kann. Die Tagung der EKD-Synode 2023 steht darum unter dem Motto „Sprach- und Handlungsfähigkeit im Glauben“. Die Evangelischen stellen sich also offen zum Zeitgeist.
Der EKD-Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch wird diese prinzipielle Offenheit zum Vorwurf gemacht, nicht nur von ihren katholischen, sondern allgemein von ihren konservativen Kritiker:innen. Es ist richtig, dass der bleibende Maßstab evangelischer Theologie und Kirchenleitung das Evangelium und die Schrift sind, nicht Moden und „gesellschaftliche Entwicklungen“. Aber zu „neuen Einsichten“ zu kommen, widerspricht ganz sicher nicht per se dem Schriftprinzip. Das kann nur behaupten, wer nicht weiter lernen will, wie Christ:innen Gottes Wort in der Welt verstehen und leben können.
Angesichts der stabil hohen Abtreibungszahlen müssen sich darum auch die Konservativen fragen, wie das Abtreibungsrecht und die gesellschaftliche Begleitung von (werdenden) Eltern so umgetaltet werden können, dass sie einer Besserung Vorschub leisten. Denn der Status quo ist keineswegs so zufriedenstellend, wie es die Kritiker:innen der EKD-Stellungnahme darzustellen versuchen. Durch Stillhalten gibt es morgen nicht eine Abtreibung weniger als heute.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat am 11. Oktober 2023 eine ausführliche Stellungnahme zur Abtreibungsgesetzgebung veröffentlicht (vollständiger Text als PDF). In einer Reihe von Beiträgen diskutieren verschiedene Autor:innen Aspekte der Debatte in der Eule: Carlotta Israel fragt, ob die EKD-Stellungnahme ein Schritt zu mehr reproduktiver Gerechtigkeit ist. A. Katarina Weilert fragt, für wessen Schutz sich die EKD in ihrer Stellungnahme eigentlich ausspricht. Niklas Schleicher untersucht in diesem Artikel den Debattenbeitrag von Reiner Anselm, Petra Bahr, Peter Dabrock und Stefan Schaede. Einen Überblick über die Diskussion bieten die #LaTdH vom 22. Oktober.
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