Eskalation – Die #LaTdH vom 24. September

In Deutschland manifestiert sich die Entgleisung der Migrationsdebatte. Was ist den Kirchen gemeinsam wichtig? Außerdem: Diakonie-Geburtstag, „Mitte-Studie“ und das Geschäft mit dem Glück.

Herzlich Willkommen!

Die Diakonie feiert ihren 175. Geburtstag. Zu einer großen Party in Berlin wurde auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geladen. Mit der Ampel-Regierung liegt die Diakonie bei vielen, sehr vielen Themen gegenwärtig über Kreuz: Da wäre die weitgehend gescheiterte Kindergrundsicherung, die aufgrund des Sparfimmels von Kanzler und Finanzminister nur ein Zehntel der von der Diakonie geforderten Finanzdecke erhält. Da wird es kalt. Auch bei der Finanzierung des Kinder- und Jugendplans des Bundes, den Freiwilligendiensten (wir berichteten) und vor allem bei der sozialen Abfederung der Klimaschutz-Maßnahmen sind Diakonie und Caritas, die Wohlfahrtsverbände der beiden großen Kirchen und ihre sozialen Gewissen, uneinverstanden mit der gegenwärtigen Regierungspolitik.

Beim Diakonie-Fest versuchte sich die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus in einer Neubegründung der politischen „Einrede“ durch die Diakonie. Kaum eine Frage bewegt die Protestanten mehr, als die Frage nach dem „Warum?“ ihres politischen Engagements. Von der Anwaltschaft für die Schwachen angefangen, über die Stärkung des „Zusammenhalts“ (Mit wem? Dazu mehr unter „nachgefasst“.), bis hin zur beabsichtigten Kongruenz mit dem eigenen kirchlichen Handeln („12 Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche“, s. hier in der Eule) wurden unterschiedliche Angänge an diese Frage allein in den vergangenen drei Jahren diskutiert.

Kurschus war als Ratsvorsitzende 2021 unter anderem mit dem Versprechen angetreten, sich im Unterschied zu ihrem Vorgänger Heinrich Bedford-Strohm wohldosierter mit politischen Stellungnahmen an die Öffentlichkeit richten zu wollen. Die Kirche müsse vor allem „geistlich“ sprechen. Ihre Begründung kirchlicher „Einrede“ auf dem 175. Diakonie-Geburtstag muss man in diesem Kontext verstehen.

„Solche diakonischen Einreden in die Politik wagen wir in der Spur Jesu Christi, sie sind praktiziertes Evangelium! Und als praktiziertes Evangelium sind sie angewandte Demokratie.“

Hier ist erneut von der „Spur Jesu Christi“ die Rede, einer Lieblingsmetapher der Ratsvorsitzenden, die in tiefem Kirchensprech nichts anderes als der 3. Leitsatz der 12 Leitsätze aussagt. „Einreden in die Politik“ als „praktiziertes Evangelium“ kann man als hübsch traditionelle Reformulierung des anwaltschaftlichen Handelns der Kirche verstehen. Die letzte Behauptung von Kurschus verdankt sich dann ganz der wahrgenommenen Verschärfung der gesellschaftlichen Polarisierung: Praktiziertes Evangelium und Demokratie werden hier in wechselseitiger Abhängigkeit aufeinander bezogen. Sportlich.

Was bei all den Re- und Neuformulierungen des politischen Anspruchs diakonischer und kirchlicher „Einrede“ aber untergeht, ist die Frage nach einer geschickteren Strategie derselben. Nicht das „Warum?“, sondern das „Wie?“ erscheint mir besonders klärungsbedürftig. Der Regierung Tag für Tag kritische Pressemitteilungen entgegenzusenden, dem Kanzler aber bei jeder Gelegenheit zuzuklatschen – das scheint mir eine eher unentschiedene Kommunikationsstrategie zu sein.

Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein

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Debatte

Unter dem Eindruck einer Verschärfung der Flüchtlingssituation verschiebt sich in Deutschland gegenwärtig die Debatte über die Migrationspolitik gefährlich nach Rechts. Auch die Wahlkämpfe in Bayern und Hessen spielen hierbei natürlich eine Rolle. In den beiden reichen, westdeutschen Flächenländern wird sich wohl die „distanzierte Mitte“ (s.u.) in Form hoher Zustimmung für die AfD zu Wort melden. Das kann beunruhigen, und sorgt jedenfalls dafür, dass die Debatte zunehmend unsachlich geführt wird. Bereits vergangene Woche hatte sich der ehemalige Bundespastor -präsident Joachim Gauck zu Wort gemeldet:

„Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“, sagt der ehemalige Bundespräsident. Aber die verschiedenen politischen Kräfte müssten „von ihren Wunschvorstellungen Abstand nehmen und in der demokratischen Mitte das entwickeln, was wir wirklich wollen“.

Welche Art der Verschärfung er sich wünscht, ließ Gauck ebenso offen wie zahlreiche andere politische Akteur:innen, die zwar maximale moralische Panik schieben, aber eben nicht sachlich-konkret werden. Zur Sachlichkeit gehört: Schon heute und erst recht mit dem neuen EU-Asylpaket gibt es in Deutschland und Europa eine sehr restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik. Weitere Verschärfungen „klingen“ nicht nur inhuman, sondern sind es, insofern alle Vorschläge darauf hinauslaufen, sich vom internationalen Völkerrecht und den Maßgaben des Grundgesetzes zu verabschieden.

Bund und Länder auf der Suche nach Kontrolle – Viktoria Kleber, Moritz Rödle (Tagesschau)

Aus den Kommunen wird nun schon seit Monaten gemeldet, man sei mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Statt deutlich großzügiger finanziell beizuspringen, zeigt sich die Bundesregierung hier allerdings knausrig. Für die Landespolitik eröffnet sich dadurch erheblicher Spielraum, die Lage übertrieben darzustellen und für die eigene Agenda auszunutzen. Die Ampel ist sicher nicht die Mutter der Probleme, aber ihre Sparpolitik trägt zur Verschärfung der Krise bei.

Dabei „eskalieren“ die Zahlen der Asyl-Erstanträge keineswegs. Sie liegen war zum jetztigen Zeitpunkt 2023 (ca. 210.000) schon etwa auf Höhe der Gesamtzahl des Vorjahres (217.000), aber immer noch weit unter den Zahlen von 2015 (441.000) und 2016 (722.000). In den Jahren dazwischen waren die Zahlen aufgrund der harrschen EU-Asylpolitik erheblich abgesunken (Tiefstwert 2020: 102.000). Von einer erneuten „Flüchtlingskrise“ (sic!) kann überhaupt keine Rede sein. Wie Maximilian Pichl im Eule-Interview vor wenigen Wochen noch festgehalten hat, pendelt sich das Migrationsgeschehen wieder auf dem Vor-Corona-Niveau ein. Und das, obwohl ja u.a. durch Klimawandelfolgen die Fluchtgründe nur noch zugenommen haben.

Unter dem „Druck von Rechts“, der von AfD und willfährigen Medien geschaffen wird, hat die hessische Wahlkämpferin und Bundesministerin des Innern Nancy Faeser (SPD) bereits die Neuregelung des Familiennachzugs gestoppt, die u.a. die Kirchen fordern:

[…] dies habe angesichts der angespannten Unterbringungssituation in den Kommunen keine Priorität. Ein entsprechender Gesetzentwurf werde derzeit nicht weiterverfolgt. Absolute Priorität habe dagegen die Steuerung, Ordnung und Begrenzung der irregulären Migration.

„Seit ich diesen Satz gesagt habe, werde ich mit Hass überzogen“ – Katrin Göring-Eckardt (t-online)

Über Migration und Flucht wird gegenwärtig vor allem mit solchen Vokabeln gesprochen, die das Schicksal flüchtender Menschen in technokratische Sprache auflösen. „Inhumane“ Lösungen werden so verschleiert. Auf der anderen Seite grämen sich insbesondere Politiker:innen der Grünen sehr, z.B. Bundeswirtschaftsminister Habeck und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Katrin Göring-Eckardt (ehem. Präses der EKD-Synode).

Göring-Eckardt legte ihre Überlegungen in einem Gastbeitrag bei t-online dar: Da sind ganz viel Gefühl und Mitleid, und eine Zustimmung zu Kernpunkten der EU-Asylpolitik, wie z.B. der Antragsstellung an den EU-Außengrenzen, die zwingend eine Internierung dort voraussetzt, die man den Grünen viele Jahre lang nicht zugetraut hätte.

„Neben Humanität braucht es Ordnung“,

… erklärt Göring-Eckardt, so dass es mir fröstelt. Natürlich ist das, was sie über die Finanzierung der Kommunen und geordnete Antragsverfahren sagt, insbesondere auch die Ablehnung von „Obergrenzen“, nicht von der Hand zu weisen, aber tonal und inhatlich wird hier ein neuer „Asylkompromiss“ vorbereitet, der nichts anderes ist als ein Entgegenkommen gegenüber jenen, die Flucht- und Migration ganz abwürgen wollen und eine „geordnete Rückführung“ erheblicher Teile unserer Gesellschaft für geboten halten. Wer ernstlich glaubt, durch ein solches Entgegenkommen dem Hass von Rechts die Grundlage zu entziehen, ist mindestens naiv.

Was uns gemeinsam wichtig ist

In dieser (Debatten-)Lage kann eine Erinnerung daran, worin sich die Kirchen in Deutschland bezüglich der Asyl- und Migrationspolitik einig sind, nicht schaden. Bei allem auch innerkirchlichen Streit um einzelne Themen, wie z.B. die Unterstützung der Seenotrettung, hat sich herauskristallisiert, dass über alle Konfessionen, Frömmigkeiten und politische Orientierungen des demokratischen Spektrums hinweg, doch einige Fragen als gemeinsame Herzensanliegen gelten können.

Da wäre zum Beispiel der Familiennachzug. Denn ein Menschenleben ist nicht nur dann wertvoll, wenn es „wirtschaftlich produktiv“ ist, wie die gegenwärtige Migrationsdebatte insinuiert. Der besondere Schutz der Familie ist nicht allein vom Grundgesetz her geboten, sondern ein Anliegen christlich formulierter Migrationspolitik. Gut konservativ obendrein! Richten Sie das gerne ihrem CDU-Abgeordneten aus.

Dasselbe gilt für Menschen, die aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit aus ihren Herkunftsländern flüchten müssen. Erst vor wenigen Wochen haben die beiden großen Kirchen mit ihrem gemeinsamen Bericht zur Religionsfreiheit Fakten vorgelegt, die hier für Politiker:innen aller Parteien – und Christ:innen insbesondere – handlungsleitend sein sollten (s. #LaTdH vom 27. August).

Dass wir, die reichsten Erdenbürger, uns nicht aus der Verantwortung für Klimafolgen und die Flucht aus Kriegs- und Krisengebieten ziehen können, versteht sich ohnehin von selbst. Natürlich wird man darüber debattieren müssen, wie die Aufnahme von Flüchtlingen besser gelingen kann. Doch vom Familiennachzug und der Flucht wegen Verfolgung aufgrund des Glaubens angefangen ist klar: Ob Menschen hier bei uns Schutz finden können, verdient in jedem Fall eine gründliche Einzelfallprüfung, darum kann es keine „Obergrenzen“ jedweder Art geben. Und diese Prüfungen müssen dort und zügig durchgeführt werden, wo die Geflüchteten in Sicherheit sind. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen das leisten können.

nachgefasst I

Wie rechtsextrem ist Deutschland?

In dieser Woche wurde die neue „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) vorgestellt, diesmal unter der Überschrift „Distanzierte Mitte“. Das ist schon metaphorisch eine Herausforderung für diejenigen, die „die Mitte“ bisher für das Paradies hielten. Ihre Qualität bezieht die Studienreihe vor allem daraus, dass entscheidende Fragen der Untersuchung inzwischen seit 2006 immer wieder gestellt werden. Auf ihrer Website informiert die FES ausführlich über die neue Studie (PDF).

In einer kompakten Radiosendung bei Deutschlandfunk Nova erklären Moderator Till Haase und Kathrin Kühn von der Deutschlandfunk-Wissenschaftsredaktion einige Ergebnisse der Studie. Es geht um „kippende gesellschaftliche Normen“ und junge Menschen. In jeder „Mitte-Studie“ wird der Fokus besonders auf ein neues oder besonders auffälliges Phänomen gelegt. Seit vielen Jahren beschäftigt Politiker:innen, Forscher:innen, Beobachter:innen und Journalist:innen zum Beispiel die Frage nach den „Verunsicherten“. Die „Mitte-Studie“ differenziert innerhalb dieser Gruppe noch einmal:

In ihrer „Mitte-Studie“ machen die Forschenden auch auf das Phänomen der marktförmigen Menschen aufmerksam. Innerhalb dieser Gruppe findet eine überdurchschnittliche Distanzierung von demokratischen Grundprinzipien und ein Rückgang von Solidarität statt, so Andreas Hövermann, einer der Co-Autoren der Studie. „Die Gruppe ist hochrelevant, wenn es darum geht, rechtsextreme Entwicklungen aus der Mitte der Gesellschaft zu analysieren“, sagt er.

Die Aiwanger-Affäre bedeutet Grünes Licht für Antisemiten – Hanna Veiler (Jüdische Allgemeine)

Mit den Ergebnissen der „Mitte-Studie“ korrespondieren die jüngsten Entwicklungen im politischen Raum. Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), schreibt bei der Jüdischen Allgemeinen über die Auswirkungen der Aiwanger-Affäre für Jüdinnen und Juden in Deutschland:

Gerade in dieser Zeit der Unsicherheit beobachten wir ein weiteres Mal, dass unsere Interessen nicht viel wert sind, wenn es über bloße Lippenbekenntnisse hinausgehen soll. Mit jeder Person, die trotz und mit Antisemitismus im Amt bleiben darf und keine Konsequenzen spürt, trauen sich zehn weitere Antisemiten, ihre Stimme öffentlich zu erheben. All das führt zu einer zunehmenden Verschiebung der Diskurse, die schon bald die jüdischen Communitys mit voller Wucht treffen wird.

13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes

In Krakow ist in dieser Woche die 13. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes zu Ende gegangenen (s. #LaTdH von vergangener Woche). Zum Abschluss wurde ein neuer Rat gewählt, dem insgesamt 48 Mitglieder angehören.

Die Hälfte der neuen Ratsmitglieder sind Frauen und 13 sind Jugenddelegierte. Damit entspricht der LWB seiner Politik der Gender- und Generationengerechtigkeit, die einen Anteil von jeweils 40 Prozent für Frauen und Männer und 20 Prozent für Jugendliche in Leitungsgremien vorsieht.

Aus Deutschland gehören Tim Götz (ELKB, Jugendvertreter), Vikarin Charlotte Horn (ELKWUE), Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt (Nordkirche), Oberkirchenrat Michael Martin (ELKB), Oberkirchenrat Dirk Stelter (Hannover) und Bettina Westfeld, die Präsidentin der Landessynode der EVLKS, zum neuen Rat.

Auf der Vollversammlung wurde auch ein „Gemeinsames Wort“ zur Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche von LWB-Generalsekretärin Anne Burghardt und dem Präfekten des vatikanischen Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen Kardinal Kurt Koch vorgestellt.

Diese gemeinsame Reflexion von Lutheranern und Katholiken vor dem 500.  Jahrestag des Augsburger Bekenntnisses im Jahr 2030 „könnte zu einem weiteren Meilenstein auf dem Weg vom Konflikt zur Gemeinschaft führen“, vergleichbar mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre. „Heute ermöglicht ein differenzierender Konsens Lutheranern und Katholiken, eine Übereinstimmung in Bereichen zu wahrzunehmen, in denen unsere Vorfahren nur unüberwindbare Gegensätze sahen“, heißt es in dem Gemeinsamen Wort von LWB und dem Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen.

Auf alle Fälle werden wir über die Bedeutung des Dokuments bestimmt durch den „Catholica-Bericht“ von Landesbischof Karl-Hinrich Manzke (Schaumburg-Lippe) auf der kommenden Generalsynode der VELKD (Teil der EKD-Synode Mitte November) aufgeklärt. Wer diesem unbestreitbaren und zeitintensiven Highlight des Synodenalltags vorgreifen will, kann das zweiseitige Dokument (PDF) gleichwohl selbst lesen.

nachgefasst II

Ein Verdacht, den die Kirche nicht wahrhaben wollte – Daniel Deckers (FAZ)

Daniel Deckers fasst in der Frankfurter Allgemeinen die neuen Enthüllungen um den ehemaligen Bischof von Essen Kardinal Franz Hengsbach zusammen. Der geriet schon vor mindestens zwölf Jahren unter Missbrauchsverdacht. Eigentlich hätte man es, wie so oft, also schon viel früher wissen müssen. Was den Fall Hengsbach für den deutschen Kontext besonders macht: Hengsbach war nicht einfach nur ein Vertuscher, wie viele seiner Amtsbrüder, die noch heute in Amt und/oder Würden sind, sondern selbst Täter.

Die äußeren Umstände, die die Betroffene in Essen offenbart hat, werden durch einen Zeitzeugen bestätigt. Ein Antrag auf Anerkennung des Leids wird gestellt und im Sommer 2023 gutgeheißen. Nun muss auch Franz Kardinal Hengsbach als Missbrauchstäter gelten. In der Studie über Missbrauch im Bistum Essen, die im Frühjahr dieses Jahres veröffentlicht wurde, kam sein Name nur im Zusammenhang mit Vertuschung vor. In dieser Woche haben die Bistümer die Vorgänge um Franz und Paul Hengsbach öffentlich gemacht und dies mit der Bitte verbunden, dass sich weitere Betroffene, so es sie gebe, an die Ansprechpartner für Opfer sexueller Gewalt in Essen und Paderborn wenden möchten.

Ohne das hartnäckige und wiederholte Nachfragen von Betroffenen geschieht nichts. Das ist nicht nur im Hinblick auf die Beharrungskräfte im System bemerkenswert, denn viele Betroffene sind zu so einem jahrelangen Kampf überhaupt nicht in der Lage. Ihnen ist mit Symbolpolitiken, wie der Entfernung von Statuen von Missbrauchstätern und Vertuschern, nicht wirklich gedient.

Essener Bischof Overbeck räumt eigene Fehler bei Aufarbeitung ein – Carmen Krafft (WDR)

Eine bemerkenswerte Rolle im Geschehen spielt auch der gegenwärtige Bischof des „Ruhrbistums“ Essen, Franz-Josef Overbeck. Er gehört zweifelsohne zu den etwas liberaleren Bischöfen in der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und in seinem Bistum wurden in den letzten Jahren nicht nur eine Missbrauchsstudie veröffentlicht, sondern auch weitere systemische und atmosphärische Schritte gegangen, um den Ursachen der Missbrauchskrise zu begegnen. Umso enttäuschender ist nun, dass er zur Aufdeckung der Verbrechen seines Amtsvorgängers erst so spät beitragen will.

Dass er mit zurückgehaltenen Infos über Hengsbach nicht nur Wissenschaftler im Unklaren ließ, sondern auch das eigene Haus, also die Ansprechperson für sexualisierte Gewalt, ist bemerkenswert. Schließlich steht Bischof Overbeck dafür, sich bei der Aufarbeitung deutschlandweit vorne zu platzieren. Aber welchen Wert hat da eine erneute Entschuldigung eines Kirchenoberen?

„Am Ende des Briefes bettelt er förmlich darum, weiter Bischof bleiben zu dürfen“, bilanziert der Betroffene Markus Elstner. Er möchte Taten sehen. Das bedeutet nennenswerte Entschädigungen. Solche, die einem Opfer von 2011 womöglich deshalb entgangen seien könnten, weil Bischof Franz-Josef Overbeck nach eigener Darstellung wichtige Informationen nicht weitergegeben hat.

In der weltlichen Politik würde ein solches Fehlverhalten einen Rücktritt nach sich ziehen. Möchte man jedenfalls meinen, auch wenn nicht erst seit dem Fall Aiwanger erhebliche Zweifel bestehen, wie es um die „persönlichen Konsequenzen“ der Accountability in der Politik steht. In der römischen Kirche aber ticken die Uhren sowieso anders. Ob der Fall Hengsbach für Overbeck überhaupt kirchenrechtliche Konsequenzen haben wird, steht völlig dahin. Die Erfahrungen mit Papst Franziskus erratischem Führungshandeln lassen wenig Gutes erwarten.

Was also wäre eine angemessene Konsequenz aus dem fortwährenden Schutz, den sich die Hirten gegenseitig gewähren? Doch zumindest, dass man einem Bischofswort, gerade im Kontext der Missbrauchsaufarbeitung, nicht mehr traut. Auch wenn einem der Bischof aus anderen kirchenpolitischen Gründen noch so sympathisch ist.

Buntes

„Singet dem/n Herren“. Zur geschlechtlichen Asymmetrie im evangelischen Gesangbuch – Laura Brauer (y-nachten)

Wie umgehen mit frauenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Elementen im Evangelischen Gesangbuch? Diese Frage stellt sich derzeit besonders, weil bis 2025 ein neues Gesangbuch erarbeitet wird. Anhand einiger Beispiele erläutert Laura Brauer bei y-nachten die Problematik.

Meines Erachtens wird das Ergebnis zwangsläufig ein Kompromiss, der unbefriedigend und vor allem unabgeschlossen bleibt. Mit der gänzlichen Eliminierung von Liedern aus dem Gesangsbuch kommt man schnell in Bereiche, in denen über Geschichtsrevisionismus gesprochen werden muss. Die historisch gewachsene Tradition dieser singenden Gemeinschaft lässt sich eben auch nur vor dem Hintergrund von Frauen-, Fremden- und Judenfeindlichkeit erklären. Andererseits muss man sich genau überlegen, welche Lieder für die gegenwärtige Glaubenspraxis eine Rolle spielen sollten. Positiv gewendet: Die Kontextualisierung und der Austausch über Inhalte des Gesangbuchs können aktiv zur Dekonstruktion von Geschlechterdichotomien eingesetzt werden.

Der Africa Climate Summit 2023 – Marita Wagner, Gloria Munyavi Wambua und Rachael Kirui (feinschwarz.net)

Anfang September 2023 trafen in Nairobi (Kenia) die Mitglieder der afrikanischen Staatengemeinschaft zum ersten Klimagipfel des Kontinents zusammen. Über das Treffen und die dort verhandelten Perspektiven und Fragen informieren Marita Wagner, Gloria Munyavi Wambua und Rachael Kirui auf feinschwarz.net, inkl. eines öko-theologischen Fazits.

Auch Father Firmin betont, dass afrikanische Gesellschaften die Umwelt nicht als rein ökonomische Ressource, sondern als kommunikative Quelle der eigenen Selbstvergewisserung verstünden. Dieses Bewusstsein um die reziproke Beziehung und die afrikanische Spiritualität eines »Genug« identifiziert er als Beitrag afrikanischer Theologien zu einem globalen Umdenken in ökologischen Fragen.

„Gott liebt uns wie wir sind“-Brasiliens erste evangelikale Trans-Pastorin – Niklas Franzen (DLF)

In Brasilien spielen die christlichen Kirchen eine unvermindert große Rolle: Neben die katholische Kirche sind als gesellschaftliche Player evangelikal-charismatische Kirchen getreten. Damit einhergehend haben fundamentalistische Bibelauslegung und die christliche Rechte an Bedeutung gewonnen. Jacque Chanel ist die „erste evangelikale Trans-Pastorin Brasiliens“. In der Religionssendung „Tag für Tag“ des Deutschlandfunks berichtet Niklas Franzen. Chanel geht mit der charismatischen Bewegung, aus der sie stammt, hart ins Gericht:

„In den fundamentalistischen Kirchen wurde ich diskriminiert, deshalb habe ich meine eigene Kirche gegründet.“

Da in Deutschland der Kongregationalismus aus historischen und konfessionellen Gründen sehr gering ausgeprägt ist, kommt die Gründung einer eigenen Kirche für jene Menschen, die in unseren Kirchen diskriminiert werden, kaum in Frage. Hierzulande sammelt sich der Widerspruch zur kirchlichen Lehre in den Kirchen selbst, wie z.B. beim „Segnungsgottesdienst „für alle sich liebenden Paare“ vor dem Kölner Dom, der „in überraschend ruhiger, geistlicher Atmosphäre gefeiert“ wurde, wie Kirche + Leben berichtet.

Theologie

Manifestieren: Warum wir den Trend kritisch betrachten sollten – Kathrin Weßling (emotion)

Wer glücklich werden will, muss einfach ganz fest daran glauben, behauptet der Esoterik-Trend des Manifestierens. Die Idee wabert schon seit Jahrzehnten durch die Lebenshilfe- und Schwurbelszenen und erlebt derzeit vor allem auf Instagram eine Renaissance. Dort werben Sinnfluencer:innen damit nicht zuletzt für eigene hochpreisige „Glaubenskurse“ und Seminare. Wie Kathrin Weßling bei emotion ganz profan und alltagsnah beschreibt, steht das Manifestieren auch im absoluten Gegensatz zu den christlichen Gnadenlehren. „Unsere“ christlichen Sinnfluencer:innen können den Manifestieren-Trend also ruhig als Herausforderung für ihre digitale Glaubenskommunikation begreifen und diesen Punkt mal explizit herausstellen.

Das Geschäft mit dem Glück – Julia Kopatzki (SPIEGEL, €)

Im SPIEGEL hat Julia Kopatzki bereits Ende August einen ausführlichen Blick in die Coaching-Szene geworfen, die sich auf dem „Greator Festival“ in Köln traf. „Beziehungsberater, Moneymentoren oder Lebenslehrerinnen“ sind inzwischen ein eigener Industriezweig. Was Kopatzki auf dem Kongress erlebt hat, ist traditionell Gegenstand der Arbeit kirchlicher Sekten- und Weltanschauungsbeauftragter. Tatsächlich bietet die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in ihrem Online-Lexikon Hilfestellung in Gestalt einiger Kriterien für seriöses Coaching.

Ich würde aber meinen: Da geht noch mehr! Die zweifelsohne vorhandene Kompetenz der Weltanschauungsbeauftragten und Theolog:innen muss besser auf die Strecke gebracht werden. Insbesondere auf Instagram und TikTok, wo die Coaching-Szene häufig den Erstkontakt zu ihren Kund:innen herstellt.

Ein guter Satz

„Es braucht endlich ein Verständnis in unserer Gesellschaft, dass uns keiner der Menschen, die zu uns kommen, etwas wegnimmt!“

– Bodo Ramelow (LINKE), evangelisch, Ministerpräsident des Freistaats Thüringen, auf dem Landesparteitag seiner Partei zur Flüchtlingsaufnahme