Kolumne Frau Doktor

Frau Doktor (3): Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!

Als Erstakademikerin und Mutter zu promovieren ist eine große Leistung. Trotzdem schleichen sich bei unserer Autorin immer wieder Zweifel ein.

Mein Weg zur Promotion ist gleichzeitig von Stringenz und überraschenden Wendungen geprägt. Es war recht schnell, noch lange vor dem Examen, klar, dass ich nach dem Studium promovieren möchte. Und zwar in Systematischer Theologie, auf der mein Schwerpunkt lag. Ich hatte bereits vor dem Examen ein Thema, das mir vom potentiellen Doktorvater vorgeschlagen wurde, eine Überbrückungsfinanzierung an einem anderen Lehrstuhl für Systematische Theologie zum Schreiben eines Exposés war ausgemacht.

Und dann kam es doch anders. Ich bekam eine Stelle als Assistentin in der Praktischen Theologie angeboten, die ich auch annahm. Das bedeutete eine Änderung meiner Perspektive. Mein Doktorvater und ich suchten also nach einem Thema, das mein systematisch-theologisches und historisches Interesse mit einer praktisch-theologischen Ausrichtung der Arbeit verbinden konnte.

So sind wir – es war ein Vorschlag meines Doktorvaters – bei Martin Doerne (1900-1970) gelandet. Einerseits, weil ich hier historisch arbeiten und ein Werk erschließen konnte, andererseits, weil Doerne selbst praktisch- und systematisch-theologische Arbeit in seiner Person vereinte.

Aber warum genau Doerne? Diese Frage musste ich in den letzten Jahren oft beantworten. Ich gestehe, dass mich zunächst vor allem ein gewisser Entdeckungsdrang gepackt hat. Wer ist dieser Theologe, den nur wenige bis niemand kennen? Hat man den Namen aber einmal bewusst gelesen, begegnet man ihm doch immer wieder. Hinzu kam, dass ich Doerne und seine Prägungen zwischen (sächsischem) Luthertum und sog. Dialektischer Theologie nicht richtig einschätzen konnte. Die Neugier war geweckt.

Eine „Theologie der Praxis“ erschließen

Ich suchte Doernes weit verstreutes Werk zusammen, soweit es aufzutreiben war und ist (ich bekomme immer noch Hinweise auf Beiträge, die ich nicht kenne, die oft aber auch nichts völlig Neues beinhalten) und verschaffte mir einen Überblick über den umfangreichen Nachlass, der in der SUB-Göttingen zu finden ist.

Die ambivalente Freiheit einer Ersterschließung des Doerne’schen Werkes brachte es mit sich, dass ich viele Entscheidungen für Schwerpunkte und Auslassungen treffen musste. Das fiel mir mal mehr, mal weniger leicht. Jedenfalls kristallisierte sich heraus, Doernes gedrucktes Werk anhand von fünf Themengebieten zu erarbeiten:

Kirche und Volkskirche, Mensch und Sünde, Bildung und Unterweisung, Predigt und Predigtmeditationen sowie Theologie und Literatur. In jedem der einzelnen Themen gibt es anregende Aspekte zu entdecken, mit denen Doerne vielleicht nicht als Vordenker, aber durchaus als eigenständiger Kopf erscheint, der in zeitgenössischen Debatten eigene Pointen setzt.

Seine Perspektive ist dabei, wie der Titel der eingereichten Version meiner Arbeit ausdrückt, die einer „Theologie der Praxis“. Doerne widmet sich vor dem Hintergrund seiner dogmatischen Vorstellungen der kirchlichen Praxis und unterzieht sie der theologischen Kritik. Dabei zeigt sich sowohl eine Kontinuität als auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Revision seines Denkens. Das wird beispielhaft am heikelsten Punkt deutlich: dem Verhältnis zum Nationalsozialismus.

Doernes nationalkonservative Prägung und damit eine anfängliche Sympathie  für das, was er als nationalen Aufbruch begreift, lässt sich nicht leugnen. Aber seine theologischen Prinzipien bringen ihn dann doch in eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus. Nein, Doerne äußert sich nicht laut gegen das Regime. Sein Weg der Distanzierung vom nationalen Überschwang ist ein leiser, aber stellenweise dennoch deutlicher (und immer theologischer). Und es bleibt der Interpretin seines Werks am Ende, diese Ambivalenz nicht aufzulösen, sondern auszuhalten, weder in vorschnelle Entschuldigung noch in einseitige Verurteilung zu verfallen.

Von der Dogmatik her über die Praxis nachdenken?

Hat Doerne uns heute etwas zu sagen? Eine rein funktionale Anwendung seiner Theologie zu suchen, führt nicht weit. Nein, Doernes konkrete Gedanken, etwa zur Konfirmation (Jugendalterkatechumenat, Heraufsetzung des Konfirmationsalters…) sind nicht direkt zu übernehmen. Aber es lässt sich an ihnen zeigen, wie theologisch auf verschiedene Umstände reagiert wurde.

Doernes Wirken zieht sich von der Zeit der Weimarer Republik, über die des Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit. Er war Professor in Leipzig, Rostock, Halle und dann in Göttingen (er zog 1954 von der DDR in die BRD). Spannend ist, dass sich die Themen tatsächlich ändern. Er publizierte ab Ende der 1940er-Jahre etwa zunehmend zum Themengebiet Theologie und Literatur, wobei er kein klassischer Kulturtheologe war. In der Sprache der Dichter, v.a. bei Dostojewskij und Tolstoi, fand er ein Mittel, das mehr und anderes aussagen konnte als dogmatische Sprache.

Seine fundierte Kenntnis dieser Literatur  – er publizierte auch zu Rilke, Mann und einigen mehr – und ihre dezidiert theologische Interpretation bilden einen interessanten Bereich seines Werkes. Wirkmächtiger waren aber seine Predigtmeditationen. Sein Schüler Gottfried Voigt führte sie eigenständig weiter – die zahlreichen biblischen Auslegungen zu sämtlichen damaligen Perikopenreihen finden sich immer noch in Pfarrbibliotheken.

Einen Aspekt, der mich über Doernes Werk hinaus beschäftigt, ist die Frage, wie sich – gerade in der Praktischen Theologie – gegenwärtige Herausforderungen und theologische Topoi zueinander verhalten. Doernes Weg, einlinig von der Dogmatik her die Praxis zu beleuchten, diese zu bewerten und diejenigen Aspekte, die gegenwärtig jeweils neu beleuchtet werden müssten, hervorzuheben, ist in dieser Form freilich nicht mehr gangbar. Die empirische Wende lässt sich – Gott sei Dank! – nicht rückgängig machen. Und doch lassen sich anhand einer Beschäftigung mit Theolog*innen wie Martin Doerne Fragen dazu aufwerfen, in welchem Verhältnis Praxis und Theologie, Empirie und Dogmatik stehen.

Darüber hinaus bietet Doerne interessante theologiegeschichtliche Einsichten. Er betrieb Theologie jenseits der starren Zuschreibung von Dialektischer Theologie und Luthertum, auch wenn er sich mit seinem Lehrer und Freund Paul Althaus von der kirchen- und theologiegeschichtlichen Größe des Barthianismus strikt abzusetzen wusste. Anders und doch vergleichbar mit Wolfgang Trillhaas lassen sich bei Doerne auf der Grundlage seiner entschieden lutherischen Theologie Aspekte der sog. Dialektischen Theologie beobachten, die sich auch sprachlich festmachen lassen.

Nein, ich bin nicht zur begeisterten Anwältin Doernes geworden. Ich bin ihm im Laufe der Zeit näher gekommen. Dann war er mir wieder fremd. Aber insgesamt habe ich wohl eine kritische Sympathie aufgebaut. Das ist wahrscheinlich normal, wenn man sich über einen Zeitraum von über fünf Jahren mit einer Person befasst.

Als Mutter promovieren

Durchaus lang, betrachtet man den Zeitraum isoliert. Ich habe in dieser Zeit aber auch zwei Kinder bekommen und ein Jahr Elternzeit gehabt. Das muss ich vor allem mir selbst sagen, denn ich kann wenig dazu sagen, wie eine Promotion ohne Kinder ist – ich kenne es einfach nicht anders.

Kurz nach der Geburt meines ersten Kindes fing ich als Assistentin mit einer halben Stelle an. Das ging, weil ich meinen Sohn oft mitnehmen und viel von zuhause arbeiten konnte. Das ging auch, weil ich in meinem ersten Semester an der Uni lehrfrei bekam. Und das ging, weil mein Mann und ich uns alles gut aufgeteilt hatten.

Nach der Geburt unseres zweiten Kindes nahm ich erst einmal Elternzeit und ergatterte danach ein Promotionsstipendium bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. So sehr ich in dieser Zeit das Unileben und vor allem die Lehre vermisst hab (die Stelle wäre eh ausgelaufen), so dankbar war ich über die Freiheiten, die mir das Stipendium gewährte. Auf diese Weise konnte ich mein Projekt abschließen und im September 2019 die Dissertation einreichen.

Anfang Februar diesen Jahres wurde ich promoviert. Mein Weg mit Doerne ist also noch nicht ganz zu Ende: Die Überarbeitung für die und die Arbeiten an der Publikation stehen noch aus. Umzug, Vikariatsbeginn und Corona hielten mich bis jetzt allerdings davon ab.

Denke ich an meine Promotionszeit, dann spielt also nicht nur das Frau-, sondern auch da Muttersein eine wichtige Rolle. Zunächst von den zeitlichen Ressourcen her. Ich musste auf manches verzichten, vor allem Tagungen und einzelne Publikationen neben meiner Dissertation. Aber es geht auch um Zuschreibungen und Zutrauen, die von diesen beiden Aspekten, Frau und Mutter, herrühren.

Als ich einmal in einem nicht-theologischen Kontext mein Projekt vorstellte, wurde mir noch vor der Vorstellung vorgehalten, dass meines ja ein „Männerthema“ sei. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was genau darunter zu verstehen ist, traute man einer Frau nicht zu, gerade dieses Thema zu bearbeiten – es bezog sich vor allem auf die Ambivalenzen in Doernes Stellung zum Nationalsozialismus. Mir wurde aber auch schon gesagt, dass es ein typisches Frauenthema sei: gut abgegrenzt, Fleißarbeit und ja nichts „zu Großes“.

Festgefahrene Ideale aufbrechen

Ja, das sind Extrembeispiele, aber sie zeigen durchaus, was auch sonst oft mitschwingt. Interessanterweise geschahen diese Zuschreibungen oft ohne Kenntnis meiner konkreten Person. Mein Erstakademikerinnenhabitus und die schwäbische Färbung meines Sprechens waren da noch gar nicht mit im Spiel!

Ich habe solche Erfahrungen übrigens nicht nur mit Männern gemacht – gewisse Ideale des Diskussionsstils und des Auftretens scheinen so tief verankert zu sein, dass auch Frauen sie teilweise übernommen haben. Vor allem hier sehe ich Ansatzpunkte: Festgefahrene Ideale und Vorstellungen müssen irgendwie aufgebrochen werden. Ich wünsche mir daher Kämpferinnen, die die gläserne Decke durchbrechen und die solidarisch für Offenheit und Diversität einstehen, die Vorbilder und Förderinnen für nachkommende Generationen sind, die ihre Freude und ihren Forscherdrang weitergeben.

Neben der Förderung von Frauen liegt mir die Förderung von Erstakademiker*innen am Herzen. Mit Ausnahme eines Großvaters, der Ingenieur war, hat in meiner engeren Familie vor mir niemand studiert, geschweige denn eine Promotion abgeschlossen. Der akademische Betrieb ist durchdrungen – nicht nur, aber auch – von Codes, die nicht explizit erlernbar (oder gar verständlich) sind. Gerade, wenn die Luft dünner wird, in Bewerbungssituationen etwa, spielen diese habituellen Schemata eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Frau, Kinder, Erstakademikerin – eigentlich kann ich nicht behaupten, wenig geschafft zu haben mit meiner Promotion. Aber die Mängelperspektive liegt mir wohl etwas näher. Ist das ein „Frauending“ oder doch der unterwürfige Habitus der Erstakademikerin? Ich hätte es sicherlich einfacher haben können, wollte es aber nicht. Ja. Aber dennoch muss unterschieden werden zwischen strukturellen Ungleichheiten sowie Diskriminierung auf der einen und Lebensentscheidungen, die frau trifft, auf der anderen Seite.

Bezüglich Frauen in der Wissenschaft scheint für mich eine heikle Trennlinie zwischen Müttern und Kinderlosen zu bestehen. Hier wünsche ich mir – auch aus meiner eigenen Erfahrung – einen entspannten Umgang untereinander. Keine Überbietung in die eine oder andere Richtung. Frauensolidarität darf hier nicht aufhören! Ja, es stellen sich teilweise andere Fragen und andere Probleme, das Terrain ist persönlich und viele auf beiden Seiten sind hier verletzlich.

Aber weder will ich als Mutter ständig vermeintliche Rücksicht vorgehalten haben, die letztlich nur mangelndes Zutrauen suggeriert (etwa schon vorher aussortierte Tagungseinladungen, Zeitschriftenbeiträge etc.), noch Sätze wie „es darf keine Rolle spielen, ob du Kinder hast oder nicht“ zu hören bekommen. Am Ende spielt Elternschaft irgendwie eine Rolle – übrigens heutzutage auch bei vielen Männern. Und nein, ich will auch keine Heldin sein.

Ich bin eine promovierte Theologin. Praktische Theologin – wer mich genauer kennt, schmunzelt an dieser Stelle immer noch! – mit zwei Kindern. Ja, das ist eine Leistung. Aber dafür fiel auch anderes erst einmal unter den Tisch. Und jetzt bin ich erst einmal Vikarin. Aber die Ideen für weitere Forschungsprojekte gehen mir nicht aus. Ich bin gespannt, welche Wege sich öffnen und welche Wendungen noch eintreten werden!

Neue Kolumne: Frau Doktor

In der Serie „Frau Doktor“ berichten Theologinnen von ihrem Weg zum Doktortitel. Im Fokus der Theologie stehen viel zu häufig alte und tote Männer. Wir wollen die Leistungen junger Wissenschaftlerinnen ins rechte Bild rücken. Noch immer trauen sich Mädchen und Frauen eine Wissenschaftskarriere weniger zu als gleichaltrige Jungen und Männer. Wir wollen auch die Herausforderungen für Frauen in der Wissenschaft nicht ausblenden. Deshalb kommen sie hier zu Wort.

Bisher erschienen:

Folge 1: Dr. Teresa Tenbergen – Can a song save your life?
Folge 2: Dr. Andrea Hofmann – Horizont in Sicht
Folge 3: Dr. des. Claudia Kühner-Graßmann – Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!
Folge 4: Dr. Christiane Renner – Dr. theol. Christiane