Frau Doktor (5): Zwischen den Welten
Maike Domsel hat über den Tod promoviert, während sie als Gymnasiallehrerin voll berufstätig war. Ihre Entscheidung veränderte mehr als ihr Berufsleben.
Ich arbeitete bereits einige Jahre in meinem Beruf als Gymnasiallehrerin für die Sekundarstufen I und II, als ich spürte, dass der Wunsch zu promovieren mich nie ganz losgelassen hatte. Ich war und bin gerne Lehrerin für Katholische Religionslehre und Französisch, aber in der zunehmenden Routine erwachte bei mir die Neugier.
Meine (wissenschaftliche) Neugier und das Verlangen, mich über einen längeren Zeitraum auf besonders tiefgehende und dezidierte Art und Weise mit einem wichtigen Thema auseinanderzusetzen, wurden immer stärker. Dann traf ich – wie es der Zufall wollte – „meinen“ damaligen Professor in Bonn wieder, bei dem ich meine erste Staatsarbeit mit dem Titel „Grundlagen und Entfaltung des Hospizgedankens aus ethisch-theologischer Sicht“ geschrieben hatte.
Das Thema Hospiz und die Begleitung von sterbenden Menschen waren mir immer eine Herzensangelegenheit gewesen. Schon als jüngeres Kind habe ich mich gefragt, was nach dem biologischen Tod kommen könnte. Ich nahm die Verzweiflung und den Schock der Menschen wahr, wenn sie mit Sterben und Tod konfrontiert wurden. Ich dachte, da muss es doch etwas geben, was sie vielleicht zumindest ein wenig trösten, ihnen Hoffnung schenken kann. Erinnerungen konnten doch nicht alles sein, was von einem Menschen bleibt?
Das Thema verfolgte mich bis ins Erwachsenenalter, auch über die Berufsjahre hinweg. Ich wollte mich ihm wieder verstärkt widmen. So wurde mir geraten, meine Promotion bei den Steyler Missionaren in St. Augustin zu beginnen, weil es dort viele Studierende gäbe, die auch bereits berufstätig seien und man flexibler auf die Verpflichtungen von Berufstätigen reagieren könne.
Promotion neben dem Beruf
Tatsächlich hatte ich eine volle Stelle als Lehrerin und viele Korrekturen zu erledigen. Die wenigen Freunde* und Kollegen*, mit denen ich über mein waghalsiges Vorhaben sprach, machten keinen Hehl daraus, dass sie es für so gut wie aussichtslos hielten. Doch ich fing einfach an.
Zunächst galt es, diverse Seminare und Vorlesungen zu belegen, weil ich mit erstem und zweitem Staatsexamen nicht die verlangten Voraussetzungen erfüllte, um ein Promotionsstudium in der Theologie zu beginnen. Ich empfand diese Verpflichtungen jedoch nicht als Strafe. Es war sehr angenehm, in der Rolle der Lernenden zu sein. Ich bekam etwas geschenkt.
Mein Promotionsvorhaben begann ich in der theologischen Ethik. Mein wissenschaftlicher Schwerpunkt lag zunächst eher in dem Bereich, wo es um die Zusammenhänge von aktiver und passiver Sterbehilfe und um die Begleitung von Sterbenden im Kontext des Hospizgedankens ging. Da ich in einem Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden großgeworden bin, war mir aus Erfahrungen im näheren Umfeld bekannt, was aktive Sterbehilfe wirklich bedeutet und wie unterschiedlich die beiden benachbarten Länder mit der ganzen Thematik umgingen.
Ich merkte jedoch trotzdem instinktiv, dass ich „mein“ Promotionsthema noch nicht ganz gefunden hatte. Es passte einfach noch nicht, ohne dass ich direkt sagen konnte, was es genau war. Während einer Summer School lernte ich dann meinen „wirklichen“ Doktorvater kennen, der mich neugierig machte auf die systematische Theologie. Ich merkte, dass ich meinen Themenbereich dort gut einbetten konnte und es zudem möglich war, andere wichtige Schwerpunkte in Richtung Freiheitstheologie zu setzen.
So entstand ein Themenkomplex um Liebe, Freiheit und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, der Moribunden Trost spenden und gleichzeitig eine Inspiration für alle Menschen sein sollte, die sich mit den großen Lebensfragen und mit der „Welt danach“ beschäftigen möchten.
Trost den Moribunden
In der Studie sollte es primär um die Frage gehen, wie sich Christen* heute bei der Sterbebegleitung in einer religiös pluralen und säkularen Glaubenssituation einbringen können und wie in der vornehmlich an weltimmanenten Belangen orientierten Lebenswelt konkrete und für die Menschen bedeutsame eschatologische Hoffnung auf eine gute nachzeitliche Existenz bei Gott zum Tragen kommen kann.
Wie kann dem zeitgenössischen Menschen Auferstehungshoffnung vermittelt und diese so kommuniziert werden, dass alle Menschen, jedoch insbesondere Moribunde und ihre Angehörigen das Frohmachende und Trostspendende des christlichen Glaubens für sich erkennen können? Entspricht das, was Menschen angesichts des Todes gesagt wird, der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition? Wie können sich Menschen in der Nachfolge Jesu für schwache und leidende Menschen einsetzen, so dass diese auch ihre letzte Lebensphase würdevoll verbringen und möglichst gut vom irdischen Leben Abschied nehmen können?
Konkret sollte der freiheitstheologische Ansatz von Thomas Pröpper eine Brücke zwischen zeitgenössisch-säkularer und theologischer Anthropologie eröffnen. Er stellt die christliche Hoffnung nämlich so dar, dass ihre frohe und befreiende Botschaft verdeutlicht wird und gerade für den heute lebenden Menschen relevant werden kann.
Zwischen den Welten
Mein Thema hatte ich also gefunden, jetzt galt es, meine berufliche bzw. schulische Welt mit der wissenschaftlichen in Einklang zu bringen. Ich war zugleich systematische und praktische Theologin. Interessant war, dass sich beide Bereiche gegenseitig befruchteten. Ich bekam neue Ideen, einfach „Inspiration“, und probierte auch im Unterricht gerne Neues aus.
Ein Problem war eher die Organisation. Oft rannte ich zum Parkplatz der Schule, um noch rechtzeitig zu den Seminarveranstaltungen zu kommen. Meine Zeit musste ich mir sehr gut einteilen. Es war selbstverständlich, nahezu jede freie Minute an meiner Promotionsschrift zu arbeiten. Disziplin und Durchhaltevermögen waren angesagt. Bei all dem habe ich aber sehr darauf geachtet, dass zwischenmenschliche Beziehungen nicht zu kurz kamen. Ich habe meine sozialen Kontakte zu der Zeit besonders genossen, auch wenn die Zeit einfach knapp war.
Wandern in der Natur hat mir gutgetan. Abschalten konnte ich beim Singen. Interessanterweise ist es auch hier so, dass ich in mehreren Welten zu Hause bin: Meine Stimme kann sich nicht für eine eindeutige Lage entscheiden, wodurch ich sowohl Alt- als auch Sopran-Arien singe. Ich switche zwischen unterschiedlichen Welten. Das scheint mein Lebensmotto zu sein.
Als Erstakademikerin weiß ich, wie es ist, in verschiedenen Welten zu Hause zu sein. Identitätskonflikte kenne ich sehr gut: Manchmal kommt es zu unvermeidlichen Kollisionen zwischen den Bereichen. Rückschläge müssen verarbeitet, neue Kraft und neuen Mut geschöpft werden.
Die letzten Rigorosa
Ich war sehr gerne in St. Augustin. Die Vorlesungen und Seminare waren für mich sehr spannend. Der interkulturelle und interreligiöse Schwerpunkt interessierte mich sehr. Die angenehme klösterliche Ruhe bildete einen guten Kontrast zur lebendigen Hektik in der Schule. Außerdem kam ich sehr gut mit meinen Kommilitonen klar. Es entstanden Freundschaften, auch wenn die meisten „100%-Studierende“ waren, die nur bedingt nachvollziehen konnten, wie es ist, Vollzeit zu arbeiten und gleichzeitig zu promovieren.
Leider brauten sich in St. Augustin zunehmend dunkle Wolken zusammen: Aufgrund mangelnder finanzieller Mittel und ordensinterner Unstimmigkeiten drohte die Schließung der Hochschule. Es folgten zahlreiche Versammlungen und Diskussionen, Hoffnung gepaart mit Verzweiflung. Zwischendurch war ungewiss, ob ich meinen Abschluss dort machen könnte. Trotzdem habe ich es nach wie vor genossen, mich zwischen der schulischen und der universitären Welt zu bewegen. Leider fehlte mir aber oft der Austausch mit Kollegen*: Beide Welten waren doch sehr unterschiedlich. In beiden war ich aber immer präsent, auch wenn das anstrengend war.
Schließlich machte ich nach circa drei Jahren meinen Abschluss. Im Februar 2019 fanden meine letzten Rigorosa statt. Die größte Herausforderung bestand dabei wieder einmal nicht in der Prüfungsvorbereitung, im Sinne der Bewältigung des Stoffes, sondern eher hinsichtlich der Organisation der Prüfungstage. Es war schwierig, für die Prüfungen eine Beurlaubung von der Schule zu bekommen, obwohl es nur um wenige Stunden ging. Das war enttäuschend. Umso glücklicher war ich, als ich die Rigorosa erfolgreich bewältigen konnte und meine Anfrage bei einem renommierten Verlag wegen der Veröffentlichung meiner Qualifikationsschrift erfolgreich war.
Bei der Feier in St. Augustin war ich die einzige Promovendin. Ich erhielt als letzte eine Promotionsurkunde mit dem Siegel der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Augustin. Danach wandelte sich die Institution zur Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHTK). Viele, mit denen ich angefangen hatte zu promovieren, hatten ihr Vorhaben aufgegeben und waren deshalb abwesend.
Durch die Umbruchssituation war die Feier eine etwas seltsame Angelegenheit. Meine Promotion schien irgendwie unterzugehen. Vielen Mitgliedern* der Hochschule ist bis heute nicht bekannt, dass ich mein Studium abschließen konnte. Damit hatten sie wohl nicht wirklich gerechnet, weil sie wussten, dass ich berufstätig war. In der Schule hatte ich von meinem „Projekt“ auch nur vertrauten Kollegen* erzählt. Ich fürchtete, auf Unverständnis zu stoßen.
Weitermachen mit Schule und Wissenschaft
Bereits vor der Abschlussphase habe ich mich gefragt, wie es nach der Promotion für mich weitergehen sollte. Ich konnte mir keineswegs vorstellen, auf die wissenschaftliche Welt zu verzichten. Schreiben war für mich immer eine Quelle der Kraft. Meine Neugier eine Triebfeder, der es Rechnung zu tragen galt, wenn ich nicht unglücklich werden wollte. Das merkte ich gerade in der Corona-Zeit, in der ich mehr als sonst geschrieben und recherchiert habe.
Hier wurde mir besonders klar, wie wichtig mein Promotionsthema war, ist und auch bleiben wird: Es ist wichtig, dass alte und sterbende Menschen und ihre Angehörigen nicht an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden. Der freiheitstheoretische Ansatz nach Pröpper betont schließlich, dass Freiheit und Solidarität einander nicht ausschließen, sondern sich vielmehr gegenseitig bedingen. Insbesondere in Zeiten der Pandemie sollte das nicht vergessen werden.
Ich wollte weitermachen mit Schule und Wissenschaft. Zudem wurde mir mehr und mehr der Zusammenhang zwischen der Begleitung von (hoch-)betagten und sterbenden Menschen und meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bewusst. Beide Welten gehörten untrennbar zusammen, weil alte Menschen den Jungen viel zu sagen haben und weil alle voneinander lernen können. Und immer geht es um das Thema Vulnerabilität.
Kurz nach der Abgabe meiner Dissertation hatte ich das Glück, einen Intensiv-Kurs an der Creighton University (Omaha) belegen zu können. Im Kurs „Philosophical Bioethics“ wurden mir die Zusammenhänge noch einmal besonders deutlich. Es gilt, Menschen in besonders sensiblen Lebensphasen gut zu begleiten und sie zu unterstützen.
Mittlerweile bin ich Postdoc und habe immer noch eine volle Stelle als Lehrerin. Unmittelbar nach der Promotion begann ich eine Habilitation im Bereich der Religionspädagogik und nahm zudem zwei Lehraufträge an der Universität als Nebentätigkeit an. Ich habe mich sehr bewusst für diesen Werdegang entschieden. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ führte unmittelbar dazu, dass ich mich gefragt habe, was mir wirklich in meinem Leben wichtig ist. Ich treffe meine Entscheidungen bewusster, auf die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen lege ich größten Wert, berufliche Ziele werden klarer gesteckt.
Allerdings bleibt es schwierig und desillusionierend, wenn der Elan durch bürokratische Hindernisse ausgebremst wird. Das System Schule ist in Richtung der universitären Welt nicht gerade durchlässig. Zudem herrschen starke Vorbehalte Grenzgängern „zwischen den Welten“ gegenüber: In der Schule gelten Promovierte nicht selten als zu „abgehoben“, im akademischen Bereich wird oft auf Lehrer* hinabgeschaut. Dabei ist eine stärkere Vernetzung gerade hier besonders wichtig.
So gibt es in der Theologie insgesamt nur noch wenige Habilitationen, gerade im religionspädagogischen Bereich eklatante Nachwuchsprobleme. Zudem ist es wichtig, dass Studierende von Menschen ausgebildet werden, die nicht nur akademisch fit sind, sondern auch die Arbeit an der Basis kennen. Nur so kann eine gute Ausbildung beispielsweise angehender Religionslehrer* gesichert werden.
Denjenigen, die sich dieser herausfordernden Aufgabe widmen wollen, sollten keine Steine in den Weg gelegt, sondern sie sollten vielmehr von unterschiedlichen Seiten gefördert werden: von Schule und Bezirksregierung, der DFG und auch den Kirchen! Es gilt, verkrustete administrative Strukturen aufzubrechen und geeignete Kooperationen zu starten!
Grenzgänge können gelingen
Meine Promotion war ein gutes Projekt. Ich habe tolle Menschen kennengelernt, neue Perspektiven bekommen, meinen wissenschaftlichen Horizont erweitert, viele gute Kontakte geknüpft. Ich kann mich zudem glücklich schätzen, dass ich durch meinen Beruf während der gesamten Promotionsphase finanziell abgesichert war. Das ist keineswegs selbstverständlich!
Schön war, dass mir sowohl während der Promotion als auch zu Beginn der Habilitation Vertrauen von Seiten der Professoren* geschenkt wurde. Für jedes nette Wort von Familie, Freunden* und Kollegen* war und bin ich sehr dankbar. Allerdings waren auch viele Entbehrungen von Nöten, bürokratische Hindernisse zu überwinden, Vorurteilen entgegenzutreten. Zwischen den Welten habe ich mir einige Schrammen geholt, auch wenn alles sehr spannend war und ist.
Ich denke, dass jeder*, die promovieren (und erst recht sich habilitieren) möchte, vor allem Neugier, Wissensdurst und Durchhaltevermögen braucht. Es wird gute, aber eben auch schlechte Momente geben. Ich denke, dass es wesentlich für das Gelingen des Projektes ist, für sein Thema zu „brennen“, gerne zu schreiben und Berater* an der Seite zu haben, die inspirieren und ermutigen. Dann können auch Grenzgänge gelingen.
2. Staffel unserer Kolumne „Frau Doktor“
Unsere Serie „Frau Doktor“, in der Theologinnen von ihrem Weg zum Doktortitel berichten, geht in die 2. Staffel! Im Fokus der Theologie stehen viel zu häufig alte und tote Männer. Wir wollen die Leistungen junger Wissenschaftlerinnen ins rechte Bild rücken. Noch immer trauen sich Mädchen und Frauen eine Wissenschaftskarriere weniger zu als gleichaltrige Jungen und Männer. Wir wollen auch die Herausforderungen für Frauen in der Wissenschaft nicht ausblenden. Deshalb kommen sie hier zu Wort.
Bisher erschienen:
Folge 1: Dr. Teresa Tenbergen – Can a song save your life?
Folge 2: Dr. Andrea Hofmann – Horizont in Sicht
Folge 3: Dr. des. Claudia Kühner-Graßmann – Frauensolidarität darf hier nicht aufhören!
Folge 4: Dr. Christiane Renner – Dr. theol. Christiane
Folge 5: Dr. Maike Maria Domsel – Zwischen den Welten