Keine Angst vor den Evangelikalen!
Mehr Mut zu Jesus und zum Glauben erkennt Daniela Albert bei evangelikalen Christ:innen: Davon können sich Liberale eine Scheibe abschneiden! Es ist Zeit, alte Grabenkämpfe einzustellen.
Lange Zeit hielt ich Engstirnigkeit und Abschottung unter Christen vor allen Dingen für ein Problem der Konservativen. Mittlerweile finde ich sie in einem irritierend hohen Maß auch auf liberaler bis progressiver Seite. Etwas mehr Gelassenheit miteinander täte allen gut – und vielleicht könnte man am Ende sogar voneinander lernen.
Kira Geiss heißt die neue „Miss Germany“. Und hätte die Theobubble (kirchennahe Akteur:innen in den Sozialen Netzwerken, Anm. d. Red.) nicht auf einmal angefangen, sich für sie zu interessieren, wäre diese Neuigkeit sicher komplett an mir vorbei gegangen. Nichts könnte mich nämlich weniger interessieren als eine Miss-Wahl. Allerdings habe ich in meiner Ignoranz gegenüber solchen Events verpasst, dass es bei der Wahl zur „Miss Germany“ schon lange nicht mehr nur um einen Schönheitswettbewerb geht. Vielmehr ist sie mittlerweile ein „Female Leader Award“, der Frauen auszeichnet, die sich in besonderer Weise engagieren.
Und dieses Engagement von Kira Geiss ist auch der Grund, warum ihre Auszeichnung in christlichen Bubbles für Aufsehen gesorgt hat. Kira ist angehende Religions- und Gemeindepädagogin und hat in Magdeburg eine Jugendgruppe innerhalb der Landeskirchlichen Gemeinschaft gegründet. Christliche Jugendarbeit liegt ihr am Herzen, weil sie selbst einst, als sie in ein eher schwieriges Umfeld geraten war, dort aufgefangen wurde. Was sie an Gutem erfahren hat, möchte sie anderen in ähnlichen Lebenslagen gern weitergeben.
So weit so gut. Man könnte jetzt meinen, dass sich alle freuen und dass gerade die Kirchenmenschen schier aus dem Häuschen sind. Immerhin sollte man bei den immer weiter zurückgehenden Kirchenmitgliedszahlen doch froh sein, wenn der christlicher Glaube auf so positive Art in der Öffentlichkeit präsent ist – oder?
Doch wer unseren Verein nicht nur von außen beobachtet, sondern mittendrin ist, wundert sich nicht darüber, dass die schärfste Kritik an Kira Geiss von Christen kommt. Denn eine Jugendgruppe, die sich in der Landeskirchlichen Gemeinschaft – also einer Gemeinschaftsbewegung innerhalb der evangelischen Landeskirchen – verortet, ist für manch liberales oder progressives Gemüt schon nicht mehr verkraftbar.
Über Jesus sprechen = evangelikal?
Generell scheint man sich in Teilen der evangelischen Landeskirchen gerade sehr schwer damit zu tun, dass Angebote, die eher evangelikal/pietistisch geprägt daherkommen, auch in einigen ihrer Gemeinden präsent und beliebt sind. Kürzlich schrieb eine Mutter in einer Twitterdiskussion darüber, dass sie ihren Sohn nicht in den Konfirmandenunterricht schicken werde, weil der örtliche Jugenddiakon dort „zu evangelikale“ Strukturen geschaffen hätte. In verschiedenen Diskussion zum Thema „evangelikale Angebote“ im landeskirchlichen Umfeld konnte man solche Stimmen in letzter Zeit vernehmen und es scheint als habe manche landeskirchliche:r Vertreter:in richtiggehend Angst davor, dass sich innerhalb ihrer Kirchen ein Kulturwandel vollziehen könne.
Mal abgesehen davon, dass dieser Kulturwandel für mich nicht einmal im Ansatz in Sicht ist, frage ich mich auch, warum er ausschließlich als Bedrohung und nicht auch als Chance begriffen wird. Denn ehrlich gesagt: Dort wo Angebote für Jugendliche sich auch Elementen bedienen, denen man gemein hin das Label „evangelikal“ verpasst, läuft es oft relativ gut.
Ich persönlich hätte mich gefreut, hätte in meiner Konfirmandinnenzeit sich jemand wirklich darüber Gedanken gemacht, wie ich für Jesus zu begeistern bin. Stattdessen bestand das Jahr aus indischem Essen, seltsamen Meditationsübungen und dem Auswendiglernen von Psalmen, ohne dass sie jemand für mich mit Leben gefüllt hätte. Ich hätte die Kraft der Botschaft, die Jesus für uns Menschen im Gepäck hat, damals sehr gut gebrauchen können. Ein Ort, an dem ich auch nach meiner Konfi-Zeit Gleichaltrige, Sinn, Halt und Spaß gefunden hätte finden können, wäre mir eine gute Stütze gewesen. Leider gab es das nicht. Mein einziges Angebot für die Nach-Konfizeit war ein Babysitterkurs!
Und natürlich die Möglichkeit, in den von der Kirche betrieben Jugendclub zu gehen. Das war ein Raum, in dem Jugendliche sich zum Quatschen, Kickern oder Biertrinken treffen konnten. In meinem Heimatort gab es zwei Jugendclubs. Einer wurde von der Kirche betrieben, einer von der Jugendpflege der politischen Gemeinde. Sie unterschieden sich nur an einer Stelle: Der Raum der Kirche wurde von Dino aufgeschlossen, der von der Jugendpflege von Peter oder Elke. Ein spirituelles Angebot fehlte in den Jugendräumen der Kirche. Jesus war zu den Nachmittagen oder Abenden, die wir dort verbringen konnten, nicht eingeladen.
Ich glaube, der Jugenddiakon hat damals keinen schlechten Job gemacht, aber halt einen, der typisch für landeskirchliche Angebote dieser Zeit war. Er lenkte den Fokus der ihm anvertrauten Jugendlichen immer wieder auf soziale Probleme und war schon damals irgendwie „öko“ im allerbesten Wortsinn. Tatsächlich erinnere ich mich auch an gute Gespräche mit ihm über Gott und das, was er für unser Leben will. Nur war das nicht Kern seiner Arbeit. Hätte es aber sein müssen.
Der rosa Elefant im Raum
Ich bin in der Wohlfühlblase der 1980 und 1990er Jahre in Westdeutschland groß geworden. Meine Jugend kannte keine – für uns – nennenswert bedrohlichen Kriege, keine Pandemien und keine Geldsorgen. Junge Menschen heute wachsen aber ganz anders auf. Ihnen einen Ort zu geben, wo sie nicht nur gut aufgehoben sind, sondern auch lernen, dass Jesus ein cooler Typ ist, der etwas mit ihnen und ihrem Leben zu tun haben möchte, halte ich daher im Rahmen einer christlichen Jugendarbeit für wichtiger denn je.
Und ich finde – mit Verlaub – eher evangelikal tickende Akteur:innen haben das deutlich besser begriffen als die progressiven. Denn bei Letzteren finden sich immer noch ziemlich viele Jugendmitarbeiter:innen, die gut darin sind, eine Runde FIFA mit den Kids zu zocken, aber selbst wenig Ideen haben, wie sie Jesus ins Leben junger Menschen bringen können. Und so lange das so ist, haben diese Jugendlichen auch keinen Grund bei ihnen zu bleiben, wenn sie einmal aus dem Alter raus sind, in dem sie mit Jugendmitarbeiter:innen an der Konsole sitzen möchten. Anders ist es, wenn sie in den Kirchen mehr finden als einen Raum zum Chillen und Abhängen.
Und bevor Du, liebe Leser:in, jetzt so dolle Schnappatmung bekommst, dass wir dich wiederbeleben müssen, spreche ich ihn an: Den rosa Elefant, der schon seit dem zweiten Absatz dieser Kolumne unübersehbar im Raum steht. Denn du zeigst zu Recht mit dem Finger auf ihn und schüttelst schon ganz verzweifelt den Kopf darüber, dass ich ihn nicht sehe. Der rosa Elefant symbolisiert all das, was an der evangelikalen Welt hochproblematisch ist. Besonders, wenn man Kinder und Jugendliche als Zielgruppe im Blick hat. Er symbolisiert all die Botschaften, die niemand von uns mehr der nächsten Generation weitergeben möchte. Ach, und eigentlich lassen sie sich doch alle mit einem Wort zusammenfassen, oder? SEX!
Man kann Evangelikale eigentlich nicht guten Gewissens auf junge Menschen loslassen, die sich gerade auf dem Feld ihrer Sexualität enorm entwickeln, die gerade versuchen herauszufinden, wer sie auf diesem Gebiet sind. Denn viele junge, hippe Fromme haben ein riesiges Problem: Ihr spirituelles Angebot ist top und wirklich verlockend und ich halte es auch für zukunftsfähig, aber ihr Blick auf so manche gesellschaftliche Debatte ist höchst peinlich verengt! Und da kann man von evangelikaler Seite noch so sehr über den bösen Zeitgeist schimpfen und behaupten, Wahrheit und Erlösung im Gepäck zu haben: Man wird weiterhin an den Menschen, gerade an den jungen, vorbeipredigen, wenn man sich auf diesem Gebiet nicht schleunigst entwickelt, die Realität anerkennt und neue Antworten findet.
So lange man weiterhin Männern wie Leo Bigger oder Frauen wie Jasmin Neubauer die Deutungshoheit über den Umgang mit LGBTIQ*, Beziehungsformen, sexuellem Begehren und die Rollen von Männern und Frauen überlässt, statt sich auf die Suche nach tragfähigeren Konstrukten zu machen, wird man auf Dauer genauso verlieren, wie die, die Gott von vornherein aus ihrem Angebot ausschließen. Machen wir uns nichts vor: In jeder Schulklasse sitzen heute queere Kinder und Jugendliche. In jeder! Und in jedes kirchliche Angebot – ob evangelikal angehaucht oder landeskirchlich-progressiv oder irgendwo dazwischen – kommen queere Jugendliche, ob sie sich nun dazu bekennen, oder nicht. In jedes!
Alle Strohhalme, an die man sich jahrzehntelang von frommer Seite geklammert hat, die „Heilung“ versprachen oder sexuelle Orientierungen leugnen wollten, sind mittlerweile zerbrochen. Man muss eigentlich in einer Scheinwelt leben, um als frommer Mensch heute noch zu ignorieren, dass die alten Antworten nicht mehr taugen. Viele angeblich biblische Rechtfertigungen des Ausschlusses von queeren Menschen sind gut widerlegt. Wer heute noch an ihnen festhält und jungen Menschen auf der Suche etwas von sündhafter Sexualität erzählt, wird auf kurz oder lang mit dem sinkenden Schiff untergehen. Da ist nichts mehr zu machen.
Neugierig aufeinander werden
Hier brauchen die Konservativen die Progressiven und Liberalen. Um neue Antworten zu finden, sich zu öffnen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen, ihre Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit diesen Fragen abzulegen. Und neben der problematischen Prägung in Fragen der Sexualität könnte man sicher auch darüber diskutieren, wie man „Happy-Clappy“ mit der Lebensrealität vieler junger Menschen zusammenbringt, in der es manchmal viel mehr um das Aushalten von Dunkelheit geht.
Die Liberalen und Progressiven wiederum könnten sich eine dicke Scheibe von evangelikaler Spiritualität, Begeisterungsfähigkeit und Jesus-Liebe abschneiden. Die halte ich nämlich tatsächlich für einen echten Gewinn!
Insgesamt wäre es vielleicht langsam an der Zeit, alte Grabenkämpfe einzustellen, eigene Fehler einzugestehen und neugierig aufeinander zu werden. Denn ich glaube, alle Bubbles hätten dieser komischen Christenfamilie, in der wir da leben, eine Menge zu geben. Ich glaube, dass nur eine Kirche, die sich das Beste aus allen Frömmgikeiten herauspickt, auf Dauer noch irgendeine Relevanz haben wird.
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