Kolumne Sektion F

Macht(un)gleichheit

In der evangelischen Kirche sind alle Menschen gleich, aber manche dann doch eben gleicher. Wir müssen Machtstrukturen transparent machen und abbauen, das zeigt nicht zuletzt der Missbrauchsskandal.

„Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher als andere.“ George Orwell beschrieb in „Animal Farm“ das, was nach Revolutionen auch schieflaufen kann. Erst geht es den Tieren deutlich besser, nachdem sie sich ihres Farmers entledigt hatten, dann unterdrücken die Schweine die anderen Tiere. Auf die Vergleiche, zu denen „Animal Farm“ einlädt und die vor allem mit kommunistischen Ländern gemacht wurden, will ich hier gar nicht eingehen. Mein Fokus gilt der Evangelischen Kirche.

Auch sie basiert auf einem Gleichheitspostulat: Das Priester*innentum aller Getauften gilt als eine der reformatorischen Hauptaussagen. Wie umfassend es ausgedeutet werden konnte oder eben auch nicht, lässt sich gut an den Bäuer*innenkriegen ablesen. Hat das Priester*innentum aller Getauften auch sozial-ökonomische und politische Folgen, wie sie von Müntzer und Co. gefordert wurden? Die radikalen Reformator*innen ernteten vor allem Tod und Verachtung. Wie hält es der Protestantismus mit der Macht?

Ziemlich schnell entwickelte zu Reformationszeiten ein gewisses Ordnungsbedürfnis: Zwar sind alle Getauften und/oder alle Gläubigen auch Priester*innen – der biblische Anknüpfungspunkt 1Petr 2,9 steht sonst selten im Fokus –, aber trotzdem braucht es ein Amt. So hält es die Confessio Augustana 1530 fest (CA 5). Und so entsteht, obwohl der „Klerus“ eigentlich abgeschafft ist, doch wieder ein Stand von besonders Gleichen. Alle Christ*innen sind gleich, aber manche sind gleicher als andere.

Machtstrukturen gibt es in jedem Sozialkontext. Es gibt auch internalisierte Machteinflüsse, wenn Menschen sich darüber Gedanken machen, was wohl XY zu irgendwas sagen würde. Es gibt greifbare Machtverhältnisse und immaterielle Machtverhältnisse. Greifbar heißt, es handelt sich um ein Macht- bzw. Abhängigkeitsverhältnis, das zum Beispiel gesetzlich festgelegt wurde und/oder sich in Finanzen ausdrückt. Solche Machtverhältnisse könnten wir auch strukturierte oder sichtbare Machtverhältnisse nennen. Zum Beispiel sind das Weisungs- oder Bewertungsbefugnisse gegenüber Mitarbeiter*innen oder Lernenden, aber eben auch (finanzielle) Sorgeverhältnisse. Immaterielle Machtverhältnisse sind demgegenüber diffuser und weniger leicht erkennbar. Zu ihnen gehören gruppendynamische Prozesse, die zu inner circle(s) und Außenseiter*innen führen. Dazu gehört auch, dass manche Menschen meinen, anderen Menschen Ratschläge erteilen zu können.

Und bei all diesen Verhältnissen schwingen sozial erlernte Muster mit, in denen manchen Menschen schon vor genauerem Kennenlernen Kompetenzen zugeschrieben werden, weil sie weniger als Individuum betrachtet werden, sondern von wahrgenommenen Identitätsaspekten (unbewusst) Rückschlüsse auf Fähigkeiten gezogen werden. Dabei geht es um Klischees. Es geht aber auch um internalisierte Diskriminierung, zum Beispiel: Frauen werden oft bessere Kommunikationsfähigkeiten zugeschrieben, sodass sie besonders gut für soziale Berufe geeignet wären.

Immaterielle Machtverhältnisse überlagern sich häufig mit greifbaren. Am 6. März war der Equal Pay Day (s. #LaTdH von Sarah Banhardt). Greifbar wurde hier, dass Frauen 18 % weniger entlohnt werden als Männer. Dabei stehen diskriminierende Vorannahmen und ein Mangel an gesellschaftspolitischen Maßnahmen im Hintergrund.

Greifbare Machtverhältnisse

Was bedeutet das jetzt aber für „die“ evangelische Kirche? „Die“ evangelische Kirche beschränke ich jetzt mal auf Landeskirchen. Zunächst greifbare, also materielle Machtverhältnisse: In der evangelischen Kirche sind Lohnunterschiede erkennbar, wobei ohnehin der Großteil kirchlichen Lebens von Ehrenamtlichen und Nebenamtlichen getragen wird. Doch auch bei den Hauptamtlichen zeigen sich Binnendifferenzierungen je nach Landeskirche, da sich Besoldungen an Landesbesoldungen orientieren, und je nach Berufsstand. Kirchenmusiker*innen und Gemeindepädagog*innen erhalten deutlich weniger Lohn als Pfarrer*innen, die obendrein durch die Verbeamtung dienstrechtlich und auch im Alter besonders abgesichert sind. Personalmangel herrscht in der Kirchenmusik fast noch eklatanter als auf der Kanzel.

Auch unter den Pfarrer*innen wird zwischen verbeamteten und Kandidat*innen des Predigtamtes differenziert, wenn auch die gleichen Aufgaben übernommen werden. Superintendent*innen / Dekan*innen / Pröpst*innen erhalten mehr Geld als Gemeindepfarrer*innen (Pfarramt: A 13 oder 14). Gegen eine Hochstufung der Ephor*innen nach A 16 sprach sich beispielsweise vor gut sieben Jahren der Hannoversche Pfarrverein aus. Einige Superintendent*innen verließen den Verein daraufhin. Das mit dem Geld ist so eine Sache: Ein hierarchischer Aufstieg ist auch ein monetärer Aufstieg.

Doch – und das ist sehr wichtig! – nicht alle greifbaren Machtverhältnisse werden in der Kirche auch automatisch finanziell abgebildet. Durch die demokratischen oder demokratieähnlichen Strukturen haben beispielsweise Kirchenvorsteher*innen / Presbyter*innen, die für ihr Ehrenamt kein Geld erhalten, Entscheidungsbefugnisse und können so „ihren“ Pfarrer*innen auch Weisung erteilen oder tragen Personalverantwortung gegenüber Sekretär*innen, Küster*innen und anderen kirchlichen Mitarbeiter*innen. Synodale haben umfassende Entscheidungskompetenzen für die kirchliche Zukunft und bestimmen zum Beispiel über Stellenpläne mit.

Die „gläserne Decke“ durchbrechen

Wie ist es mit den immateriellen Machtverhältnissen? Also denen, die nicht explizit geordnet sind. Hier fallen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Eigentlich sind ja alle Christ*innen gleich, aber manche sind eben gleicher als andere. Jene, die (Theologie) studiert haben, scheinen auf ihre Art gleicher zu sein. Die, die heterosexuell, monogam, cis, weiß, neurotypisch und able-bodied sind, scheinen gleicher zu sein als andere. Jene Menschen, die Deutsch als Muttersprache sprechen und ohne allzu offensichtliche oder fernliegende Migrationsgeschichte gelesen werden, scheinen gleicher zu sein als andere.

Abweichungen von dem, was regional und in der eigenen Kirche als „normal“ gilt, werden häufig versteckt, weil es einen unausgesprochenen Anpassungsdruck gibt: „Ach, Du kommst aus dem Osten?“ „Deine Eltern sind aber nicht von hier, oder?“ Solche Normalitätsansprüche reichen bis in das Privatleben von ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden hinein, wenn es um die Gestaltung des Familienlebens, der Partner*innenschaft oder auch Stilfragen geht. Diversität wird in Kirche und Theologie nicht immer und schon gar nicht automatisch akzeptiert (s. „Sektion F“ von Januar & Februar 2024).

Die sogenannte „gläserne Decke“, die – das war die erste Erkenntnis – Frauen von Leitungspositionen fernhält (Stichwort: homosoziale Kooptation), hält häufig auch Nichtakademiker*innen, Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder Behinderung, BIPoC, Neurodivergente und Queere aus den Führungsetagen der evangelischen Kirche raus. Und das, obwohl der theologisch begründete Selbstanspruch dem komplett widerspricht. Das Priester*innentum aller Getauften meint wirklich alle! Und nicht nur die, die auch aufgrund ihrer Lebensgestaltung oder aufgrund anderer Eigenschaften genehm sind.

In der Christ*innentumsgeschichte gab es immer wieder Versuche, sich auf die urchristlichen Ideale der Gleichheit aller Gläubigen zurückzubesinnen und damit auch Hierarchie und Institution hinter sich zu lassen. Die Reformation war flächendeckend antipäpstlich und damit in ihrer Gesamtheit – zumindest gegenüber kirchlicher Obrigkeit – antihierarchisch. Im 18. Jahrhundert gab es im Pietismus sog. Konventikel, private Zusammenkünfte, die quer zur Institution lagen. Anfang des 20. Jahrhunderts unternahm Adolf von Harnack den Versuch, zwischen einem urchristlichen Kern und verschiedene diesen Kern überlagernde Schalen zu unterscheiden. Zur Richtschnur aller dieser Bewegungen und Überlegungen wurde immer wieder die Bibel. Schließlich wurde mit der historisch-kritischen Exegese auch innerhalb der Schrift zwischen früheren, älteren, möglicherweise speziell jesuanischen oder von Autor*innen oder Redaktor*innen eingetragenen Bereichen unterschieden. Die Hierarchiekritik findet also auch innerhalb der Bibel statt.

Kolumne: Sektion F

In unserer Kolumne „Sektion F“ schreibt Carlotta Israel über feministische Theologie und Kämpfe in Kirche und Wissenschaft. Was haben Feminist:innen unterschiedlicher Generationen einander zu sagen? Welche feministischen Fragestellungen können die Diskussion in Kirche und Gesellschaft bereichern? Als Feminismus-Agentin begibt sich Carlotta Israel für uns auf die Spuren des Feminismus in Kirche und Theologie.

Besondere kirchliche Machtverhältnisse

Zu den immateriellen Machtverhältnissen in der Kirche gehören außer den Beteiligungsstrukturen an Machtentscheidungen, die zumeist gesellschaftlich erlernte Diskriminierungsmuster reproduzieren, aber auch Spezifika. Dabei sticht Seelsorge als besonderes Feld kirchlichen Handelns hervor. Seelsorge wird oft mit hauptamtlich in der Kirche arbeitenden Personen verbunden. Je nach dem, was unter Seelsorge verstanden wird -von Zwischen-Tür-und-Angel-Gesprächen bis zu festen Terminen im Amtszimmer einer Pfarrperson – können das aber selbstverständlich weitaus mehr und andere Personen sein.

Auch wenn das Ideal von Seelsorge anders aussieht, können Abhängigkeits- und Machtverhältnisse in seelsorglichen Kontexten entstehen, die besonders dann, wenn sie sich mit den greifbaren Machtverhältnissen überschneiden, zu Gefährdungen führen können. Es kann aber auch in spirituellen Begleitungsverhältnissen zu derlei Schieflagen kommen.

Warum das ganze Gerede über Macht? Es ist nicht erst seit der Veröffentlichung der „ForuM“-Studie offensichtlich, dass auch in der evangelischen Kirche Machtverhältnisse ausgenutzt werden, um sexualisierte Gewalt auszuüben, sie zu verschleiern oder sogar zu vertuschen. Es ist darum bedeutsam, wie Menschen mit struktureller, also greifbarer Macht, heute über diesen Machtmissbrauch sprechen. Erkennen sie überhaupt an, dass es auch in der evangelischen Kirche Machtausübung gibt, die gut reflektiert werden muss? Oder werden Machtverhältnisse kleingeredet? Wir bemerken, wie viel stärker Leitungspersonen nach wie vor wahrgenommen werden im Vergleich zu jenen, die in der Kirche sexualisierte Gewalt und anderen Missbrauch erlitten haben.

Leitende Geistliche sprechen von Verantwortungsübernahme und Veränderung. Der Landesbischof der Hannoverschen Landeskirche, Ralf Meister, hat vor wenigen Tagen erst einen Rücktritt abgelehnt, obwohl er Fehler im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen einräumen musste (s. #LaTdH vom 17. März). Seine Begründung ist bemerkenswert:

„Was verändert sich durch einen Rücktritt mit Blick auf die Gesamtlage der Kirche, die – entschuldigen Sie, wenn ich das sage – dieses als ein zentrales, absolut brutales Versagen des eigenen Handelns sieht, aber das nicht als einziges Thema der Kirche hat?“

Eine Lehre aus „ForuM“: Machtstrukturen reflektieren

Was würde sich durch Rücktritte von Leitenden Geistlichen ändern? Zunächst würde wohl vielen Menschen in der Kirche die Ernsthaftigkeit der Lage deutlich werden, in der die Missbrauchskrise von zentraler Bedeutung ist. Meisters Begründung zeigt, dass er die Missbrauchsfälle gewichtet. Er hat nicht weiter ausgeführt, welche Themen der Kirche auch wichtig sind. So wichtig, dass es ihn weiter als Landesbischof braucht. Was das Thema der Kirche ist, steht allerdings für Viele fest: Die Kommunikation des Evangeliums. Dass die Kommunikation des Evangeliums durch den Missbrauch nicht nur untergraben wird, sondern die Botschaft selbst in missbräuchlicher Weise eingesetzt wurde und wird – hat er das schon angemessen aufgenommen?

Meister hat für persönliche Fehler um Entschuldigung gebeten. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass er auch Amtsperson ist – und zwar in einem auch missbräuchlichen System. Dass dieses umfassender Veränderung bedarf, wäre mit einem Rücktritt noch deutlicher gezeigt. Aber es kann auch etwas „Scheinheiliges“ haben, jetzt nur auf Rücktritte von leitenden Geistlichen zu warten oder solche als ausreichende Zeichenhandlungen zu verstehen. Damit ist es längst nicht getan.

Aufklärung und Besserung wird von jenen Akteur*innen mit struktureller, greifbarer Macht in Aussicht gestellt. Dazu gehören in der evangelischen Kirche nicht allein Leitende Geistliche, die jetzt vor allem befragt werden, sondern auch die Mitarbeitenden in den Landeskirchenämtern, in den Kirchgemeinden – und auch die ehrenamtlich tätigen Menschen, die in Kirchenvorständen und Synoden an der Kirchenleitung teilnehmen. Macht und damit Verantwortung sind in der evangelischen Kirche ungleich verteilt, aber sich einfach für nicht zuständig erklären, das geht eben nicht.

Dieser Anspruch muss jetzt auch eingeholt werden. Und das können alle einfordern. Alle an Kirchenleitung auf unterschiedlichen Ebenen Beteiligten können mitwirken daran, dass Machtstrukturen transparenter werden. Dafür ist es auch notwendig, zum Beispiel freund*inschaftliche Verbindungen unter Kirchenleuten, die Verdeckungen befördert haben, zu untersuchen. Denn Macht wird in der evangelischen Kirche eben nicht nur institutionell ausgeübt.

Wie krass wäre es denn bitte, wenn am Ende einer solchen Reflexion die Erkenntnis stünde: Ok, wir haben es jetzt mit einem Machtsystem mit großem Gefälle, das wir aber nicht ausdrücklich benennen, probiert und haben herausgefunden, dass es nicht klappt. Reformatorisch gesprochen sind alle Kirchenordnungen nur menschlich und in die Irre gehen deswegen leider auch vorprogrammiert.

Wie krass wäre es denn, wenn die Reflexion über Macht dazu führen würde, das Ideal des Priester*innentums aller Getauften noch konsequenter in der Verteilung von Macht zum Ausdruck zu bringen? Der Blick in die Kirchengeschichte zeigt: Solche Versuche gab es immer mal wieder. Und ja, ganz durchgehalten wurden sie eher nicht. Aber wer weiß, ob es sich nicht trotzdem lohnen würde, jetzt die Kirchenstruktur noch einmal anders zu denken.


Alle Ausgaben von „Sektion F“ hier in der Eule.

Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“ (inkl. der „ForuM-Studie“).


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