Ein Pastor und ein Muslim schwätzen auf einer "Black-Lives-Matter"-Demo in Washington, Foto: Koshu Kunii (Unsplash)
Kultur

„Politisches Christentum“: Wo die Religionskritiker:innen irren

Müssen wir vom „politischen Christentum“ als einer Gefahr für die Gesellschaft sprechen? Gegen rechtsradikale Christen hilft nicht weniger, sondern mehr politischer Glaube.

In ihrer SPIEGEL-Kolumne hat sich Margarete Stokowski das „politische Christentum“ vorgenommen. Sie warnt eindrücklich vor christlichen Fundamentalist:innen, die auch mitten in Europa ihre Agenda verfolgen. Am Beispiel der Verschärfung des Abtreibungsverbotes in Polen zeigt sie, dass darunter vor allem Frauen und Minderheiten leiden.

Stokowskis Warnung kommt zur rechten Zeit: In den USA, immer noch die Führungsmacht des Westens, bestimmen die Anliegen fundamentalistischer Christen den Wahlkampf Donald Trumps und darum die Schlagzeilen. Auch die Berufung der sehr konservativen katholischen Juristin Amy Coney Barrett an den dortigen Supreme Court hat weltweit Aufmerksamkeit auf die Rolle von rechten Christen in den Gesellschaften des Westens gelenkt. Nicht zuletzt haben wir es auch in Deutschland immer wieder mit Christen zu tun, die aus rechten und rechtsradikalen Überzeugungen Politik machen.

Religiöser Fanatismus ist Teil des Christentums

Religiöser Fanatismus führt dort, wo er mächtig wird, zu Wissenschaftsverachtung, mangelnder Toleranz gegenüber Andersgläubigen, Diskriminierung und Gewalt gegenüber Minderheiten sowie Frauen und Kindern. Daran kann und sollte man die – nur oberflächlich aufgeklärte – Gesellschaft auch in unserem Land häufiger erinnern. Besonders, weil sich religiöser Fanatismus vor allem an den Rändern der Religionsgemeinschaften und manchmal völlig von ihnen losgelöst, also im Verborgenen, verbreitet. Oder wann haben Sie zuletzt in einer Predigt ein emphatisches Lob der Kreuzzügler gehört? Trotzdem stellen sich Rechtsterroristen bewusst in diese christliche Tradition.

Stokowski fordert, man solle ebenso wie vom „politischen Islam“ vermehrt vom „politischen Christentum“ und seinen Gefahren sprechen. Gleichwohl schränkt sie direkt ein, dass es sowohl den Islam als auch das Christentum nicht gebe. Aber auch sonst ergibt das Schlagwort keinen Sinn, es ist schon bei seiner Anwendung auf den Islam grob fahrlässig. Problematisch ist auch dort nicht der Wille, die eigenen religiösen Überzeugungen politisch einzubringen, sondern der religiöse Fanatismus und das faschistische und terroristische Instrumentarium, das von rechtsextremen Islamisten in Anschlag gebracht wird.

Jeder Glaube ist immanent politisch. Das gilt selbst für die östlichen Religionen und mystischen Traditionen in Judentum, Christentum und Islam. Auch Weltabkehr und Verinnerlichung sind politische Akte, ebenso die von rechten Kritiker:innen von den Kirchen häufig geforderte „Konzentration auf das Wesentliche“. Aus der Kontemplation folgt die Aktion bzw. der bewusste Verzicht auf ein Handeln „in der Welt“.

Alle Religionen tragen beide Momente in sich und können sich darum auch nicht davon frei machen, was Menschen in ihrem Namen verbrechen. Das gilt für islamistische Terroristen, die selbstverständlich zum Islam gehören (auch wenn die Islamverbände das anders sehen), wie für christliche Milizen in den USA, übergriffige Abtreibungsgegner:innen und auch jene Rechtsterroristen, die in einem christlich durchtränkten Verschwörungsglauben versunken sind.

Reflektiert politisch glauben

Die Antwort auf die Politisierung des Christentums von Rechts kann darum nicht eine Enthaltung sein. Nicht weniger politisches Christentum wird gebraucht, sondern mehr. Natürlich handelt es sich bei einem guten politischen Christentum um ein reflektiertes Glauben und Handeln. Wer seinen Glauben ernst und darum politisch meint, der muss sich Rechenschaft darüber ablegen, welche Politik die eigene religiöse Tradition bisher nahelegte, welche Handlungsalternativen von ihr geboten sind und wo sie sich in der Vergangenheit oder Gegenwart anfällig für Vereinnahmungen „von außen“ erwiesen hat.

„Von außen“ heißt in einer christlich geprägten Kultur natürlich, dass man hier eben nicht klar und deutlich wird scheiden können, was genuin christlich ist oder was andere Akteur:innen in das Christentum eingeschleppt haben oder einschleppen (wie Liane Bednarz in ihrem, von Stokowski erwähnten, Artikel meint). Politisches Christsein bedeutet darum, sich umfänglich verantwortlich zu zeigen auch für die Verwirrungen und Verstümmelungen, die dem Evangelium unter dem Banner der Macht und des Selbsterhalts beigebracht wurden und werden. Diese Selbstkritik fängt schon beim Bibellesen an.

Für einen derart reflektierten Glauben bringen die Kirchen in Deutschland übrigens ein erstaunlich umfassendes Netz von Hilfsmitteln mit: Die Weltanschauungsbeauftragten der Bistümer und Landeskirchen, die EZW, kirchlichen und universitären Forschungsstellen, Jugend- und Erwachsenenbildung in Verbänden und Akademien, die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus und nicht zuletzt eine zumindest in weiten Teilen kritische Kirchenöffentlichkeit und Publizistik vermögen das Christentum hierzulande zwar nicht gegen religiösen Fanatismus und Rechtsradikalismus zu „immunisieren“, aber sie leisten doch das, was der katholischen Kirche Polens und den Evangelikalen und reaktionären Katholiken in den USA besonders abgeht:

Sie sorgen dafür, dass Christ:innen und ihre Kirchen informiert und reflektiert über die politischen Implikationen ihres Glaubens nachdenken (müssen). Sie schaffen Problembewusstsein dort, wo es besonders dringend benötigt wirdSie leuchten aus, was anderswo verborgen bleibt. Sie verwechseln diese wichtige und notwendige Form der Religionskritik nicht mit einer simplifizierenden Ablehnung jeder Religiosität, die im schlimmsten Falle selbst bewirkt, was sie zu bekämpfen vorgibt.

Nicht zuletzt bieten sie ein differenziertes Vokabular zur Beschreibung rechtsradikalen Glaubens an, das uns davor bewahrt, in vereinfachenden und verharmlosenden Zuschreibungen zu verharren. Wer wie Bednarz, Stokowski und ich fordert, dass auch unter Christen nicht konservativ genannt wird, was rechts oder rechtsradikal ist, der sollte eben nicht im gleichen Atemzug das „politische Christentum“ ins Abseits stellen.

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