Tag für Tag – Die #LaTdH vom 12. Januar
Seit zehn Jahren versucht die katholische Kirche sich an der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Außerdem: Diskursbegründungen, Bischofskandidat*innen und andere Personalia.
Debatte
Zehn Jahre ist es nun her, dass Klaus Mertes mit einem Brief an ehemalige Schüler seiner damaligen Schule, dem Canisius-Kolleg in Berlin, den Anlass für die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland gab. Zehn lange Jahre, in denen nicht nichts, aber doch zu wenig geleistet wurde.
„Ein Fanal an die Kirche“ – Klaus Mertes im Interview, Tobias Fricke (Domradio)
Tobias Fricke befragt Klaus Mertes in einem kurzen Interview für das Kölner Domradio zum Jahrestag. Mertes hatte vor zehn Jahren gegen viele Widerstände den Stein der Aufarbeitung ins Rollen gebracht. Zumindest, was die Kirche in Deutschland angeht.
Nicht vergessen darf man, dass die röm.-kath. Kirche da schon seit zwanzig Jahren immer wieder Missbrauchsskandale in anderen Ländern erlebte (Irland, USA), die hätten ausreichen müssen, um weltweit über das Thema nachzudenken!
DOMRADIO.DE: Wenn Sie sagen, es gab eine Verantwortung, sind Sie aber offenbar einer der ersten gewesen, der das so gesehen hat. Wie sehr sind Sie in den vergangenen Jahren für diesen Schritt angefeindet worden?
Mertes: Ich bin von vielen sehr angefeindet worden. Aber viel mehr habe ich aus dem Inneren des katholischen Kirchenvolkes Unterstützung erfahren. Es ist ja völlig selbstverständlich, dass man in einer solchen Frage Verantwortung übernimmt.
Die Enthüllungen am Canisius-Kolleg blieben nicht folgenlos. Vor allem an katholischen Schulen und Internaten (z.B Regensburger Domspatzen, hier & hier) wurde der grassierende systemische Missbrauch thematisiert, nicht selten aufgearbeitet und die Betroffenen erhielten nach Jahr(zehnten) des Schweigens eine Stimme.
Und auch in den Kirchen änderte sich zunächst sogar sehr schnell etwas: So habe ich bei der letzten JuLeiCa-Auffrischung Anfang der 2010er-Jahre erstmals auch eine Seminareinheit zur Prävention sexuellen Missbrauchs ablegen müssen, inkl. Selbstverpflichtung, die bei jungen ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen das Vorlegen eines polizeilichen Führungszeugnisses (mangels Aussagekraft) ersetzte.
Ein Modell, das durchaus auch heute nachahmenswert erscheint. Das war in der vielgescholtenen Sächsischen Landeskirche, also im evangelischen Spektrum, wo der Fokus nicht vor allem auf den ordinierten Religionsbediensteten liegt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Thema nach dem Erledigen der Hausaufgaben bei der Prävention evangelischerseits bis zum Herbst 2018 von vielen verdrängt wurde.
MHG
Es hat acht Jahre gebraucht, bis im Herbst 2018 mit der MHG-Studie die Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche in ihre nächste Phase gezwungen wurde. Denn nach der MHG-Studie ist es unmöglich geworden, ohne den Blick auf systemische Ursachen und spezifisch katholische Ermöglichungszusammenhänge über den Missbrauch zu sprechen.
MHG-Studie heißt aber auch die traurige Gewissheit, dass über die Jahrzehnte des Studienzeitraums hinweg sich ca. 5 % aller Priester an Kindern- und Jugendlichen vergingen. Nein, es geht wirklich nicht um „Einzelfälle“.
Ackermann: Missbrauchsskandal ist „kirchengeschichtliche Zäsur“ (katholisch.de, KNA)
Zum 10. Jahrestag zog der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Bilanz: Es sei nicht alles schlecht, aber ein konkretes Datum für den Beginn von Entschädigungszahlungen könne man immer noch nicht nennen.
Das verwundert auch deshalb, weil Ackermann selbst seit dem Herbst (u.a. direkt vor Beginn der Synode der Evangelischen Kirche) laut darüber spekuliert, woher die Millionensummen denn kommen könnten, die als Entschädigungszahlungen für erlittenes Unrecht an die Betroffenen ausgezahlt werden könnten (s. #LaTdH vom 29. September 2019).
Zur Frage nach der derzeit diskutierten Neuregelung von kirchlichen Entschädigungszahlungen für Betroffene sexuellen Missbrauchs legte Ackermann noch keinen konkreten Zeitplan vor. Auf der Frühjahrsvollversammlung der Bischöfe in Mainz werde zunächst über die Weiterentwicklung des Konzepts entschieden, nicht unbedingt über die konkrete Höhe und die Modalitäten der Entschädigungszahlungen.
Es wird doch immer klarer, dass der von beiden großen Kirchen eingeschlagene Weg, erst gründlich „aufzuarbeiten“, bevor noch einmal über angemessene Entschädigungen gesprochen werden soll, den Betroffenen eine viel zu lange Wartezeit zumutet. Das lange Warten wurde dieser Tage unter anderem von Matthias Katsch (@KaMaZhe), Sprecher des „Eckigen Tisches“, beklagt.
Individuelle Leistungen wurden von beiden Kirchen durchaus gezahlt, allerdings bezogen diese in ihrer Höhe die Langzeitfolgen des Missbrauchs für die Betroffenen kaum mit ein. Betroffene fordern daher, die Frage der Entschädigungen bald anzupacken.
Die katholische Kirche hat auf Zeit gespielt – Christiane Florin (Deutschlandfunk)
Die bekannteste katholische Journalistin des Landes, Christiane Florin (@ChristianeFlori) vom Deutschlandfunk, ist von Beginn an mit dabei und fällt ein vernichtendes Urteil über die Aufklärungsbemühungen der Kirche:
Schon 2010 beteuerten die Bischöfe, an der Seite der Opfer zu stehen. Tatsächlich haben sie auf Zeit gespielt, während die Verjährungsuhr gnadenlos tickte. Das Thema Entschädigung, eine der frühen Forderungen von Opferverbänden, wird erst jetzt angegangen. Für die Betroffenen waren die vergangenen zehn Jahre, sollten sie den bischöflichen Beteuerungen geglaubt haben, besonders bitter. Für die Kirchenleitung hat sich die Zeitschinderei gelohnt.
In ihrem kurzen Kommentar erinnert Florin auch an die Versäumnisse der staatlichen Behörden, die dem kirchlichen „Aufarbeitungseifer“ nach anfänglicher Skepsis bis heute vertrauen. Wer sich heute für seine Fehler in der Vergangenheit entschuldigt, wie es zuletzt einige Ruheständler taten, braucht sich nicht vor Klagen zu fürchten – im Gegenteil, er erntet für sein Reden nach langem Schweigen vielstimmiges Lob.
Nur allzu verständlich innerhalb einer Institution, in der noch heute beklagt wird, man würde wegen längst vergangener „Einzelfälle“ von Betroffenen und den Medien an den Pranger gestellt. Eine bemerkenswerte Schuldumkehrung.
Niemand musste wegen Missbrauchs oder Vertuschung zurücktreten, kein hochrangiger deutscher Kleriker steht vor Gericht. Der Staat macht keinen Druck. Die katholische Kirche hat schon gar keine moralische Fallhöhe mehr, aus der sie abstürzen könnte. Für manche ist das ein komfortabler Zustand.
Zehn Jahre hat es gedauert, bis meine alte Schule, das #CanisiusKolleg in Berlin, mich zu einem Vortrag eingeladen hat. Fühl mich gerade wie vor der Abiprüfung, Thema: wie Betroffene den #Missbrauchsskandal 2010 erlebt haben, und weshalb wir immer noch nicht damit durch sind.
— Matthias Katsch 卡馬哲 (@KaMaZhe) January 7, 2020
Unterdessen ist jeder Anlass den katholischen Würdenträgern heilsam und billig, andere Säue durchs Dorf zu treiben. Und auch die lieben „Laien“ lassen es nicht an Interventionen zu den jeweiligen Herzensthemen ermangeln. Im Wochentakt – liebe Leser*in der #LaTdH, Sie haben es längst gemerkt! – füllen sich die katholischen Medien mit den immer wieder gleichen, immer wieder neuen Grundsatzfragen, die zu diskutieren wir dann angehalten sind.
Diese Woche im Angebot: Gemeinsames Abendmahl, Kritik am „Synodalen Weg“ & Warnungen vor dem Scheitern des „Synodalen Weges“ und ein schüchterner Blick auf die Auswirkungen der Missbrauchskrise für die Theologie.
Frauen in der katholischen Kirche – Symbolbild:
Wir spielen eine tragende Rolle, bleiben aber weitestgehend unsichtbar.
(Deshalb haben wir die etwas leere Kerze auch ein bisschen ergänzt…)
👩🏼🕯👩🏻 pic.twitter.com/1XB9T10RfN— Madame Survivante (@MmeSurvivante) January 11, 2020
Der Synodale Weg darf kein Selbstzweck werden – Lucas Wiegelmann („Standpunkt“, katholisch.de)
In der bereits unter der Woche von mir thematisierten Kommentar-Kolumne „Standpunkt“ auf katholisch.de übt Lucas Wiegelmann (@wiegelmann), Chefkorrespondent Vatikan der Herder Korrespondenz in Rom, harrsche Kritik am neuen Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Marc Frings. Der hatte sich im Interview mit Vatican News für eine Verstetigung des „Synodalen Weges“ ausgesprochen, den wichtig sei ja das Prozessuale.
Ob er konkrete Prognosen zumindest für die ersten Schritte habe, wurde Frings zum Beispiel gefragt. Antwort: „Ich glaube, nicht das Ergebnis [des „Synodalen Weges“] sollte im Moment das Entscheidende sein, sondern ich finde, auch das Atmosphärische und Methodische sind wichtig.“ Es gehe darum, „eine gewisse Synodalität zu praktizieren, um gemeinsam für Glaubwürdigkeit zu werben – das ist, glaube ich, das Entscheidende.“ Das ZdK startet also mit der knallharten Forderung in die Synodalität, sich für die Synodalität einsetzen zu wollen.
Ich teile Wiegelmanns Skepsis gegenüber einer solchen Gestaltung des „Synodalen Weges“ ausdrücklich. Wenn es tatsächlich nur darum geht, „mal miteinander zu sprechen“, dann wird der „Synodale Weg“ viele Menschen enttäuschen und von der katholischen Kirche endgültig entfremden.
Natürlich muss in einer „Synode“ (die keine Synode sein darf) diskutiert werden, und das wird und darf Zeit kosten. Aber es geht doch wohl ums Handeln, liebe Katholik*innen!?
Gremienarbeit ad infinitum, natürlich unter Teilnahme des eigenen Vereins – klar, dass das eine verlockende Aussicht darstellt. Für einen ZdK-Generalsekretär. Dem Synodalen Weg insgesamt wäre aber schon noch eine andere Art der Aufbruchsstimmung zu wünschen, wenn er nicht zum Selbstzweck verkommen soll.
Dieses Verdikt Wiegelmanns lässt sich problemlos auf den gesamten katholischen Diskurs unserer Tage ausweiten: Dienen die zahlreichen Scharmützel um Deutungshoheit, die unzähligen Interventionen von Laien und Wissenschaftler*innen, das Spekulieren und Differenzieren, das Einordnen und Feuilletonieren vor allem sich selbst oder dazu, endlich voranzukommen? Manchmal bekommt man da so seine Zweifel …
nachgefasst
Wahlvorschläge für die Bischofswahl in Sachsen
Nach dem Rücktritt von Landesbischof Carsten Rentzing (wir berichteten ausführlich) braucht die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (EVLKS) eine neue Bischöf*in. Die Kirchenleitung hat der Synode nun zwei Kandidat*innen vorgeschlagen: Ulrike Weyer (46), Superintendentin des Kirchenbezirks Vogtland und bereits im letzten Jahr Kandidatin bei der Wahl des neuen Landesbischofs der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Sowie Tobias Bilz, seit 2019 Oberlandeskirchenrat für Gemeindeaufbau, Seelsorge und Medien, zuvor elf Jahre lang Landesjugendpfarrer und bereits Kandidat bei der letzten Bischofswahl der EVLKS, aus der Carsten Rentzing als Landesbischof hervorging.
In der Landeskirche sind viele Menschen, über die Kirchenleitung hinaus, sehr glücklich mit diesen Wahlvorschlägen. Sie werden als organisatorische und kommunikative Erfolge gefeiert – nach dem Höllenherbst 2019 eine dringend benötigte Labsal für die geschundenen Seelen der Verantwortungsträger*innen. Beide Kandidat*innen sind öffentlichkeitserprobt, leitungserfahren und wissen sich zu verkaufen. Bei Kirchens nennt man Letzteres gerne „kommunikationssicher“ und ganz sicher kann die EVLKS eine solche Bischöf*in gut gebrauchen.
Die Wahlvorschläge zeugen auch davon, dass die Kirchenleitung die Zeichen der Zeit erkannt hat: Beide gelten als „sichere Bank“, sind in ihren Zielen und Vorschlägen berechenbar und in der Landeskirche bekannt, ja, sogar beliebt. Trotzdem wird in der Landeskirche damit gerechnet, dass die Synodalen von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch machen und das Bewerberfeld um ein, zwei Kandidat*innen erweitern. Dazu müssen sich je 10 Synodale zusammentun und ihren Wahlvorschlag der Kirchenleitung bis zum 20. Januar vorlegen.
Es wird damit gerechnet, dass aus dem Kreis der Synodalen mindestens noch ein Kandidat aus der Wissenschaft vorgeschlagen wird, der ein klares lutherisches Profil mitbringt und von außerhalb der Landeskirche stammt – vielleicht sogar aus Westdeutschland. Von den durch die Kirchenleitung angefragten Wissenschaftler*innen hatte sich keine*r zu einer Kandidatur bewegen lassen.
Die weiteren Kandidat*innen werden sich dann der Öffentlichkeit gemeinsam mit den Wahlvorschlägen der Kirchenleitung bei insgesamt vier Veranstaltungen vorstellen, und sie werden wie Weyer und Bilz ausführliche Informationen über ihren Werdegang vorlegen müssen. Beide Kandidat*innen haben Vereinsmitgliedschaften und bisherigen Engagements detailliert geschildert. Auch das eine Lehre aus der Causa Rentzing.
Buntes
Jetzt Nominierungen vorschlagen – Die Goldenen Blogger
Noch bis heute 23:59 Uhr können Vorschläge für den „Goldenen Blogger“ 2020 eingereicht werden. Die Auszeichnung wird in zahlreichen Kategorien vergeben, u.a. auch „Beste(r) Blogger*in ohne Blog“, „Bester Podcast“ sowie beste Accounts bei Instagram, Twitter & Co.. Gelegenheit genug also für alle #digitaleKirche-Verrückten, ihre Favoriten vorzuschlagen!
Wenn’s vielleicht auch nicht für einen Sieg reicht, weil #digitaleKirche in den Weiten des Netzes nun mal Nische ist, hören und lesen durch eine Nominierung mal ganz andere Leute von den vielsversprechenden Formaten, die gerade in letzter Zeit entstanden sind. Das ganze dauert fünf Minuten, die man sich gönnen darf!
All of YouTube, Not Just the Algorithm, is a Far-Right Propaganda Machine – Becca Lewis (FFWD / Medium, englisch)
Becca Lewis (@beccalew) beschreibt in ihrem Artikel, warum YouTube ein so gefährliches Werkzeug in den Händen der rechten Hetzer ist. Das liegt ihrer Recherche zufolge nicht allein am klick- und profitorientierten Algorithmus der Google-Videoplattform, sondern auch daran, dass rechtsradikale Inhalte durch andere (Mainstream-)Kanäle salonfähig gemacht werden. Ein Must-Read für alle YouTube-affinen #digitaleKirche-Jünger*innen!
Ich habe den Eindruck, nichts reglementiert Religion mit so viel Enthusiasmus wie die Sexualität. Warum eigentlich?
— Benjamin Apsel (@BenniAps) January 7, 2020
Überraschung: Gnadauer Präses hört Ende August auf (Idea)
Michael Diener, Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hat bekannt gegeben, dass er nun doch nicht für eine dritte Amtszeit als Präses zur Verfügung steht.
Nachdem der Vorstand ihm im vergangenen Jahr auf eigenen Wunsch ein deutliches Signal zur Fortsetzung seiner Tätigkeit gegeben hatte, kommt die Kehrtwende einigermaßen überraschend. Hintergrund der Entscheidung ist wohl Kritik an Dieners gesprächsbereiter Haltung bzgl. der Anerkennung von Homosexuellen in den Gemeinschaften.
Wie Generalsekretär Frank Spatz (Kassel) in einer E-Mail an die Mitgliederversammlung schreibt, bedauert der Gnadauer Vorstand die Entscheidung Dieners, hat aber zugleich dafür „großes Verständnis“: „Die Ereignisse seit der letzten Mitgliederversammlung, die letztlich zu dieser Entscheidung geführt haben, machen uns traurig und werfen Fragen auf, die gemeinsam aufzuarbeiten sind.“
Wie Papst Benedikt seit seinem Rücktritt im Vatikan lebt – Ellen Trapp & Tassilo Forchheimer (BR)
Eine Personalie, die nach wie vor die Gemüter erregt, ist der emeritierte Papst Benedikt XVI., TAFKA Joseph Ratzinger. Ungerührt von den jüngsten Auseindersetzungen mit der Biographie Ratzingers (z.B. in diesem Dokumentarfilm) ist es Ellen Trapp (@elltra) und Tassilo Forchheimer (@TForchheimer) gelungen, ein persönliches Porträt des ehemaligen Papstes zu filmen, das die Abgründe seiner Biographie fein säuberlich bei Seite lässt.
Das wäre vielleicht kein großes Thema – sicherlich gibt es auf dem Sendegebiet des Bayerischen Rundfunks ein Publikum für ein solches „Rührstück“ (O-Ton #LaTdH-Autor Thomas Wystrach) -, wenn nicht gerade über das Selbstverständnis von öffentlich-rechtlichen Journalist*innen diskutiert würde.
Kann man 2020 wirklich noch einen Film über Joseph Ratzinger machen, der erst nach 26 von 28 Minuten das Wort Missbrauch überhaupt erwähnt, der sich in Lobhudelei seiner Heimatverbundenheit ergeht und sein enges Verhältnis zum Bruder Georg (Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen, s. hier & hier) feiert?
Ohnehin kommt der altersgeschwächte Papst em. in diesem Film vor allem in Archivaufnahmen selbst zu Wort, sonst sind von ihm nur ein, zwei Sätze zu verstehen. Als Interpret Ratzingers hat vielmehr Erzbischof Georg Gänswein erneut einen großen Auftritt. Was der besondere Zugang, der den BR-Journalist*innen gewährt wurde, da noch wert ist?
Komm doch rüber! Gauck bevorwortet Heine – Johannes Franzen (FAZ)
Johannes Franzen (@Johannes42) zerpflückt in der Frankfurter Allgemeinen das Vorwort, das der ehemalige Bundespastor Joachim Gauck einer Neuausgabe des Heinrich-Heine-Klassikers „Deutschland. Ein Wintermärchen“ voran gestellt hat.
Glaubt man Franzens scharfer Analyse, dann hat Gauck in seinem Vorwort nicht nur seine bekannten Klassiker von der Heimat bis zur Verantwortung in Freiheit aufgewärmt, sondern einen pastoralen Rückfall erlitten. Statt wie so häufig der „Ermächtigung“ das Wort zu reden, hat er sich Heines bemächtigt.
Auch im Vorwort zum „Wintermärchen“ sonntagsredet Gauck rücksichtslos über Heines Gespenst hinweg. Könnte es etwa sein, so lautet eine der in diesem einseitigen Gespräch geäußerten Fragen, dass „ein Bedürfnis“ das Leben des Dichters prägte – „das Bedürfnis, beheimatet und verbunden zu sein mit dem Vertrauen, den Menschen und Räumen, von dem damals die Romantik so herzbetörend zu singen und zu sagen weiß“?
Dass ein ehemaliger Pfarrer von einem solchen Ersatzparadies singen und sagen will, leuchtet nicht nur zur Weihnachtszeit ein. Aber hat Heine denn mitgesungen? Gauck mutmaßt, dass ihn die Erfahrung ins „geistige Exil“ getrieben habe, nie Teil einer „ersehnten Communio“ geworden zu sein.
Heine, Büchner, Tucholsky und in der vergangenen Woche hat es anlässlich seines 70. Geburtstages auch Rio Reiser erwischt: Das saturierte deutsche Kulturbürgertum kennt bei der Vereinnahmung seiner verstorbenen Kritiker*innen keine Scham. Wer hat damals nicht auch zu Rio Reiser geknutscht?
Predigt
Ken Fuson – Ken Fuson (Des Moines Register, englisch)
Wer schreibt schon seinen eigenen Nachruf? Einen witzigen noch dazu? Der Journalist Ken Fuson ist gestorben, seine ehemalige Zeitung veröffentlicht posthum einen Nachruf, den er selbst geschrieben hat. Darin geht es auch darum, wie er mit Hilfe seines Glaubens und seiner Kirchgemeinden gegen seine Spielsucht angetreten ist.
Ken had many character flaws – if he still owes you money, he’s sorry, sincerely – but he liked to think that he had a good sense of humor and a deep compassion for others. He prided himself on letting other drivers cut in line. He would give you the shirt off his back, even with the ever-present food stain. Thank goodness nobody asked. It wouldn’t have been pretty. […] Yes, this obituary is probably too long. Ken always wrote too long. God is good. Embrace every moment, even the bad ones. See you in heaven. Ken promises to let you cut in line.
Übers Meer – Rio Reiser (Das Blaue Einhorn)
Ein guter Satz
„Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“
– Johann Wolfgang von Goethe, Faust – Der Tragödie erster Teil