Timing – Die #LaTdH vom 17. Dezember
Die evangelische Kirche geht einen wichtigen Schritt bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Außerdems: Zwei bescheidene neue Erzbischöfe, die KMU-Debatte und der „Krieg um Weihnachten“.
Herzlich willkommen …
… zur letzten #LaTdH-Ausgabe im Kalenderjahr 2023. Nächsten Sonntag ist der 4. Advent und am Abend (!) beginnt das Weihnachtsfest. Den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, das ist zu Weihnachten besonders wichtig. Warum sonst eilten die Hirten zur Krippe, wenn nicht aus Furcht davor, etwas Wichtiges zu verpassen? Ebenso spurteten sich die Weisen, trotz Verzögerung in der Reiseplanung. Sie alle fanden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.
Wenn ihr also am kommenden Sonntag den Christbaum schmückt und am Nachmittag in die Christvespern strömt, wollen wir mit den #LaTdH das richtige Timing nicht verpassen, auch mal einzuhalten. Nach einer kurzen Weihnachtspause lesen wir uns hier am 7. Januar 2024 wieder.
Zuvor allerdings wird es im Magazin noch ein paar Beiträge geben und zum Monats- und Jahresende erneut eine Episode unseres „WTF?! RE:“-Podcasts. Im Herbst 2023 haben Podcast-Host Michael Greder und ich damit begonnen, immer zum 30. eines Monats Rückschau auf die wichtigen Themen und Debatten aus Kirche und Religionspolitik zu halten. Ein Hörvergnügen für die Zeit „zwischen den Jahren“ sei hiermit versprochen.
Als Redakteur schaue ich ein wenig skeptisch auf das Jahr 2023 zurück: Welche Fragen und Diskussionen haben wir nicht im ausreichenden Maße im Magazin wiedergespiegelt? Was ist uns gelungen und was misslungen? Braucht das Jahr 2023 ein großes „nachgefasst“? War es nicht manchmal auch gut, etwas zu verpassen? Gutes Timing bedeutet, das Richtige zur passenden Zeit zu tun. Nur wenige Dinge bleiben ewig gut, das allermeiste von dem, was wir Menschen ins Werk setzen, ist situativ akzeptabel. Das ist doch auch schon was. Zu Erntedank singen wir gelegentlich:
Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her,
der Strohhalm und die Sterne, das Sandkorn und das Meer.
Von ihm sind Büsch und Blätter und Korn und Obst von ihm
das schöne Frühlingswetter und Schnee und Ungestüm.
Zumindest ein Thema, das uns allen aus dem Aufmerksamkeitshorizont zu rutschen droht, haben wir in dieser Woche in der Eule wieder aufgenommen. Mit Ostkirchen- und Osteuropa-Expertin Regina Elsner habe ich in unserem „WTF?! What the Facts?“-Podcast über den Ukraine-Krieg und die Rolle der Kirchen im Konflikt gesprochen. Genau ein Jahr nachdem wir dies hier in der Eule das letzte Mal getan haben. Gutes Timing ist manchmal auch unzeitgemäß.
Eine gute letzte Adventswoche wünscht
Philipp Greifenstein
PS: Die #LaTdH und die ganze Eule werden von den Leser:innen selbst ermöglicht! Die Eule ist ein unabhängiges Magazin und erhält keine Unterstützung von Kirchen oder Religionsgemeinschaften. Werden Sie Eule-Abonnent:in! Schon ab 3 € im Monat sind Sie dabei.
Und hier können Sie eine E-Mail-Benachrichtung einrichten: Bei Veröffentlichung eines neues Eule-Artikels erhalten Sie eine kurze Email. So verpassen Sie nichts.
Debatte
Am Mittwoch dieser Woche haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die Diakonie Deutschland als Spitzenverband der Diakonischen Werke und die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM), Kerstin Claus, eine „Gemeinsame Erklärung“ (PDF) über „eine unabhängige Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie nach verbindlichen Kriterien und Standards“ unterzeichnet. Die Unterzeichnung steht am Ende eines langjährigen Verhandlungsprozesses, der immer wieder auch unterbrochen war, weil die Evangelische Kirche sich selbst und die Betroffenenbeteiligung (wir berichteten) neu sortieren musste.
„Wir freuen uns sehr, dass die Gemeinsame Erklärung nun unterzeichnet ist – in dem Wissen, dass ab jetzt mit dem Aufbau der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen noch viel Arbeit auf uns zukommen wird, aber mit dem klaren Ziel, dass es nun systematisch und strukturiert vorangeht“,
erklärte zur Unterzeichnung Nancy Janz, eine der Sprecher:innen der Betroffenen im Beteiligungforum (BeFo) der EKD. Neun regionale und unabhängige Aufarbeitungskommissionen sollen nun also bald ihre Arbeit aufnehmen. Die Aufschlüsselung der Verbünde und weitere Informationen, die das Verstehen der „Gemeinsamen Erklärung“ erleichtern, finden sich in einer „Auslegungshilfe“ (PDF). Wie eigentlich immer, wenn im Themenfeld „Missbrauch evangelisch“ gute Nachrichten zu vermelden sind, gilt auch hier: Die Umsetzung geschieht im Nachgang der Pressemeldung. Aufmerksames Hinschauen ist also angesagt!
Trotzdem darf man EKD und Diakonie beglückwünschen: Die „Gemeinsame Erklärung“ dokumentiert auch kirchliche Lernprozesse über die Einbindung von Betroffenen-Expertisen, die Sicherstellung tatsächlicher Unabhängigkeit und die Leistungsfähigkeit der eigenen Strukturen. Die Arbeit der regionalen Kommissionen soll durch einen Aufwuchs bei der Fachstelle sexualisierte Gewalt im Kirchenamt der EKD unterstützt werden und wird auch in den Verbünden und Landeskirchen noch erheblichen Einsatz von Ressourcen verlangen. Auf den zu erwartenden Ansprung von Meldungen im Zuge der Veröffentlichung der ForuM-Studie im Januar 2024 sind die kirchlichen Strukturen bisher nur unzureichend ausgelegt.
Missbrauch: Wo steht die evangelische Kirche? – Interview mit Kerstin Claus (ZDF)
Im Interview mit ZDFheute erklärt Kerstin Claus, warum die Aufarbeitung in der evangelischen Kirche derjenigen in der katholischen Kirche hinterherhinkt, aber auch, welche Verbesserungen sich für Betroffene durch die „Gemeinsame Erklärung“ ergeben.
ZDFheute: Wo steht die Evangelische Kirche bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs?
Kerstin Claus: Ich würde sagen, an einem Scheideweg, und im Moment hat sich die Evangelische Kirche entschieden, eine gemeinsame Erklärung mit mir zu unterschreiben, um unabhängige, regionale Aufarbeitungskommissionen zuzulassen. Das ist ein immens wichtiger Schritt, damit Betroffene Strukturen vor Ort finden, kirchenunabhängig, wo sie sich melden können, Taten anzeigen können, aber auch anzeigen können, wenn mit früheren Meldungen nicht gut umgegangen wurde, und Täter und Taten nicht verfolgt wurden. […]
ZDFheute: Was fehlt der Evangelischen Kirche für eine gute Aufarbeitung?
Claus: Es fehlt in der Evangelischen Kirche bisher ein klares Regelwerk, ein transparentes Verfahren. Wie gehen wir mit Meldungen um, einheitlich in allen Landeskirchen und im diakonischen Bereich, aber auch, wie leisten wir Anerkennungszahlungen in Fällen, wo sexuelle Gewalt plausibel gemacht wurde von Betroffenen? Die Katholische Kirche hat ein übergeordnetes System. Das ist nicht ohne Schwierigkeiten und ohne Mängel, aber es ist ein unabhängiges System. Das fehlt auf evangelischer Seite.
EKD und Bundesregierung unterzeichnen Vereinbarung zu Missbrauch (EKD, KNA)
Wie auch die KNA auf katholisch.de berichtet, unterscheidet sich die evangelische „Gemeinsame Erklärung“ von derjenigen, die von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) für die Katholische Kirche in Deutschland bereits im Sommer 2020 unterzeichnet wurde, in wichtigen Punkten: Die evangelische Vereinbarung mit der UBSKM umfasst auch die Diakonie, während katholischerseits die Caritas außen vor geblieben ist. Statt Kommissionen in jeder der 20 EKD-Gliedkirchen soll es neun regionale Verbünde geben. So werden auch kleinere Landeskirchen bei der Arbeit unterstützt. Die Arbeit in den Bistümern fällt bisher sehr unterschiedlich aus.
[UBSKM Kerstin] Claus sagte, die Erklärung lege den Grundstein dafür, dass zentrale Standards und Kriterien von Aufarbeitung wie Unabhängigkeit, Professionalität, Transparenz und die Partizipation von Betroffenen in allen Landeskirchen und diakonischen Landesverbänden eingeführt und verlässlich umgesetzt würden. Es sei höchste Zeit, dass Betroffene losgelöst von innerkirchlichen Verfahren nach einheitlichen Standards Aufarbeitung einfordern könnten und an Aufarbeitungsprozessen grundlegend beteiligt würden.
Überhaupt könnte das Aufschließen der Evangelischen Kirche zu den Katholiken auch ihnen Anlass geben, die in der römisch-katholischen Kirche etablierten Strukturen noch einmal zu überprüfen. In den vergangenen drei Jahren (und noch mehr seit 2010) haben die Kirchen viel Gelegenheit gehabt, dazu zu lernen. Sie haben Fehler gemacht, die man heute nicht noch einmal begehen muss. Wie effektiv darf eigentlich der Betroffenenbeirat bei der Bischofskonferenz arbeiten? Welche Beteiligungsmöglichkeiten werden Betroffenen hier wie dort eigentlich wirklich eingeräumt? Was wird nun eigentlich mit der Caritas?
Bisher haben wir den Missbrauch in der katholischen Kirche viel zu häufig durch eine „klerikale Brille“ gefärbt gesehen. Wenn die evangelische ForuM-Studie im Januar, wie zu erwarten steht, aufdeckt, dass auch ehrenamtlich Mitarbeitende und Beschäftigte anderer Berufsgruppen in erheblichem Maße zu Tätern wurden, lohnt sich der Blick zurück auf die katholische Kirche, wo bisher vor allem der zölibatär lebende Priester als Täterprofil im Fokus steht.
Missbrauch: „Schmerzlicher Lernprozess“ für Bayerns Protestanten – Christian Wölfel, Barbara Schneider (BR)
„Missbrauch sei kein Thema, schließlich gebe es unter Protestanten keinen Zölibat“ – dieser evangelischer Fehlschluss sei irgendwie eine Geisteshaltung, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend erledigt hätte, dachte ich. Die vergangenen Wochen seit der EKD-Synode haben mich da eines Besseren belehrt. Die Evangelische Kirche hat einen weiten Weg vor sich. Von einem Streckenabschnitt berichten Barbara Schneider und Christian Wölfel für den Bayerischen Rundfunk: In ihrem Bericht finden sowohl die Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung“ als auch eine Tagung an der Evangelischen Akademie in Tutzing zum Thema Platz, die in dieser Woche stattgefunden hat.
„Ich glaube, dass die evangelische Kirche konfrontiert wird damit, dass sie auch ganz schön viel noch zu erledigen hat. Und das wird kein einfaches Zeugnis für die evangelische Kirche werden“, sagt Heiner Keupp. Allzulange hätten sich die Protestanten hinter den Katholiken versteckt. Der frühere Ratsvorsitzende Wolfgang Huber etwa sprach davon, dass man nicht so ein großes Problem mit dem Missbrauch haben werde, da es den Zölibat, also die verpflichtende Ehelosigkeit für Pfarrer nicht gebe. Und der Präsident des Evangelischen Kirchentags in Nürnberg, Thomas de Maizière, erklärte, man habe nicht die gleichen Macht-Strukturen wie die katholische Kirche.
Doch die Berichte Betroffener legen nahe, dass sexueller Missbrauch auch in der evangelischen Kirche ein durchaus systemisches Problem ist von größerer Tragweite als bislang angenommen. […] Betroffene nennen hier Gemeinde, Heim, Pfarrhaus und Pfarrfamilie als Tatorte. Darüber hinaus verweist die Aufarbeitungskommission auf das Selbstbild von einer offenen und liberalen Kirche, das sexuelle Gewalt gegen Kinder begünstigt habe.
Der Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“ wird uns zur Jahreswende 2023/2024 in der Eule intensiv beschäftigen. Im Januar wird endlich die ForuM-Studie veröffentlicht. Und auch an den Irrungen und Wirrungen des November 2023, inkl. des Rücktritts der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus, wird die Kirche noch zu knabbern haben.
Ich bin in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder zu der Rede zurückgekehrt, die Kerstin Claus, noch als Mitglied des Betroffenenrates bei ihrem Vorgänger im Amt des UBSKM, Johannes-Wilhelm Rörig, auf der Tagung der EKD-Synode 2019 in Dresden gehalten hat. Wir haben sie damals hier in der Eule im Wortlaut veröffentlicht. Vieles von dem, was Claus damals gefordert hat, wurde auf Umwegen inzwischen umgesetzt oder ist zu Überzeugungen in der Kirche geronnen. Doch nicht alles. Die Rede lese ich mit dem Abstand von vier Jahren als Blaupause für den Weg, den die EKD seitdem gegangen ist – und den sie noch vor sich hat.
„Gewalt fällt nicht vom Himmel“: Männer und Missbrauch in der evangelischen Kirche (Philipp Greifenstein)
In meinem Vortrag zum Thema „Männer und Missbrauch in der evangelischen Kirche“ am Ewigkeitssonntag 2023 in der ChristusKirche Köln bin ich auf Claus‘ Rede eingegangen – und auf Spezifika evangelischen Missbrauchs. Das Gespräch hat gerade erst begonnen und wird uns in den kommenden Monaten und Jahren weiter begleiten.
Wir brauchen Licht. Der Missbrauch ist eine Wunde in der evangelischen Kirche, an die noch viel mehr Licht und Luft heranmuss. Auch das Licht der Öffentlichkeit. Besonders das Licht der Öffentlichkeit. Landeskirchen müssen mit ihnen bekannt gewordenen Fällen in Rücksprache mit den bekannten Betroffenen transparent umgehen und sollten in der Öffentlichkeit kommunizieren, wo und wie Täter eingesetzt waren. Nur so können sich weitere Betroffene ermutigt fühlen, sich zu melden, um auf den nach wie vor beschwerlichen Wegen in Staat und Kirche Gerechtigkeit zu suchen. Kirchenmitglieder sollten genau das einfordern.
Ein „Jahr der Heimsuchung“ wird das kommende Jahr 2024, dafür muss man kein Prophet sein, für die evangelische Kirche werden. Ja, muss es werden, wenn es wirklich einmal „gut“ werden soll.
nachgefasst
Neue Erzbischöfe in Paderborn und Bamberg
In den #LaTdH vom vergangenen Sonntag fehlte – Stichwort: Timing – noch die Nachricht von der Neubesetzung zweier Erzbischofs-Stühle in Paderborn und Bamberg. Nach mehr als einem Jahr Vakanz an den Bischofssitzen wurden Udo Bentz zum Erzbischof von Paderborn und Herwig Gössl zum Erzbischof von Bamberg berufen, berichtete u.a. katholisch.de.
Über Gössl hört man in Bamberg vor allem gute Töne. Er sei in der Erzdiözese hervorragend verankert und habe sie als Administrator in der Vakanzzeit gut geführt. Allerdings sei er auch niemand, der Revolutionäres denke, seine Berufung verspreche eher „kirchenpolitische Stagnation“. Udo Bentz ist Weggefährt:innen bisher als bodenständiger Seelsorger und Kirchenfunktionär begegnet. Beide Personalien schreien nun nicht gerade nach Machtgier und Karrierismus, aber eben auch nicht nach Reformeifer und Progressivität.
Allerdings lassen die Einlassungen der beiden in Interviews zu ihren Berufungen aufmerken: „Gewünscht habe ich es mir nicht“, erklärte der neue Bamberger Erzbischof Gössl beim Domradio. #LaTdH-Autor Thomas Wystrach kommentierte das Interview von Elena Hong auf Bluesky skeptisch:
„Lesenswert, weil entlarvend: Alles dabei: »Demutsgigantismus«, Verharmlosung von Rechtsfragen, Bagatellisierung von Strukturproblemen, Bewertung von Kirchenreform-Anliegen nach »Nützlichkeit«, Spiritualisierung, Harmonisierung und Vertröstung.“
Und Udo Bentz äußerte sich in einem „Interview“ auf der Website des Erzbistums Paderborn, über das katholisch.de berichtete:
Mein Gemütszustand am vergangenen Samstag nach der Nachricht aus Paderborn war katastrophal. Doch nach Gesprächen mit Mitgliedern des Domkapitels fand ich neuen Mut. Ein Zitat von Nelson Mandela, das ich auf der Website des Erzbistums gelesen habe – ‚Mögen deine Entscheidungen deine Hoffnung widerspiegeln, nicht deine Ängste‘ – hat mir Hoffnung gegeben. In solchen Situationen erahne ich, dass ich geführt werde. Dazu gehört sicher auch, dass ich jeden Abend das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit bete und versuche, Gottes Wirken zu entdecken.
In beiden Interviews spiegelt sich wieder, was Christiane Florin den „Demutsgigantismus“ und die „Bescheidenheitsbrutalität“ katholischer Priester und Bischöfe nennt (z.B. in diesem Vortrag bei der Katholischen Akademie Freiburg (Video)). Ich finde es als evangelischer Christ immer wieder bemerkenswert, wie bei solchen Dienstwechseln Gott ins Spiel gebracht wird. Von evangelischen Amtsträgern sind mir solche „Fallbeil“-Stories (Ratzinger) nicht bekannt, obgleich sie ihre geistlichen Leitungsaufgaben (und Ordinationsrechte) sicher nicht weniger ernst nehmen als ihre katholischen Kollegen. Hinter der Demutsfolklore aber befindet sich wirkliche Macht – und die muss kontrolliert und gezähmt werden, auch wenn sie noch so bodenständig daher kommt.
Exklusiver Blick in den «Giftschrank» des Bischofs: Diese Priester haben gesündigt – Andreas Maurer (Watson)
Das Bistum Basel stufte früher jeden zwanzigsten Priester als Problem ein und legte deren Akten in einem Geheimarchiv ab. Die Dokumente erzählen die Geschichten der gescheiterten Geistlichen. Andreas Maurer hat sich für Watson umgesehen:
Später gesteht er in einem Brief: «Es handelt sich bei mir um eine sadistische Veranlagung.» Es errege ihn, wenn er Leute bestrafen könne. Er habe sich vom Gedanken irreleiten lassen, es könnte der Seele bestimmter Menschen nützen, wenn sie Gelegenheit zum Sühneleisten erhielten. «Ich habe längst eingesehen, dass das verkehrt ist», schreibt er. Als Strafe muss er Exerzitien machen. Das sind geistliche Übungen.
Buntes
Der »Krieg gegen Weihnachten«, ein importiertes Märchen – Christian Stöcker (SPIEGEL)
Der „War on Christmas“, der „Krieg gegen Weihnachten“, ist eine inzwischen betagte US-Weihnachtstradition und ständiger Bestandteil des rechten Kulturkampfs. Das müssen wir uns in Europa nicht abschauen, findet auch Christian Stöcker im SPIEGEL. Aufhänger seiner Kolumne ist der Streit um einen nicht-vorhandenen Christbaum in einer Hamburger Kita, der maßgeblich von Markus Söder in den Medien ausgeschlachtet wurde. Das ist derselbe Markus Söder, der sich in Nürnberg auf dem Kirchentag in diesem Jahr noch hat von Christ:innen beklatschen lassen – und reichlich Applaus erhielt.
Markus Söder, der ungern eine Vorlage für ungebremsten Populismus auslässt, reichte die abgeschriebene »Focus«-Meldung dann an seine 420.000 Follower auf X, ehemals Twitter, weiter. Versehen mit dem Kommentar: »Das ist absurd. Haben wir denn keine anderen Probleme? Zu Weihnachten gehört ein Weihnachtsbaum.« Nun sieht sich die Kitagruppe »Finkenau«, die Weihnachten keineswegs abschaffen will, sondern ausgiebig feiert, mit, Zitat , »massiven rassistischen Drohungen, persönlichen Beleidigungen, Anschuldigungen und Erpressungsversuchen konfrontiert«.
Was Söder und seine Populisten-Kolleg:innen angeht, sollten wir uns 2024 ein längeres und besseres Gedächtnis antrainieren, meine ich. Einfach nicht mehr Klatschen und Lachen, bis es der evangelische Christ und ehemalige Landessynodale der bayerischen Landeskirche Markus Söder auch mal wieder merkt. Dass die ersten Kulturkämpfer gegen Weihnachten fromme Christen waren, erklärt Stöcker im Übrigen auch. Aber von deren Ernsthaftigkeit ist bei Söder leider überhaupt nichts mehr über geblieben.
Auf Threads, dem neuen Mikroblogging-Dienst von Instagram, unternahm es Hubert „Teeny-Antisemit“ Aiwanger (Freie Wähler, stellv. bayerischer Ministerpräsident), der EKD-Synodalen und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Katrin Göring-Eckardt zu erklären, dass man Weihnachtsbäume auch im Advent aufstelle und nicht im Sommer. KGE hatte zuvor korrekt dazu aufgerufen, Christbäume nicht im Advent, sondern erst zum Wiegenfeste des Heilands zu schmücken. Wenn christliche Traditionen und Rhythmen von Söder und Aiwanger statt von den Kirchen verteidigt werden, kommt halt Murks bei raus. Dass es würdig und recht, heilsam und billig obendrein ist, den Advent und das Weihnachtsfest richtig zu feiern, hatte ich vergangene Woche schon hier in der Eule geschrieben.
„Ich verabscheue diesen neoliberalen Diskurs“ – Interview mit Lea Streisand von Karsten Krampitz (nd)
Lea Streisand ist Schriftstellerin und Radio-Kolumnistin. Im nd wird sie von Karsten Krampitz zu ihrem Leben mit jüdischer Identität und körperlicher Behinderung befragt. Das Interview ist unterhaltsam, chaotisch und vermittelt so einen Eindruck davon, wie man sich einigermaßen stabil durch die Probleme unserer Zeit bewegen kann. Vielleicht ist es ganz gut, wenn man „einen Knall“ hat, sonst geht das vermutlich gar nicht.
Imam-Entsendung aus der Türkei wird beendet (Tagesschau)
Die Religionsbehörde der Türkei, Diyanet, entsendet seit Jahren staatlich angestellte Religionsbeauftragte nach Deutschland. Das soll sich nun ändern – wir stehen an der Schwelle zum Jahr 2024. Die zuständige Bundesministerin des Innern, Nancy Faeser (SPD), spricht von einem „Meilenstein“. Die Bundesregierung will für die Ditib-Gemeinden Imame in Zukunft in Deutschland ausbilden lassen, an einer Universität, wie sich das gehört, aber weiterhin in Kooperation mit der Ditib, die direkt der Diyanet unterstellt ist.
Theologie
Oberlicht und Bodenhaftung – Albrecht Grözinger (zeitzeichen)
Die Debattenbeiträge zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sammeln sich langsam an. Skeptische Rückfragen formulierte unter der Woche Martin Fritz von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Albrecht Grözinger, Professor em. für Praktische Theologie, unternahm es in den zeitzeichen, zwischen den theologischen Deutungsfronten zu vermitteln, die verdächtig wie die altbekannte Frontstellung zwischen Dialektischer und Liberaler Theologie aussehen, die man seit 100 Jahren in der evangelischen Theologie kennt.
Der Blick auf die alltägliche pfarramtliche Praxis zeigt zugleich auch, dass der Ruf zur Konzentration auf die „Sinnformen innerkirchlicher Religiosität“ keineswegs so eindeutig ist, wie er klingt. Denn diese Sinnformen sind ja selbst stets fluid.
„Was bedeutet Glaubensvermittlung im Horizont manifester Erfolglosigkeit?“, fragt im theologischen Feuilleton feinschwarz.net hingegen Norbert Mette (noch ein Prof. em.). Nichts gegen diesen Diskurs, der sich zunehmend in zwei Stränge aufteilt (theologisch bzw. methodisch) und in den sich zu ihrer eigenen Verteidigung auch noch einmal die StudienmacherInnen von der EKD einmischen. Aber wäre es nicht doch irgendwie notwendig, die Ergebnisse der 6. KMU zugleich ernst zu nehmen und auf die Ebene kirchenpraktischen Handelns zu ziehen, wie es Grözinger versucht?
Ein guter Satz
„Rituale sollten ein Geländer zum Langhangeln sein, auf einem Gelände, das wir oft nicht gut überblicken können, und keine Fußfesseln.“
– Eule-Familienkolumnistin Daniela Albert in dieser „Gotteskind und Satansbraten“-Kolumne vom Mai 2023, die sich hervorragend auch für das „Umnähen und Reparieren“ von Weihnachtstraditionen eignet