Kolumne Sektion F

Wer war Dorothee Sölle?

An vielen Orten wird zum 20. Todestag an Dorothee Sölle erinnert: Was bleibt von der deutschen Theologin und politischen Aktivistin übrig? Welchen digitalen Abdruck hat Dorothee Sölle hinterlassen?

An Dorothee Sölle wird anlässlich ihres 20. Todestages in diesem Jahr ausführlich und sehr unterschiedlich erinnert. Gedenkveranstaltungen liefen schon und laufen noch. Artikel und Bücher über Denken und Biographie Sölles sind erschienen oder werden in den kommenden Monaten veröffentlicht. Auch das gemeinsame Projekt der Eule mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt „WIDERSTAND! Dorothee Sölle & der Osten“ geht weiter. Allen gemeinsam ist der Wunsch, sich Dorothee Sölles Leben und Werk (wieder) vor Augen zu führen. Was wissen wir von ihr? Welches Wissen wird weitergetragen und erhalten? Wer war Dorothee Sölle?

Ich habe das mal ChatGPT gefragt. Und ChatGPT hat geantwortet:

ChatGPT rechnet ja auf Grundlage eines sehr großen Samples von online verfügbaren Ressourcen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten aus, welche Wörter am günstigsten aufeinander folgen sollten. Nicht mehr und nicht weniger. Das vermittelt den Eindruck, es würde Vieles stimmen. Aber ist das so? Wir machen mal kurz einen Faktencheck und produzieren damit wieder eine neue Quelle, aus der ChatGPT dann bald vielleicht bessere Antworten auf die Frage „Wer war Dorothee Sölle?“ entnehmen kann:

Die (deutsche) Theologin

Dorothee Sölle – oder nach der zweiten Eheschließung 1969 vollständig Dorothee Steffensky-Sölle – wurde als Dorothee Nipperdey am 30. September 1929 in Köln geboren. Das Geburtsjahr stimmt also schon mal. Interessant sind die ersten beiden Einordnungen als „deutsche Theologin“ und „politische Aktivistin“. Dass ChatGPT Sölle eindeutig als “Theologin“ bezeichnet, also aus allen online verfügbaren Äußerungen zur Frage am ehesten „Theologin“ herausgefiltert hat, zeigt das schon an, dass ihre spätere Wirkung vor allem im Raum der Kirchen zu ermitteln ist. Zeitgenössisch blieb ihr in Deutschland die Anerkennung als Theologin insofern verwehrt, als dass sie keinen professoralen Lehrstuhl übernahm. Zwischen 1975 und 1987 arbeitete sie allerdings als Systematische Theologin am Union Theological Seminary in New York.

Vielleicht auch noch kurz ein Hinweis zu ihrem „Deutschsein“: Als Kind und Jugendliche hatte sie den Nationalsozialismus erlebt. Dass im bürgerlichen Kontext, in dem sie aufgewachsen war, nicht ausreichend oder überhaupt gegen die Gräueltaten des NS-Staates vorgegangen wurde, hing ihr nach und ließ sie kritischer werden. Sie gehört auch theologisch zu Vertreter*innen der „Theologie nach Auschwitz“, weil sie sich inhaltlich mit der Shoah beschäftigte. In diese Richtung weist auch eines ihrer berühmtesten Zitate:

„Der Vietnamkrieg half mir auch, meine eigene Geschichte neu zu verstehen: Auschwitz war mit Auschwitz nicht zu Ende, es ging weiter – das war die Lektion.“ (Gegenwind, 89)

Die politische Aktivistin

Die zweite Bezeichnung als „politische Aktivistin“ ist für Kenner*innen der The*logie Sölles dann quasi ein Selbstläufer. Sie schrieb: „Jeder theologische Satz müsse zugleich auch ein politischer sein.“ Auch an dieser Stelle weicht Sölle die Grenzen auf. Das macht sie hier über den Begriff „Mystik“: Mystik ist ein Schlüsselbegriff für ihr Verhältnis von Theologie und Politik. Mystik kann im Verständnis Sölles jede Person erleben. Mystik meint eine Horizonterweiterung, in der eine Perspektive eröffnet wird, die über die gegenwärtigen Bedrängnisse hinausweist.

Insofern verbinden sich hier in der Aussicht auf andere Möglichkeiten und eine andere Welt, wie sie im Glauben geschehen kann, auch schon Widerstand und Begrenzung der weltlichen Sphären und Ungerechtigkeit. Indem diese in Frage gestellt oder nicht als absolut gesetzt werden, beginnt dann schon der Widerstand. Kleiner Ausblick auf einen späteren Teil der kurzen ChatGPT-Einführung: Hier stimmt wenigstens der Buchtitel „Mystik und Widerstand“.

Die korrekte Einordnung in die Befreiungstheologie, also Theologie, die Unterdrückungsmechanismen wahrnimmt und sich dagegen erhebt, verschränkt sich z. B. auch mit Sölles Engagement für das Politische Nachtgebet. Befreiungstheologie geht auch bei Sölle Hand in Hand mit sozialistischen Perspektiven, denn kapitalistische Unterdrückung drängt sich hier als ein Kernproblem auf. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde dafür Lateinamerika immer wichtiger als Bezugspunkt für deutsche oder westeuropäische Sozialist*innen. Vielleicht auch noch eine kleine Seitennotiz zu dem, wie Sölle auf die frühe DDR blickte:

„Der aufgezwungene Machtverzicht hat sich dort nicht zum Tod von Kirche und Religion ausgewirkt, sondern zu Selbstklärung, Versachlichung und Bescheidenheit.“ (Gegenwind, 67)

Darin erkennt sie also so etwas wie kirchliche Ideale, in der – hier politisch forcierten – Entfernung von Macht der Kirche. Aber jetzt bin ich schon viel zu weit weg von ChatGPT, das im zweiten Absatz doch gleich etwas redundant wird, wenn es nochmal Sölle als politische Aktivistin vorstellt.

Auf der Grenze von Politik und Theologie

Dazu wäre aber schon erwähnenswert, dass sie 1972 in Vietnam war und dort die Grausamkeiten beobachtete, die der Krieg mit sich brachte und diese Informationen weitergab, also aufmerksam und sensibel machte für das Leid der Menschen. Und im Leid von Menschen sah sie Verbindungen zum leidenden Jesus und betete zu G*tt, der*die mitleidet. Sie sah ganz enge Verbindungen von Waffen und Kreuzigung.

1985 wurde sie wegen Nötigung verurteilt für ihren Protest gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen. Drei Jahre später noch einmal wegen versuchter Nötigung im Protest gegen ein US-Giftgasdepot. Sie ist also im besten Sinne des Wortes Protestantin, ohne dies zu konfessionalistisch zu verstehen. Für das Politische Nachtgebet war sie in ökumenischen Gruppen aktiv und arbeitete auch mit Atheist*innen zusammen. Gerade das Politische Nachtgebet zeigt übrigens genau die Übersteigung der Grenze von Politik und Theologie, aber auch von Gebet und Theologie, die Sölle eben gerade nicht gegeneinander abgrenzen wollte.

Am witzigsten ist dann aber doch der dritte Absatz, weil ChatGPT mutmaßt, was Sölle abgesehen von „Mystik und Widerstand“ geschrieben haben könnte. Und das war viel, sowohl Prosa als auch Poesie. Aber nicht „Leben heißt diesen Kampf: Briefe an Freunde“ – ein interessanter und aufregend flektierter Titelvorschlag von ChatGPT. Aber einfach falsch. Und Preise erhielt sie in der Tat, aber nicht den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den 2001 Jürgen Habermas entgegengenommen hat.

Dorothee Sölle 1974 in Köln, Foto: Brigitte Friedrich

Die Feministin

Ganz offensichtlich fehlt der KI ganz viel. Wohl jeder Rückblick auf ein schaffensreiches Leben muss unvollständig bleiben. Dass aber ein bestimmtes Thema nicht vorkommt, fällt doch sehr stark auf: Feminismus. Sölle gehört wirklich zu den Grandes Dames, Ahnfrauen, „Riesinnen“, Vordenkerinnen und Wegbereiterinnen der Feministischen The*logie.

In New York lernte sie Kolleginnen und Freundinnen kennen, die vom Feminsimus bewegt waren. Sölle erkannte in ihrer schon länger andauernden Kritik an Allmacht-Gottesvorstellungen rückblickend feministische Grundzüge. Sie nahm sich vor, immer mehr zwischen den Pronomen „er/ihn“ und „sie/ihr“ für G*tt zu wechseln. Aber auch besonders bei der auf Kirchentagen gefeierten Zusammenarbeit mit Luise Schottroff teilte sie und lud alle ein dazu, Bibeltexte feministisch-the*logisch zu lesen. Auch damit hatte sie eine Breitenwirkung, die nur wenige erreichen.

Dass ChatGPT ausgerechnet Sölles Feminismus „vergisst“ bzw. dieser Aspekt im zugrundeliegenden Sammelsurium von Online-Inhalten über Sölle offenbar nicht die zentrale Rolle spielt, erstaunt mich. Vielleicht, weil feministische Theologie als ein Teil von Befreiungstheologie verstanden wird? Vielleicht wird Sölle im Internet gar nicht so zentral als Feministin rezipiert wie im Austausch zwischen Menschen, die von ihr erzählen und begeistert sind?

Verstreute Erinnerungen

Überhaupt ist es spannend, an welchen Orten Sölle rezipiert wird: Die feministisch-the*logischen Sozietäten in Wuppertal und Neuendettelsau haben ihrer gedacht. Es wurden Gedenkgottesdienste gefeiert und ein Forschungsnetzwerk etabliert. Die Eule macht gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt ein Projekt zu Sölles Verhältnis zum Osten.

An vielen verschiedenen, verstreuten Orten wurde ihrer gedacht. Das passt zu ihr. Und so ist natürlich auch das weitervermittelte Wissen über Leben und Werk Dorothee Sölles sehr unterschiedlich. Für mich als Person, die Sölle nicht selbst erlebt hat, war es unglaublich eindrücklich, dass und wie Leute bei der Gedenkveranstaltung in Frankfurt, die ich besucht habe, von ihr gesprochen haben und so etwas von ihrem Geist weitergeben konnten.

Außerdem vermute ich, ChatGPT wäre Sölle sehr suspekt gewesen. Sie hatte eine starke technikkritische Seite. Die kleine Überprüfung von ChatGPTs Wissen zu ihr zeigt: Vollkommen zu Recht!

Die intersektionale Kolumne: Sektion F

In unserer Kolumne „Sektion F“ schreibt Carlotta Israel über feministische Theologien in Kirche und Wissenschaft. Warum gilt feministische Theologie an der Universität immer noch als Orchideenfach? Was haben Feminist:innen unterschiedlicher Generationen einander zu sagen? Welche feministischen Fragestellungen können die Diskussion in Kirche und Gesellschaft bereichern? Als Feminismus-Agentin begibt sich Carlotta Israel für uns auf die Spuren des Feminismus in Kirche und Theologie.