Kultur

5 Missverständnisse der Kirche im Netz

Während der Corona-Pandemie boomt die Kirche im Netz. Dabei sitzt sie weiterhin Missverständnissen auf, die ihren Erfolg behindern. Zeit, sie auszuräumen:

„Die Corona-Epidemie könnte auch zur Stunde der Kirche im digitalen Raum werden“, vermutete ich im ersten von sehr vielen Artikeln zur Corona-Pandemie, der vor einem Jahr hier in der Eule erschien. Bereits wenige Tage später warnte Tobias Sauer vom ruach.jetzt-Netzwerk* im Interview: „Die Krise ist kein Ort für Wachstumsfantasien“.

Der Zuwachs digitaler Formate von einzelnen Christ:innen, Gemeinden und Werken sowie Kirchen ist nach einem Jahr Corona-Krise evident. Die Krise hat bestehende Trends verstärkt, vor allem aber Kontinuitäten kirchlichen Handelns unterbrochen. Viele Ideen der Kirche im Netz verdanken sich der Not, an den Leuten dranbleiben zu wollen, die man sonst im Gottesdienst, in der Jugendarbeit oder bei Akademie-Abenden sieht.

An allen Ecken und Enden werden Kompetenzen ausgebaut, Ideen und Werkzeuge erprobt und ausgetauscht, neue Säue durchs digitale Dorf getrieben. Zeit, einmal durchzuatmen und ein paar Missverständnisse auszuräumen:

1. Kirche im Netz = #digitaleKirche

Ich schreibe in diesem Artikel bewusst von der „Kirche im Netz“, wenngleich auch dieser Begriff so seine Macken hat. #digitaleKirche umfasst zwar das persönliche Engagement von Christ:innen und die Verkündigung der Kirchen im Netz, aber geht doch weit darüber hinaus. Ich mag den #digitaleKirche. Ich verstehe auch, warum ihn Ingo Dachwitz (Interview in der Eule) und andere erfunden und popularisiert haben.

Wenn man #digitaleKirche ernst nimmt, dann ist klar, dass damit mehr als kirchliche Präsenz im Netz oder in Sozialen Netzwerken gemeint sein muss. Wenn #digitaleKirche irgendwie anknüpfungsfähig sein will, dann muss sie bestehende Kirchenbilder aufnehmen und kann sie nicht bis zur Unkenntlichkeit simplifizieren. Mit #digitaleKirche sind daher in meinen Augen sinnvollerweise alle digitalen Themen, Projekte und Denkpfade gemeint, die Menschen in der Kirche diskutieren, anpacken und gehen – also auch so unsexy Aufgaben wie digitale Verwaltung und Büros, spannende Science Fiction wie KI in der Pflege, überhaupt #digitaleDiakonie sowie ethische, politische und gesellschaftliche Fragestellungen.

#digitaleKirche und „Kirche im Netz“ liegen ineinander. Nicht allein, weil die kirchlichen und frommen Umtriebe in den Sozialen Netzwerken, auf Websites und in Messenger-Gruppen selbstverständlich zu unserer digitalisierten Welt gehören, sondern auch weil die restlichen #digitaleKirche-Themen vornehmlich dort zur Diskussion stehen. Nur gleichsetzen sollte man beides nicht. Social Media, „Sinnfluencer:innen“ und digitale Gottesdienste stellen eben nur einen Teil der Digitalisierungsanstrengungen der Kirchen dar. Sie machen für den Großteil der Christ:innen noch nicht einmal den Hauptteil ihres Lebens in der Digitalität aus. Und aus der Perspektive der kirchlichen Ressourcennutzung sind andere #digitaleKirche-Themen wesentlich relevanter als die Präsenz in den Sozialen Netzwerken.

Unser Verständnis davon, was Kirche in der Digitalität bedeutet, hat sich in den vergangenen Jahren verbreitert und ausdifferenziert. Die Kirche im Netz ist Ausdrucksform der Kirche, die Kirche lebt im Netz, und dieses Leben kann man eben nicht mehr regulieren. Deshalb wird es auch weiterhin Leute geben, die mit #digitaleKirche die Menge an frommen und kirchlichen Accounts in den Sozialen Netzwerken und vielleicht noch Websites, Online-Gottesdienste und YouTube-Videos meinen. Alles ok, solange wir wissen, dass sich unser Leben in der Digitalität und damit auch #digitaleKirche darin nicht erschöpft.

2. Zielgruppen sind nicht so wichtig

Am Beginn jedes Projekts steht eine – gerne verwegene – Idee. Nichts spricht dagegen, dieser Idee erst einmal nachzusinnen, sie auszuprobieren, sich ein wenig zu verausgaben. Doch was nützt die schönste Idee, wenn man mit ihr alleine bleibt? Alle Projekte der Kirche im Netz zielen darauf, Menschen für ein bestimmtes spirituelles Programm oder gesellschaftspolitisches Anliegen zu begeistern und mittel- oder unmittelbar für den Glauben und die Kirche zu gewinnen.

Am Ende des Matthäusevangeliums sendet der Auferstandene seine Jünger:innen in alle Welt: „Darum gehet hin und lehret alle Völker!“ Leider nehmen viele Akteur:innen der Kirche im Netz diesen Satz allzu wörtlich. Ein Projekt, dass sich an alle richtet, erreicht am Ende häufig niemanden. Mal ganz abgesehen davon, dass die kirchliche Milieuverengung, die es auch in der Kirche im Netz gibt, dafür sorgt, dass mit „allen“ in der Kirche häufig sowieso nur die gemeint sind, die den Akteur:innen selbst sehr ähnlich sind.

Wer sein Projekt professionalisieren will, muss die Zielgruppe des eigenen Angebots definieren – und das heißt: enger ziehen. Am besten „funktionieren“ jene Angebote, die sich an eine Sozietät richten. Eine Sozietät ist eine durch mehrere Eigenschaften oder Interessen verbundene Gruppe von Menschen. Die Internet- oder Plattformnutzung ist kein ausreichendes gemeinsames Interesse! „Wir richten uns an junge Leute, die auf Instagram unterwegs sind“, ist keine Zielgruppen-Definition.

Die am einfachsten zu beschreibende Sozietät ist die lokale Gemeinschaft, sei es die Kirchengemeinde, eine Konfirmandengruppe oder die Seniorenkreis-WhatsApp-Gruppe. Die Gruppe ist durch eine gemeinsame Geschichte, einen gemeinsamen Auftrag und persönliche Beziehungen verbunden. Mit digitalen Werkzeugen kann ich die Gruppe zusammenhalten, allzumal wenn analoge Treffen nicht möglich sind. Ich kann wichtige Infos teilen, Gemeinschaft erneuern. Darum funktionieren digitale Angebote der Kirche im Netz, die sich zuerst an lokale Sozietäten richten, in der Regel sehr gut. Wenn das Angebot eine hohe Qualität hat, teilen die Gruppenmitglieder ihre Nutzer:innenerfahrung und damit die Inhalte auch über die lokale Gruppe hinaus. Dann wird der Audio-Adventskalender auf einmal auch in der Schweiz und nicht allein in Thüringen gehört.

Beliebtes Symbolbild #digitaleKirche, Foto: Grant Whitty (Unsplash)

Eine Zielgruppe erreicht man dann am besten, wenn man sich selbst mit ihr identifiziert, selbst Teil der Sozietät ist. Ein Angebot für Gamer:innen macht am besten jemand, der selbst Gamer:in ist. Am besten funktioniert das Community-Building, wenn eine Sozietät durch mehr als ein gemeinsames Ziel oder Interessengebiet verbunden ist. Und dann, wenn bereits vorgebaut wurde: Die erfolgreichsten Projekte der Kirche im Netz richten sich nämlich – bewusst oder unterbewusst – nicht an „alle Welt“, sondern an Leute, die schon mal mit der Kirche in Kontakt gekommen, vielleicht sogar getauft, gefirmt oder konfirmiert sind und als (junge) Erwachsene den Kontakt zur analogen Kirche verloren haben.

Wir wissen inzwischen, dass vor allem junge Menschen zwischen 20 und 35 aus der Kirche austreten – und häufig später den Weg zurück nicht mehr finden. Darauf hat man sich viele Jahrzehnte allerdings verlassen („Wenn die Kinder kommen, sehen wir sie wieder!“ Nope.) Die Kirche im Netz kann für diese Alterskohorte eine wichtige, vielleicht die einzige Kontaktfläche zur Kirche sein, weil sie Raum bietet für unterschiedliche Lebensentwürfe, Nähe- und Beteiligungsintensivitäten sowie biographische und inhaltliche Interessen.

3. Zahlen sind irrelevant

Wir alle schauen seit einem Jahr bangen Blickes auf die Inzidenzzahlen unserer Städte oder Landkreise. Beruhigung stellt sich ein, wenn das Girokonto schwarze Zahlen ausweist. Und selbstverständlich wird auch in vielen Kirchengemeinden auf die Zahlen geschaut: Wie viele Menschen sind im letzten Quartal aus der Kirche ausgetreten? Wie viele Taufen, Beerdigungen, Hochzeiten wurden im vergangenen Jahr gefeiert? Wie viele Menschen besuchen die Gottesdienste?

Gerne weisen Menschen, die sich im Netz an christlichen Projekten versuchen, darauf hin, Zahlen wären gar nicht so wichtig. Das stimmt solange, wie in die Projekte vor allem Herzblut fließt und der Spaß an der Freude im Vordergrund steht. Wenn es aber um die Verteilung von knappen Ressourcen wie Geld und Arbeitszeit von Hauptamtlichen geht, ist die Quantifizierung von Arbeitsumfang und -Erfolg unerlässlich. Da nützt auch der Hinweis darauf nichts, dass im Analogen zwar fleißig Zahlen gesammelt werden, sie aber nur selten zum Anlass genommen werden, tatsächlich Veränderungen vorzunehmen. Diesen Fehler im Netz zu wiederholen, nützt ja niemanden etwas. Zuallerletzt denjenigen, die sich kirchenpolitisch dafür einsetzen, Ressourcen in Richtung digitaler Arbeitsweisen und Projekte umzuleiten.

Dabei genügt es nicht allein, mal auf den Counter des letzten YouTube-Videos zu schielen. Die allermeisten Werkzeuge und Plattformen geben Produzent:innen von Haus aus die Möglichkeit, genauere und interessantere Zahlen zu finden. Beispiel YouTube: Natürlich werden neue Videos, je nach Ausgangsgröße der Community (siehe 2.), zu Anfang nicht viele Klicks haben. Deshalb ist diese Zahl nicht sonderlich aussagekräftig. Interessanter ist, wie lange die Zuschauer:innen dran bleiben. Hier erhält man womöglich einen wichtigen Hinweis darauf, was an den Videos verbessert werden kann.

Zahlensammeln ergibt vor allem dann Sinn, wenn man sie nicht kontextfrei zur Kenntnis nimmt, sondern sie zur Überprüfung des eigenen Konzepts (siehe 6.) heranzieht. Schöpfe ich meine Zielgruppe aus oder erreiche ich sogar neue Leute? Erreiche ich meine mittel- und langfristigen Ziele: Gewinne ich neue Kanal-Abonnent:innen hinzu? Hat der Kanal positive Auswirkungen auf meine anderen digitalen und analogen Angebote? Treten Menschen aufgrund des Engagements (wieder) in die Kirche ein oder lassen sich taufen?

4. Reichweite = Erfolg

Da fast alle Projekte der Kirche im Netz kein Geld verdienen müssen – weil sie als Hobby oder im Rahmen eines diffusen Dienstauftrags betrieben werden und darum von den Kirchen bezahlt werden  – hat es sich leider eingebürgert, schon die pure Präsenz im Netz als Erfolg zu werten. Eine große Reichweite allein kann aber nie Ziel digitalen Engagements sein.

Ein Beispiel: Nur die Hälfte der Hauptamtlichen blieb über die Corona-Zeit mit ihren Konfirmandengruppen in Kontakt, nur 10% haben sich für den geplanten und nicht stattfindenden Konfirmationstag etwas Spezielles überlegt, hat die CONTOC-Studie („Churches Online in Times of Corona“) für die Schweiz ergeben. Thomas Schlag, einer der Initiator:innen der Studie und Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung in Zürich (ZKE), nennt das „erstaunlich und wenig seelsorgerlich“. Stimmt, das ist ein veritabler Fail der Hauptamtlichen, also zumeist der Pfarrer:innen. In Deutschland wird das kaum anders gewesen sein. (Übrigens werden Ergebnisse der CONTOC-Studie für Deutschland am 13. April im Rahmen einer digitalen Tagung vorgestellt.)

In seinem Newsletter schreibt das Team des ZKE dazu: „Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kirche digital vielfältig präsent war, was gegen die oftmals von der Öffentlichkeit unterstellte fehlende Systemrelevanz in der Krise spricht.“ Und genau das ist der Fehlschluss! Allein Präsenz begründet keine Relevanz. Relevant ist ein Angebot nicht dann, wenn es stattfindet, sondern dann, wenn es im Leben von Menschen einen Unterschied macht, sie zum Zuschauen, Mitmachen oder Nachdenken animiert, sie in Bewegung versetzt.

Viele digitale Kanäle von Kirchen, Gemeinden und Werken schaffen das nicht. Weil sie als reine Abladestationen für Meldungen gebraucht werden. Weil sie unpersönlich gestaltet sind. Weil sie keine klare Zielgruppe anvisieren. Weil ihnen die schlichte Idee zugrundeliegt, mit eigenen Inhalten eine möglichst große Menge von Views (Ansichten in Feeds) und/oder Likes zu generieren. Dabei wird der Like oder View als valides Zeichen für Engagement und damit Relevanz verstanden, was so nicht stimmt.

Noch ein beliebtes Symbolbild für #digitaleKirche, Foto: Grant Whitty (Unsplash)

Likes und Views bilden das user engagement der Plattform ab, zeigen wie gut oder schlecht Algorithmen funktionieren und von Akteur:innen auf den Plattformen (aus-)genutzt werden. Das ist viel, sollte aber nicht mit emotionaler Bindung, inhaltlicher Zustimmung und spirituellem Gleichklang verwechselt werden. Von den inzwischen hunderten Kirchenaccounts mit Logo statt Porträt als Avatar könnten sich drölfzig löschen, ohne dass es einen Unterschied machen würde.

Für große Akteur:innen ergibt die pure Präsenz auf vielen Plattformen Sinn, wird geradezu erwartet. Alle anderen sollen und können sich fragen, wo und wie sie ihre Zielgruppe am besten erreichen. Das heißt in den meisten Fällen, danach zu fragen, wo die eigene Sozietät im Netz schon zu Hause ist und nicht erst hingeführt werden muss. Es bedeutet aber auch kritisch zu reflektieren, wo eine Präsenz überflüssig ist und darum unnötig Ressourcen bindet.

Digitale Akteur:innen, die von ihrer Arbeit im Netz leben müssen, wissen längst: Reichweite zahlt keine Rechnungen. Langfristiges und tiefes Commitment erreicht man nicht durch Reichweitenvergrößerung, sondern durch Community-Building, das Mit-Leben in einer Gemeinschaft der Gleich-Gesinnten und -Gestimmten.

5. Idee = Konzept

Es ermangelt den digitalen Akteur:innen der Kirchen nicht an Ideen. Ja, manche davon sind nicht „neu“ oder sonderlich originell; manche wurden auch schon mal vor die Wand gefahren oder aus guten Gründen nicht durchgeführt (z.B. die Idee einer Kirchenfinder-App). Aber niemand sollte sich so weise dünken, hundertprozentig klar zu haben, was „funktioniert“ und was niemals Aussicht auf Erfolg hat. Das sieht man einer Idee nämlich in den meisten Fällen nicht an, bis auf ganz unterirdischen wie die eines „christlichen Facebooks“, .

Eine Idee muss erstmal zur Welt kommen. Gott hat das gemacht, indem er sich in Jesus Christus inkarniert hat, d.h. Fleisch geworden ist. Eine Idee muss fleischlich werden, Gestalt gewinnen, wenn sie irgendwie Resonanz oder Relevanz erreichen will. „Die Projekte der Kirche im Netz scheitern entweder, weil eine gute Idee nicht ausprobiert wird oder weil ohne Idee rumprobiert wird“, meint Tobias Sauer, Experte für digitale Glaubenskommunikation und Gründer des ruach.jetzt-Netzwerks*.

In der verfassten Kirche werden üblicherweise Pläne entworfen, Strategien entwickelt und Konzepte verfasst. Da fließen viele Ressourcen hinein, ohne dass wenigstens im Ansatz geklärt ist, ob es für das Angebot ein Publikum gibt. Viele „kleine“ Akteur:innen versuchen es hingegen umgekehrt: Sie rödeln vor sich hin, ohne ihre Arbeit je zu evaluieren. „Jede gute Idee braucht einen Prototypen, der sie testet“, rät Tobias Sauer. Bevor seitenlange Exposés verfasst werden oder Team-Sitzung an Team-Sitzung gereiht wird, sollten Ressourcen auf die Entwicklung eines Prototypen verwendet werden, in dem eine Idee Gestalt annimmt.

Wenn der Prototyp dann zum Einsatz gebracht oder ein bestehendes digitales Angebot unter dieser Perspektive betrachtet wird, kann und sollte live evaluiert werden: Welche Zielgruppe erreiche ich tatsächlich? Wie schaut es mit der Machbarkeit aus, welche Ressourcen setze ich ein? Kann ich das durchhalten? Welches Potential wohnt meinem Angebot inne und welchen Nutzen hat es für die User:innen?

Wenn das Ergebnis dieser Überprüfung zu meinen übergeordneten Zielen oder denjenigen meines Arbeitgebers passt, dann kann ich weitere Ressourcen in den Ausbau und die Konzeption des Projekts stecken: Ziele und Anliegen genauer definieren, Verbündete und Kooperationspartner:innen finden, das Angebot auf Dauer stellen. Wenn sich durch die Evaluation aber herausstellt, dass mein Angebot gar nicht funktioniert oder so leidlich vor sich hin dümpelt, meinen Zielen oder denjenigen der Organisation hingegen nicht dient, dann stecke ich den Prototyp in die Schublade mit den netten Ideen zurück. Auch gut.


Alle Eule-Beiträge über #digitaleKirche.

* Offenlegung: Das ruach.jetzt-Netzwerk wirbt gelegentlich in der Eule für Produkte und Veranstaltungen.