5 typische Takes in der Winnetou-Debatte debunked

Unsere „SektionF“-Kolumnistin Carlotta Israel entlarvt fünf typische „Moves und Takes“, die im aktuellen Winnetou-Streit immer wieder auftauchen.

Seit etwas mehr als zwei Wochen läuft die Winnetou-Debatte heiß – und enttarnt enorm viel! Die Karl-May-Kontroverse regt auf und polarisiert von A wie „Aber das sind doch nur Kinderbücher“ bis Z wie Zensurvorwürfen in einer vermeintlichen Meinungsdiktatur.

Schon im Januar machte Hadija Haruna-Oelker in der Frankfurter Rundschau auf den Film „Der junge Häuptling Winnetou“ aufmerksam und kommentierte: „Der Trailer verspricht Übles, was rassistische Klischees samt geschichtsrevisionistischer Romantisierung von Kolonialisierung und dazugehörigem Völkermord angeht.“  Zur Filmpremiere distanzierte sich der Ravensburger Verlag dann von bereits gedruckten Begleitmaterialien mit folgenden Worten: „Angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, wird hier ein romantisierendes Bild mit vielen Klischees gezeichnet. […] Vor diesem Hintergrund wollen wir als Verlag keine verharmlosenden Klischees wiederholen und verbreiten.“

Seitdem kritisieren „Experten“ wie Jörg Pilawa oder Sigmar Gabriel neben vielen anderen die Entscheidung des Ravensburger Verlages und prangern davon ausgehend solche Fantasmen wie „cancel culture“ und „Woke-Verirrungen“ an. Im Kirchen-Kontext musste dazu natürlich auch Peter Hahne lospoltern.

Ich bin kein Karl-May-Fangirl und deswegen trifft mich die Debatte weniger als viele andere, aber auch als Fan oder Person, die positive Erinnerungen an die Karl-May-Welt hat, muss Kopf-Anstellen möglich sein. Fünf der häufigsten Takes in der Kontroverse schauen wir uns jetzt zusammen an:

1. „Aber das ist doch nur ein Kinderbuch/-film“

Was heißt hier nur? Sind Kinder noch nicht so richtige Menschen? So eine Argumentation nennt man übrigens Adultismus. Wenn Kinder ernst genommen werden, dann wird auch ernstgenommen, was für sie produziert wird. Kapitalistisch gesehen scheinen sie ja offensichtlich ein lohnenswerter Markt zu sein, warum sollten dann auch nicht die für sie produzierten Produkte genauso kritisiert werden wie Produkte für Erwachsene?

Wo fängt das Erlernen von rassistischen Mustern an? In der Kindheit! Also ist jede Antirassismus-Arbeit ganz selbstverständlich auch auf Kindermedien anzuwenden. So z. B. auch in Kinderbibeln! Langfristig können rassistische Stereotype nur dann verschwinden, wenn sie der nächsten Generation nicht mehr weitergegeben werden.

„Das war so schön zu lesen/vorgelesen zu bekommen!“ – Und das darf es ja auch gewesen sein. Aber das heißt nicht, dass Vorlesestunden mit Kindern heute immer noch solche Bücher aus dem 19. Jahrhundert brauchen, um schön zu sein. Die positiven Erinnerungen an das Vorgelesenbekommen oder das eigene Lesen sind doch mehr als die Erinnerung an diese Geschichten, oder? Es geht doch darum, dass gemeinsam Zeit verbracht wurde oder mensch selbst in eine literarische Welt eingetaucht ist. Für mich ist das Sich-in-ein-Buch-Hineinlesen/Hineingesogenwerden bei Cornelia Funkes Tintenherz-Trilogie noch heute unglaublich eindrucksvoll. Vielleicht mal damit probieren?

2. Da ist was verboten worden! Zensur!

Das stimmt einfach nicht! Das stimmt einfach nicht! Das stimmt einfach nicht! Ein Verlag hat sich – nachdem ihm während der Produktion nichts aufgefallen war? – eines Besseren belehren lassen und Produkte vom Markt genommen. Die Entscheidung haben die verantwortlichen Personen, so lässt es ihre Erklärung vermuten, nach einem Erkenntnisgewinn gefällt, der ihnen nicht aufgedrückt wurde, sondern zu dem sie gekommen sind. Nichts ist verboten worden!

Auch Peter Hahne, der mit „Wokismus“ – oh Wunder – einen komplett diversitätsfeindlich-rechten Begriff verwendet, kommt nicht damit klar, dass Leute vielleicht etwas dazugelernt und festgestellt haben, dass sie nicht an der Weiterverbreitung rassistischer Klischees verdienen wollen. Im Grunde ist das nämlich ein Hoffnungszeichen dafür, dass Antirassismus-Arbeit wirkt.

3. Ohne Anlass keine kritische Auseinandersetzung?

Auch Jörg Pilawa meint: „Wir müssen über das Thema diskutieren“. Ja welches Thema denn, Jörg? Geradezu philosophisch hält er fest, dass über „das Thema“ nur dann diskutiert werden könne, wenn die entsprechenden Bücher in den Regalen stünden. Zeigt die Winnetou-Debatte aber nicht gerade, dass erst dann, wenn die Bücher nicht mehr dort stehen, überhaupt geredet wird?

Auch wenn natürlich schon länger darüber diskutiert wurde, wie Karl Mays Werke einzuordnen sind, wird die Diskussion doch erst jetzt so öffentlich (und hitzig) geführt. Wenngleich „das Thema“ (= Rassismus und koloniales Denken) noch immer weitaus weniger direkt angesprochen wird, als es könnte.

Braucht die kritische Auseinandersetzung sichtbare Anlässe? Das ist eine grundsätzliche Frage, die sich am Beispiel Winnetou, aber auch bei anderen Inhalten und Objekten aufdrängt. Ein anderer Ort, ein anderes „Thema“, ein anderes Medium ist das Artefakt, das an der Wittenberger Stadtkirche hängt:

Es verhöhnt jüdische Personen. Seit 700 Jahren. Um Antijudaismus und Antisemitismus zu diskutieren, braucht es meiner Meinung nach keinen solchen weiterhin sichtbaren Gegenstand. Um über die lange christliche und deutsche antijüdische Tradition aufzuklären, muss das Schandmal nicht an der Kirche hängen bleiben. Manche sehen es so wie ich, andere nicht. Ist mir auch klar. Aber strukturell ist es doch die gleiche Frage. (Mehr dazu in einer „Ortsbegehung“ von Philipp Greifenstein hier in der Eule.)

Wie genau wird kritische Auseinandersetzung denn verstanden? Damit komme ich zu einer in einem empfehlenswerten Podcast klug gezogenen Parallele: Wie ist das denn jetzt mit Pippi Langstrumpf? Bei Pippi spüre ich persönlich mehr emotionale Verbundenheit. Sollen nun Erklärungen als Fußnote ins Buch gesetzt werden, wo rassistische Begriffe oder Stereotype aufgerufen werden? Und (wie) wird das dann vorgelesen? Wie wird durch die bleibende Anwesenheit des kritikwürdigen Gegenstandes Kritik garantiert?

4. „Das ist doch nur ausgedacht, das ist doch nur Fiktion!“

Gegenüber der „Tagessschau“ spricht sich Andreas Brenne sowohl im Namen der Karl-May-Gesellschaft als auch als Professor für Kunstpädagogik an der Universität Potsdam gegen die Entscheidung des Ravensburger Verlages aus. Dieser hätte „zu schnell geschossen“ und nicht mit Expert*innen gesprochen. Der „Tagesschau“-Sprecher fragt, das Verlagsstatement zitierend, ob Brenne die Argumente des Verlages nachvollziehen könne. Brenne antwortet damit, dass es in den Büchern einen Disclaimer gebe: Es handele sich um Fiktion und nicht um historische Aufarbeitung.

Jede Form von „Fiktion“ und auch jede Form historischer Aufarbeitung baut darauf auf, dass sich eine Person von ihrem Standpunkt aus in eine Zeit hineinzudenken versucht. Sicherlich gibt es unterschiedliche Prämissen bei Fiktion oder historischer Darstellung, aber trotzdem verschwindet die Subjektivität, die Voreingenommenheit des*r Autor*in nicht. Trotzdem verknüpfen Menschen etwas, das sie entwerfen oder untersuchen mit dem, was sie kennen – mal mehr, mal weniger reflektiert und mal mehr und mal weniger angemessen.

Es ist keine Entschuldigung oder bringt keinen Schuld-Erlass, wenn etwas „nur“ Fiktion ist, weil einerseits etwas von der*m Autor*in mithineinkommt und gleichermaßen Leser*innen davon geprägt ihre Assoziationen mithinein lesen und neue Anknüpfungspunkte mitnehmen. Eben auch rassistische Stereotype.

Der „Tagesschau“-Sprecher fragt zurück, wie ist es sich denn bei dem Bild des „edlen Wilden“ oder „noble savage“ verhält? Für Brenner ist Winnetou plötzlich das Gegenbild zu toxischer Männlichkeit. Ein netter Ehrenrettungsversuch und Switch auf einen anderen Bereich von Intersektionalität. Es bleibt aber die Exotisierung, die mit dieser Stilisierung einhergeht: Ohne (menschliche) Zivilisation bestehe etwas Ursprüngliches, Natürliches und damit als besser, fern und anders Verstandenes. Und so wird Winnetou zu einem Nicht-Menschen.

5. Wer hat etwas zu sagen?

Brenner sah eine „durchaus engagierte Gruppe“ hinter einem Shitstorm stehen. Auf den Hinweis des „Tagesschau“-Sprechers, Vertreter*innen von Indigenen würden die Entscheidung des Verlages gutheißen, entgegnete er, dass er welche kenne, die es anders sehen würden.

Hier wird eigentlich die Frage nach Repräsentanz verhandelt und einige, die Brenner hier zitiert, äußerten sich nachher tatsächlich dankbar darüber, überhaupt mal wahrgenommen zu werden. Ich maße mir jetzt viel an, wenn ich schreibe, dass ich es ganz schön bitter finde, dass Karl May die einzige Form ist, in der sich manche Indigene in unserer Gesellschaft gesehen fühlen.

Offensichtlich und selbstverständlich gibt es innerhalb von Communities unterschiedliche Meinungen. Wenn aber Personen, die zu einer Gruppe gehören, sich nicht angemessen, sondern klischeehaft oder gar beleidigend dargestellt finden, ist dies zu berücksichtigen – erst recht, wenn sie rassistisch diskriminiert sind! Carmen Kwasny beschreibt auf der Website der Native American Association of Germany e. V. ihre Position und die vergangenen Tage:

„Die, an mich gerichtete Frage danach, ob wir als Organisation die Entscheidung des Ravensburger Verlags, die Bücher zum neuen Kinofilm zurückzuziehen, befürworten, habe ich mit einem klaren „Ja“ beantwortet.

Warum? Weil wir seit Jahrzehnten darauf hinweisen, dass stereotype Vorstellungen alles andere als harmlos sind und genau deshalb begrüßen wir die Entscheidung des Verlags.

Sehe ich mich selbst als eine „Vertreterin der amerikanischen Ureinwohner in Deutschland“, wie in den Medien immer wieder behauptet? Nein. Ich vertrete die Werte und Grundsätze unserer Organisation in der Öffentlichkeit. Ich kann nicht für die Native Americans sprechen, die hier in Deutschland leben und ich habe das auch nie behauptet.“

In den Winnetou-Diskussionen wurden vor allem (vermeintliche) Expert*innen für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen gehört, die ihre eigenen Standpunkt nicht deutlich reflektieren, aber trotzdem als Expert*in respektiert werden, wie Brenner. Immerhin ist bei ihm durch seine Mitgliedschaft in der Karl-May-Gesellschaft öffentlich bekannt, dass er pro-Karl-May ist. Wissenschaftlich beschäftigt er sich übrigens auch mit dem Thema Gender. Trotzdem lässt er nicht durchblicken, dass die Kränkung, die z. B. Sigmar Gabriel zu einer Äußerung veranlasst haben, genderspezifisch ist.

Karl May erfand klischeehafte Charaktere, die für einige „Helden der Kindheit“ wurden. Weil es sich dabei vornehmlich um männliche Personen handelte, geht es um Idole für Jungen und Männer. Deswegen sind jetzt vor allem Männer an dieser Diskussion beteiligt. Sehr schön zeigt das Christian Ehring in der aktuellen Folge „Extra 3“.

Der Vorwurf, es sei eine kleine Gruppe von Aktivist*innen gewesen, die schon im Vorhinein gegen Winnetou einen Shitstorm entfacht habe, eine „woke linke Bubble“, um einen in einem anderen Zusammenhang verwendeten Begriff von Fynn Kliemann nochmal aufzufrischen, konnte mittlerweile entkräftet werden. Es gab vor der Entscheidung des Verlages keinen Shitstorm. Und noch einmal und ganz kurz: „Woke“ (wach) heißt, diskriminierungssensibel zu sein. Dass es einer*m zum Vorwurf gemacht wird, sich – jetzt hole ich die christliche Keule raus – für die Nächsten einzusetzen oder sich nach dem Vorbild Jesu „Ausgestoßenen“ zuzuwenden, hätte ich mir nicht vorstellen können.

BIPoC wird vorgeworfen, Hass zu säen, wenn sie auf Rassismus hinweisen. Das ist schlichtweg Täter*innen-Opfer-Umkehr und deckt white fragility auf. White Fragility bezeichnet die oft hoch emotionale Abwehrreaktion weißer Menschen gegen die Aufdeckung ihres rassistischen Denkens. Genau das passiert in dieser Debatte.


Sicherlich gibt es noch viele weitere und oft verwendete Moves und Takes in dieser Debatte. Aber das war jetzt mal meine „Top 5“, die mir aufgefallen sind und die einige grundsätzliche Diskussionskulturkonturen aufdecken. Auch hier verschränken sich verschiedene Diskriminierungsformen intersektional.

Mit „Als ich klein war, da gab es noch gar keinen Rassismus!“ – wiederum treffend im „Extra3“-Sketch aufgenommen – ist auf den Punkt gebracht, wie wenig Verständnis des eigenen Rassistischseins und -gewordenseins auch im Jahr 2022 noch vorherrscht. Überall in der Gesellschaft.