Grenzgänger:innen – Die #LaTdH vom 9. Juni
Die Landeskirche Hannovers streitet über den richtigen Weg zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Außerdem: Klimabewegung und Kirche, gute Nachbarschaft und Abschied von Jürgen Moltmann.
Herzlich Willkommen!
An diesem Wochenende finden in Słubice und Frankfurt (Oder) die Christlichen Begegnungstage (CBT24) unter dem Motto „Nichts kann uns trennen“ statt. Die Begnungstage sind nur eines von vielen Events, die in diesen Wochen Christ:innen über Konfessions- und Landesgrenzen zusammenführen. Wenn ich gelegentlich Instagram aufmache, ploppen mir Videos und Fotos von den Jugendtagen der evangelischen Landeskirchen entgegen mit Schlammschlachten, Raves, Bibelarbeiten und Zeltlagern. An der deutsch-polnischen Grenze wird heute 10 Uhr Abschlussgottesdienst gefeiert (Livestream), die Predigt halten Pavlo Shvarts aus Charkiw (Ukraine) und Marta Zachraj-Mikolajczyk aus Wroclaw (Polen).
„Nichts kann uns trennen“ ist am Tag der Europawahl ein grandioses Motto. In meinem Herzen hat es „Wenn Dein Kind dich morgen fragt“ (Evangelischer Kirchentag in Hannover 2005) als mein Lieblingsmotto von Kirchentagen abgelöst. „Zukunft hat der Mensch des Friedens“ stand als Leitwort über dem Katholikentag in Erfurt vor einer Woche. Im Motto von Słubice / Frankfurt (Oder) wird deutlich, was das konkret heißen kann: Grenzen überwinden, gemeinsam feiern, nachdenken, Zukunft gestalten. Und sich dabei nicht aufhalten lassen von neuen Grenzziehungen, Schlagbäumen, die auf einmal wieder herunter gelassen werden, Rückschlägen und Streit. „Nichts kann uns trennen“ ist ein Bekenntnis, das wir in dieser Zeit gut gemeinsam sprechen können. Kaum ein Satz könnte in diesen europäischen Entscheidungstagen politischer sein.
Ich bin auch deshalb Fan des Mottos der CBT24, weil man dem Satz „Nichts kann uns trennen“ seine biblische Herkunft noch anmerkt. Das Geschehen auf den Begegnungstagen soll durch die Linse des Bibelwortes aus dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom (Kapitel 8, Vers 39) hindurch gesehen werden: „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes“, weder Gewalt noch Mächte „noch irgendeine andere Kreatur“.
Die schönen Bilder von den Jugend- und Kirchentagen und vom Katholikentag in Erfurt schieben sich nur kurz vor die der Katastrophenbilder der vergangenen Tage. Keine Krise der Welt wird durch die Christ:innentreffen gelöst, kein Kriege werden beendet, keine rechtsradikalen Wahlerfolge verhindert. Und doch haben sie in diesen Tagen alle Berechtigung: Denn woher soll die Kraft denn kommen, die Menschen guten Willens brauchen, um sich für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung für unsere Kinder einzusetzen? Sie kommt aus der Gemeinschaft, aus dem Erleben von Nähe und Solidarität, aus konkreten Momenten der kollektiven Selbstwirksamkeit. In all dem sehen Christ:innen die Liebe Gottes am Werk.
Wenn Sie wie ich heute Abend die Wahlergebnisse der Europawahl im Fernsehen schauen werden und vermutlich mindestens ein wenig entsetzt darüber sind, wie viele Menschen auf unserem weitgehend geeinten, weitgehend wohlhabenden und weitgehend friedlichen Kontinent ihre Stimme rechtsradikalen und rechtsextremistischen, nationalistischen und faschistischen Parteien gegeben haben, erinnern wir uns doch an das Bekenntnis von Słubice / Frankfurt (Oder).
Eine gute Woche wünscht
Philipp Greifenstein
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Debatte
Die Hannoversche Landeskirche kommt nach der Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie (wir berichteten) und dem Fall Oesede, der in einem eigenen Bericht untersucht wurde, nicht zur Ruhe. Gut so. Am Freitag dieser Woche befasste sich die Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers in einem Schwerpunkt mit dem Themenfeld sexualisierte Gewalt. Vorausgegangen waren ein Protestbrief von 200 Mitarbeiter:innen und mehrere Rücktrittsforderungen von Betroffenen an Landesbischof Ralf Meister. Die Vorgänge in Hannover sind relevant auch für die weitere Kirchenlandschaft in Deutschland.
Was die letzten Tage von Hannover / Loccum bedeuten, werden wir in den kommenden Tagen in der Eule noch beleuchten. In den #LaTdH vom 17. März 2024 „An der Leine“ haben wir uns hier im Newsletter schon einmal ausführlich mit den Konsequenzen aus dem Fall Oesede befasst. Zu diesen gehört auch die Forderung an Meister, auf sein Amt zu verzichten. Über dieses „Bischofsversagen“ sprachen Michael Greder und ich auch in unserem Eule-Podcast-Monatsrückblick auf den März 2024.
Missbrauch: Mehr als 200 Beschäftigte kritisieren eigene Landeskirche (epd, katholisch.de)
Der Fall, der Bericht und die Berichterstattung in und über Oesede sind die entscheidenden Katalysatoren dafür, dass in der hannoverschen Landeskirche der in der kirchlichen Mitarbeitendenschaft weit verbreitete Unmut gegenüber der eigenen Leitung konkrete Ausdrucksformen fand. Auch anderswo rätseln Haupt- und Ehrenamtliche darüber, was nach „ForuM“ zu tun ist, stehen überfordert vor den von ihnen verlangten Ad-Hoc-Maßnahmen und warten gespannt darauf, was das Beteiligungsforum (BeFo) der EKD, Rat der EKD und Kirchenkonferenz sowie im November 2024 dann die EKD-Synode in Würzburg zur Umsetzung in den Landeskirchen verabreden. Vor allem ist da viel Ungewissheit und auch Unwissen. Auch das Kopfschütteln über die mangelnde Krisenkommunikation der eigenen Leitungsebenen haben die hannoverschen Kirchenmitarbeiter:innen nicht für sich allein.
Sie wünschen sich einen grundlegenden Kulturwandel innerhalb der Kirche. Die Kirche müsse sensibel für Grenzverletzungen und Machtmissbrauch werden. „Dafür muss sie selbstkritisch mit den Ergebnissen der Studien umgehen“, fordern die Beschäftigten der Landeskirche. Die Kirchenleitung müsse den Kulturwandel initiieren, gestalten und begleiten, „damit unsere Kirche nicht nur zukunftsfähig wird, sondern vor allem sicherer und glaubwürdiger“. Sie habe auch bei der Missbrauchsaufarbeitung eine besondere Verantwortung und eine Vorbildfunktion, heißt es in dem Schreiben. Sie müsse viel mehr als bisher auf Betroffene hören und proaktiv Fälle aufklären.
Es ist nicht gerade wenig, was die Unterzeichner:innen von ihrer Kirche verlangen. Proaktive Aufklärung zum Beispiel klingt nur so lange wie ein erreichbares Ziel, bis man begreift, dass die Kirche ja schon die reaktive Aufklärung für gewöhnlich vermasselt. Die vier konkreten Forderungen im Brief allerdings haben Hand und Fuß.
Als Reaktion auf diesen Brief an die Kirchenleitung, über den erst am Dienstag dieser Woche berichtet wurde, lud die Kirchenleitung zu zwei Zoom-Konferenzen u.a. mit Landesbischof Ralf Meister ein, bei denen in Breakout-Rooms über das weitere Vorgehen beraten und Beratungs- und Informationsbedarfe geklärt wurden. Laut Ralph Charbonnier, theologischer Vizepräsident im Landeskirchenamt Hannover, sei der Brief der 200 vor allem dem Umstand zu verdanken, dass man kommunikativ mit „ForuM“ und Oesede nicht richtig umgegangen sei: „Wir haben etwas blauäugig gedacht, dass wir dann zur Synode informieren.“ Es soll nun weitere regionale Veranstaltungen geben und auch einen Newsletter. Ziel ist, dass „alle Ebenen der Landeskirche auskunftsfähig werden sollen“, was das Themenfeld sexualisierte Gewalt angeht.
Eine Rücktrittsforderung an den Landesbischof oder eine:n andere:n Mitarbeiter:in der Landeskirche enthält der Brief der Mitarbeiter:innen ebenso wenig, wie er ein Breakout aus dem Betrieb der Landeskirche darstellt. Das schnelle Reagieren der Kirchenleitung auf den Brief verdankt sich sicher der nahenden Synodentagung, aber hat wohl auch dazu geführt, die Lage innerhalb der Landeskirche zu beruhigen.
Rücktrittsforderungen von Betroffenen
In einem weiteren Brief forderten dann am Mittwoch vier Betroffene sexualisierter Gewalt (erneut) den Rücktritt von Ralf Meister. Eine Rücktrittsforderung der Betroffenen aus dem Oesede-Tatkontext, Lisa Meyer (Pseudonym), hatte Meister im März zurückgewiesen (dazu mehr in den #LaTdH vom 17. März und im Eule-Podcast RE: März 2024). Der epd berichtet:
Meister werden insbesondere Versäumnisse der landeskirchlichen Fachstelle für sexualisierte Gewalt vorgeworfen. Auch nach einer Neuaufstellung 2021 würden Betroffene „weiterhin sehr negative Erfahrungen“ mit der Fachstelle machen, […]. Mails würden nicht oder nur schleppend beantwortet, Anliegen nicht bearbeitet, Prozesse verzögert, Daten teilweise ohne Zustimmung weitergeleitet, und „Betroffenen wird immer noch nicht geglaubt, wenn die Täter noch im Dienst sind“.
Meister lehnte einen Rücktritt erneut ab und erklärte am Freitag bei der Pressekonferenz zum Synodenschwerpunkt sexualisierte Gewalt, der Brief enthalte außer den Details zur Fachstelle „keine neuen Informationen“. Man habe den Betroffenen nun erneut Gespräche angeboten, die Grundsatzentscheidung zum Verbleib im Amt bestehe aber fort.
In einer „Gemeinsamen Erklärung“ (hier) der kirchenleitenden Gremien der Landeskirche wurde Ralf Meister der Rücken gestärkt. Die Fehler in der Fachstelle seien Folge „unser[es] Fehler[s], dass wir die Unterbesetzung der Fachstelle und ihre Folgen insbesondere in den Jahren bis 2021 nicht früh genug erkannt und entsprechend reagiert haben“.
Betroffenensprecher legt Landesbischof Rücktritt nahe – Florian Breitmeier (NDR, 7 Minuten)
Unterstützung erhielten die vier Betroffenen von Detlev Zander, einem der beiden Betroffenensprecher:innen im BeFo der EKD. In seinem Interview bei Florian Breitmeier vom NDR geht es gleichwohl um mehr als eine Rücktrittsaufforderung gegenüber Ralf Meister. Der notwendige „Kulturwandel“ und strukturelle Veränderungen (mehr zu diesem Begriffspärchen im Kontext der Missbrauchsaufarbeitung hier in der Eule) ist womöglich unmöglich, wenn er nicht von neuem, glaubwürdigen Personal eingeleitet wird.
Auf der Pressekonferenz am Freitag fragte sich Ralf Meister, ob Zander seine Rücktrittsforderung nicht erhebe, „ohne die Zusammenhänge in der Landeskirche profund zu kennen“. Einen Rücktritt schlossen er und weitere kirchenleitende Personen abermals zu diesem Zeitpunkt aus, man wolle nicht „in eine Chaoslage kommen“ (Meister), in der sich die Kirche statt mit den wichtigen Sachfragen mit der Neubesetzung des Amts des Landesbischofs befassen müsse. Bemerkenswert ist das unterschiedliche Gewicht, das den Äußerungen von Mitarbeiter:innen (vor allem Pfarrer:innen) und Betroffenen beigemessen wird. Über In- und Out-Gruppen in Aufarbeitungsprozessen habe ich mit Friederike Lorenz-Sinai, einer der „ForuM“-Forschenden, bereits im März 2024 im Eule-Podcast gesprochen. Hören Sie gerne mal rein!
Landessynode befasst sich mit Missbrauchsaufarbeitung
Am Freitag dann befasste sich die Landessynode einen Tag lang intensiv mit dem Themenfeld sexualisierte Gewalt. Den Startpunkt der Beratungen setzte Nancy Janz, die zweite Betroffenensprecherin im BeFo der EKD und selbst Betroffene aus der hannoverschen Landeskirche. Ihren Vortrag und die weitere Befassung der Landessynode im Plenum kann man hier auf YouTube im Nachgang anschauen. Vom Livestream ausgenommen sind die kleinen Gesprächsgruppen, in denen die Synodalen mit weiteren Betroffenen aus der Landeskirche im Anschluss an die Rede von Nancy Janz zusammentrafen. Die Landeskirche informiert auf ihrer Website ebenfalls ausführlich.
Von der Synodentagung berichtet Florian Breitmeier im NDR ausführlich in Bild und Text sowie im Radio (da auch NDR-Interview mit dem Präsidenten der hannoverschen Landessynode, Matthias Kannengießer). (So wünschte man sich das von allen öffentlich-rechtlichen und regionalen Medien auch in den anderen Regionen Deutschlands.) Breitmeier berichtet auch darüber, dass einer weiteren betroffenen Person kurzfristig kein Rederecht im Plenum der Synode eingeräumt werden konnte. Das ist ein unglücklicher Vorgang, der zeigt, dass der viel beschworene „Kulturwandel“ eben noch nicht weit fortgeschritten ist. Beteiligt sei die Person aber durchaus gewesen, erklärt Kannengießer im oben verlinkten NDR-Interview.
Überall dort wo sich Synoden intensiv mit dem Thema befassen, geraten auch die Prozesse in den betreffenden Landeskirchen und Kirchenkreisen in Bewegung. Auch wenn die Ergebnisse solcher Beratungen derzeit nur enttäuschen können, weil bezüglich der Strukturveränderungen auf die Ergebnisse der Beratungen auf EKD-Ebene gewartet werden muss, die dort im Beteiligungsforum mit Beteiligung von Betroffenen präfiguriert werden, sollen Betroffene in Zukunft nicht mehr vor einem evangelischen Flickenteppich stehen, sind die Beratungen der Synoden deshalb wichtig. Dabei können auch Fehler passieren. Entscheidend ist, wie mit ihnen umgegangen wird.
In einem Kommentar fasst Florian Breitmeier seine Eindrücke von der Synodentagung und aus den vergangenen Tagen zusammen („Wer Ohren hat zu hören, der höre“):
Kirche muss mit Blick auf sexualisierte Gewalt, Deutungshoheit abgeben, dazu gehört auch ein gewisses Maß an Kontrollverlust. Klar, das fällt allen großen Institutionen schwer. Man führt in Krisensituationen häufig lieber Regie, als sich der Ungewissheit eines Konflikts auszusetzen, von dem unklar ist, wie er ausgeht. Die Betroffenen sexualisierter Gewalt aber haben so viel Mut bewiesen, der Kirche ihre Geschichte zu erzählen, da sollte es in Institutionen mit viel Gestaltungsmacht nicht allzu verzagt zugehen mit Blick auf Positionen und Prozesse.
nachgefasst
Re: Der Ukrainekrieg und der Druck auf Russlanddeutsche – Kathrin Denk (Arte, 30 Minuten)
Das Arte-Format „Re:“ zeigte im Jahr 2022 russlanddeutsche Familien bei der Bewältigung der mit dem Krieg in der Ukraine verbundenen Herausforderungen (YouTube). Für „Re:visited“ kehrt der Bayerische Rundfunk zurück in die Würzburger Community. Die Doku führt in die Herausforderungen für russlanddeutsche Aussiedler und ukrainische Flüchtlinge ein, deren Schicksale von der deutschen Mehrheitsgesellschaft ohne Vertreibungs- und Migrationsgeschichten häufig verdrängt werden. Eine Geringschätzung, die Putin-Propaganda auf fruchtbaren Boden fallen lässt und rechtsradikalen Agitateuren wie der AfD die Türen öffnet.
Auf dem Würzburger Heuchelhof treffen Menschen russischer und ukrainischer Herkunft im Kampfsportverein, in der Disko und auch in der Kirchengemeinde aufeinander und leben miteinander in der Nachbarschaft. En passant stellt die Doku die Frage danach, wie wir in unserer post-ost und (post-)migrantischen Gesellschaft gelingende Nachbarschaft gestalten können. PfarrerInnen auf dem Würzburger Heuchelhof sind Tobias Graßmann (zuletzt hier in der Eule) und Claudia Kühner-Graßmann (s. „Frau Doktor“ Nr. 3). Tobias Graßmann sagt in der Doku über das Leben der Gemeinde inmitten des Konflikts:
Wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, wenn irgendwo die Erde bebt, dann spürt man die Erzitterungen eben auch auf dem Heuchelhof.
Buntes
„Die Klimabewegung traut der Kirche mehr zu als sie sich selbst“ – Interview mit Ruben Zimmermann (Die Eule)
Es ist ein erstaunlicher Vorgang: In einem Appell an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordern 135 Theolog:innen und Kirchenleitende, er solle die Novelle des Klimaschutzgesetzes nicht unterzeichnen, die bereits von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde. Unter den Absendern des Briefes sind die Bischöfe Stefan Oster (Passau) und Christian Kopp (ELKB), Misereor-Chef Pirmin Spiegel und eine Reihe Theologieprofessor:innen. Mit dem Initiator des Appells, Professor Ruben Zimmermann (Universität Mainz), habe ich für die Eule gesprochen:
Herr Zimmermann, denken Sie wirklich, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Novelle des Klimaschutzgesetzes wegen ihres Einspruchs nicht unterzeichnet?
Zimmermann: Ich bin jemand, der die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgibt, dass sich die Dinge zum Guten wenden können. Das liegt vielleicht an meiner Theologenexistenz, meiner Beschäftigung mit Wundererzählungen, die das Außergewöhnliche durchaus auch für möglich halten. Ich möchte aber den Bundespräsidenten selber zitieren, denn er bekennt sich ja selbst als Christ und spricht immer wieder auf Kirchen- und Katholikentagen. Vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten war er als Präsident des Evangelischen Kirchentages vorgesehen. Er hat schon 2015 in Anspielung auf Dorothee Sölle gesagt: „Solange wir nicht aufgeben, behält die Hoffnung ihren Platz“.
Der Appell schließt sich der Kritik der Deutschen Umwelthilfe und zahlreicher Expert:innen an der Gesetzesnovelle an, die keine Sektorenziele – etwa für Verkehr, Landwirtschaft etc.) mehr für das Erreichen der Klimaziele der Bundesregierung vorsieht. Auch die jährliche Überprüfung wird abgeschafft. Im weiteren Verlauf des Interviews erklärt Zimmermann auch, wie Kirche und Theologie seiner Meinung nach in der Klimakrise sprachfähig werden können:
Eine Hoffnungsrede an den ersten beiden Schritten [Wahrheitsrede (parrhesia) und Ruf zur Buße (metanoia)] vorbei hielte ich für ebenso fatal wie eine „schwarze Apokalyptik“, die behauptet, wir könnten sowieso nichts tun. […] Die Klimabewegung traut der Kirche mehr zu, als sie sich selbst zutraut. Man schätzt die Struktur der Kirche und ihre Vernetzung in der Gesellschaft und in die Politik. Aber man sieht auch, dass die Kirche Sprachformen hat, die man jetzt brauchen kann, die sie selbst aber zu wenig nutzt.
Neben diesem Appell an die Politik haben wir in der vergangenen Woche in der Eule auch mit dem Artikel „Es geht (nicht) um die Wurst“ von Heiko Reinhold zur Frage der fleischlosen Ernährung in Gemeinden und bei kirchlichen Veranstaltungen und in der Kolumne „Tipping Point“ von Gastautorin Simone Horstmann über Tierrechte nach dem Anthropozän erneut über wichtige Fragen im Kontext der Klimakrise nachgedacht.
„Erpressung ist nicht gegeben“ – Interview mit Jörg Alt von Stefan Hunglinger (taz)
Für die taz hat Stefan Hunglinger mit dem Jesuitenpater Jörg Alt gesprochen, der sich mit dem Containern von Lebensmitteln und bei Aktionen der Letzten Generation und von Extinction Rebellion in der Klimabewegung engagiert. Im Gespräch geht es vor allem um den kontroversen Hungerstreik von Wolfgang Metzeler-Kick. Er habe ihm davon abgeraten, berichtet Alt, aber unterstütze ihn trotzdem.
„Wir wissen alle, dass der Klimawandel die größte Herausforderung ist. Aber wir verstehen nicht, wie dringlich es ist, und wir verstehen auch nicht, wie dringlich angemessenes Handeln ist, und wir verstehen auch nicht, was das für einschneidende Veränderungen in unserem Wirtschafts- und Lebensstil bedeutet. Und darüber müssen wir halt reden.“
Bereits Mitte Mai hatte Michael Winter seinen Hungerstreik im Rahmen der Aktion „Hungern, bis ihr ehrlich seid“, die auch im Eule-Gespräch mit Ruben Zimmermann eine Rolle spielt, wegen akuter Gesundheitsprobleme abgebrochen. Im Krankenhaus erhielt er kurz vor Pfingsten Besuch vom bayerischen Landesbischof Christian Kopp, der im Anschluss auf Instagram schrieb:
„Im Ziel einer entschlossenen Klimapolitik sind wir uns einig, in der Wahl der Mittel nicht. Ach Gott, hilf uns allen den richtigen Weg konsequent zu gehen. Dafür brauchen wir den richtigen Geist. Pfingsten kommt da genau richtig.“
Bei den Aktionen der Letzten Generation sind häufig auch Pfarrer:innen in ihrer liturgischen Kleidung dabei. Ein Hungerstreik ist ein extremes Mittel, das gegenwärtig obendrein nur wenig Aussicht auf Erfolg hat. Ist das alles nur noch schrecklich verzweifelt? Ja. Und gerade darum gibt es wahrlich schlechtere Orte für einen evangelischen Bischof als das Krankenbett von Michael Winter.
Leidende Zivilgesellschaft in Ungarn: Die NGOs bluten aus – Anke Lübbert, Markus Wanzeck (taz)
Zur Europawahl lohnt sich der Blick in die europäische Nachbarschaft, zum Beispiel nach Ungarn: Was der Autokratismus von Viktor Orbáns Fidesz-Partei im Land so anstellt, schwappt gelegentlich über die Aufmerksamkeitsschwelle hierzulande. Vor allem, wenn sich die ungarische Regierung bei einem beliebigen EU-Reformvorhaben, bei der Unterstützung der Ukraine und bei der Aufnahme von Geflüchteten quer stellt.
Wie aber steht es im Land um Menschen, die zum Beispiel für den Umweltschutz und gegen die Klimakrise antreten? Anke Lübbert und Markus Wanzeck berichten in der taz aber auch von Hoffungsschimmern: Es gibt eine neue Oppositionskraft, auf deren Ergebnis wir heute Abend gespannt achten können.
Theologie
Jürgen Moltmann: Der letzte Brückenbauer? – Thorsten Dietz (Die Eule)
Im Alter von 98 Jahren ist am Montag der evangelische Theologe Jürgen Moltmann gestorben. Der Architekt der „Theologie der Hoffnung“ kann auch heute Vorbild für Menschen sein, die über Gräben hinweg theologisch denken wollen, erklärt Thorsten Dietz in (k)einem Nachruf hier bei uns in der Eule (gespickt mit Moltmann-Zitaten). Für Dietz ist Moltmann einer der Vordenker der „emergenten“ Kirche, also der Bewegung, die wir heute häufig als postevangelikal bezeichnen.
Über Moltmann hörte ich, dass er ein ganz bunter Vogel sei. Den Frommen sei er zu liberal, den Liberalen zu fromm. Irgendwie wollte er sich nicht fügen in die Lagerkämpfe, in denen die meisten sich eingerichtet hatten. […] Jürgen Moltmann war der Einzige, der […] Wege zwischen den Lagern fand und all die eindeutigen Grenzziehungen, die die anderen zeichneten, mit leichter Hand durchlässig machte.
Moltmann hat auch die Grenzen der Universität überwunden: Seine Bücher wurden zu Bestsellern und seine Gedanken bewegten Christ:innen verschiedener Konfession. Paul Tillich, ein weiterer großer Theologe des 20. Jahrhunderts, hat das (für sich) in der Formulierung vom „Auf-der-Grenze“-Sein zu fassen versucht. Moltmann in seinen Texten neu oder wieder zu entdecken, wäre doch für jene, die gerne mit der Bibel im Gepäck die Welt verändern und „frei und fromm“ leben wollen, eine gutes Sommerlektüreziel. Mit Moltmann hat ein geübter, streitbarer und fröhlicher Grenzgänger „rübergemacht“.
Neunzig Jahre Jürgen Moltmann: Theologe der Hoffnung – Von Andreas R. Batlogg (Stimmen der Zeit)
Statt einem der in diesen Tagen zahlreich erschienenen Nachrufe empfehle ich diesen Artikel von Andreas Batlogg zur Lektüre, der zum 90. Geburtstag Moltmanns 2016 in den Stimmen der Zeit erschienen ist. Im Artikel wird Moltmanns Wandeln auf den Grenzen sehr schön biographisch festgemacht:
Dass die englische Übersetzung „Theology of Hope“ von 1967 – „es ist beinahe so, als hätte diese Zeit, als hätten die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche auf dieses Buch gewartet“ (12) – zur Sensation geriet und Moltmann nach Artikeln in der New York Times, Newsweek oder Los Angeles Times internationale Reputation einbrachte, dürfte vielen heute kaum noch geläufig sein, genauso wie die SPIEGEL-Bemerkung vom Januar 1968: „Moltmann propagiert darin ein umstürzlerisches, gesellschaftsänderndes – wie er sagt: ursprüngliches – Christentum und offeriert damit Christen und Kirchen eine Theologie, die zu aktiven, ja aggressiven Auseinandersetzungen mit der politischen Umwelt ermächtigt und anfeuert.“ (11 f.)
In die Wiege gelegt war diese Aufmerksamkeit dem in einem säkularen Elternhaus Aufgewachsenen gerade nicht […] Dass er mit seiner Frau, Elisabeth Moltmann- Wendel […] mehrere Anträge auf Zuzug in die DDR stellte, die aber alle abgelehnt wurden, ist der heutigen Theologengeneration wahrscheinlich genauso wenig bekannt wie die nicht ergriffene Möglichkeit der Auswanderung in die USA oder der heimliche Wunsch, Engländer zu werden.
Vielleicht muss man, denke ich mir so beim Lesen der Moltmann-Nachrufe, die auch seine Kriegserlebnisse nicht auslassen, um aufregende Theologie zu betreiben, auch ein aufregendes Leben führen. Oder in den Worten Moltmanns, die Thorsten Dietz zitiert:
[E]in entspanntes Leben hat einen deutlich anziehenderen Klang als spannungsvolles Dasein. Aber für Moltmann gab es nie eine Theologie der Hoffnung ohne den Glauben an den gekreuzigten Gott. Gesunde Theologie erwies sich für ihn gerade in ihrer Fähigkeit, Spannungen auszuhalten:
„Transzendenz ist nicht die Transzendenz des Auferstandenen, wenn sie nicht zur Solidarität mit denen führt, die er zu befreien kam und für deren Heil er starb. Solidarität ist nicht die Solidarität des Gekreuzigten, wenn sie nicht zur Transzendenz jener Zukunft führt, in die er auferweckt wurde. Transzendenzfrömmigkeit und Solidaritätsfrömmigkeit sind zwei Seiten des christlichen Lebensstils. Werden sie getrennt oder gegeneinander polarisiert, dann wird das neue Leben verhindert oder zerstört.“ (314)
Ein guter Satz
„Und nach dem ersten Glas Wein haben sie alle theologische Fragen gestellt.“
– Jürgen Moltmann über seine Begegnungen mit Atheisten, geschildert im Artikel von Andreas Batlogg