Analyse Marsch für das Leben 2024

Die Lebensschutz-Bewegung in der Sackgasse

Trotzdem die politische Ausgangslage für Abtreibungsgegner günstig erscheint, mobilisieren sie nur noch wenige Menschen zu ihren Demonstrationen. Die Unterstützung der Kirchen haben sie verloren.

Am Samstag hat zeitgleich in Berlin und Köln der alljährliche „Marsch für das Leben“ der Lebensschutz-Bewegung in Deutschland stattgefunden. Veranstalter der größten Demos von christlichen Abtreibungsgegnern in Deutschland ist der Bundesverband Lebensrecht (BVL), dem 15 Organisationen angehören, die sich für „Lebensschutz von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod“ einsetzen. Der vor allem katholisch und evangelikal geprägten Bewegung wird seit Jahren von Expert:innen eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremen attestiert.

In diesem Jahr ist die Teilnehmer:innenzahl bei den Demonstrationen im Vergleich zum Vorjahr gesunken. In Berlin fanden sich nach Angaben der Polizei nur noch etwa 2.000 Personen zu Kundgebung und Protestmarsch ein. Laut Veranstalter BVL sollen es 5.000 Personen gewesen sein. Selbst wenn man die im Vergleich zu den Angaben der Polizei stets nach oben abweichenden Teilnehmer:innenzahlen des BVL der letzten Jahre zum Vergleich heranzieht, wird deutlich, dass der „Marsch für das Leben“ nicht mehr an die Erfolge vergangener Jahre anknüpfen kann. Insbesondere 2019 und 2021 hatten mit 5.000 und 4.500 Personen nach Angaben der Polizei noch deutlich mehr Menschen am „Marsch für das Leben“ in Berlin teilgenommen (der BVL spricht von 8.000 bzw. 6.500).

Berlin, Köln, München: Eine kleine Szene trifft sich

Der „Marsch für das Leben“ zieht als Zentralveranstaltung der Lebensschützer-Szene in Deutschland nur noch wenige Menschen in die Hauptstadt. Dort droht dem „Marsch für das Leben“ ein Schattendasein neben zahllosen anderen Kundgebungen und Demonstrationen, die alltäglich stattfinden – zumeist, ohne dass Medien und Öffentlichkeit von ihnen Notiz nehmen. Ein Zeichen dafür ist auch die geringe Mobilisierung auf Seiten der Gegner:innen des Marschs: Am „Aktionstag für sexuelle Selbstbestimmung“ von mehreren feministischen Gruppierungen nahmen laut Polizei Demonstrierende „im mittleren dreistelligen Bereich“ teil.

In Köln ist die Bilanz noch destaströser: Zum zweiten Mal nach 2023 lud der Bundesverband Lebensrecht zeitgleich zur Berliner Veranstaltung auch in die Domstadt am Rhein ein. Wohl als näher gelegene Alternative zur langen Anreise nach Berlin aus Süd- und Westdeutschland gedacht, kannibalisieren sich beide Märsche offenbar. Im „heiligen“ Köln wird zudem zahlenmäßig stärker gegen den „Marsch für das Leben“ protestiert als in der Hauptstadt. Im vergangenen Jahr sprach der BVL noch von 2.800 Teilnehmer:innen in Köln, die Polizei sah am Samstag noch „rund 2.000″, denen ein Gegenprotest von „deutlich mehr als 2.500 Personen“ vom „Bündnis Pro Choice Köln“ gegenüberstand. Der Marsch wurde mehrfach blockiert und musste seine Route ändern. Am Rande kam es, wie auch im Vorjahr, zu kleineren Auseinandersetzungen zwischen Gegenprotestierenden und der Polizei.

Bereits im März hatte in München ebenfalls ein „Marsch fürs Leben“ stattgefunden, der nach Polzeiangaben von ca. 3.900 Personen besucht wurde. Die Polizei verhinderte in der bayerischen Landeshauptstadt Zusammenstöße zwischen den Teilnehmer:innen und den gut 100 Gegendemonstrant:innen. Der Münchener Marsch profitierte von Besuchern aus dem nahen Österreich. Ein Vergleich der Teilnehmer:innenzahlen der Märsche in Berlin, Köln und München zeigt, wie klein die mobilisierungsfreudige Szene der Lebensschützer in Deutschland tatsächlich ist. Lebensschutz-Aktivisten reisen von Kundgebung zu Kundgebung. Mehr als 4.000 Menschen gingen in den vergangenen drei Jahren nie zugleich für den Lebensschutz und gegen Abtreibungen auf die Straße.

Ein PR-Desaster in zwei Akten

„Marsch für das Leben“ und Gegenproteste existieren inzwischen in einem symbiotischen Gespann. Regionale und konfessionelle Medien berichten aus Gewohnheit oder Eigeninteresse. Konservative, rechtsradikale und rechtskatholische Medien übernehmen weitgehend die Selbstdarstellung des BVL, während linke Medien – wie das ND – über den erfolgreichen Gegenprotest berichten. Lokalzeitungen wie der Kölner Express versuchen aus kleinen und kleinsten Vorfällen boulevardesk Drama zu generieren, das online zu Klicks und Likes verleiten soll. Außerhalb der Aktivist:innen-Kreise nimmt vom alljährlichen Theater sonst kaum noch jemand Notiz.

Dem ureigensten Zweck, nämlich in der Gesellschaft für die eigenen Anliegen zu werben und den im deutschsprachigen Raum vor allem online aktiven Akteur:innen im öffentlichen Raum eine Stimme zu geben, dienen die „Marsch für das Leben“-Demos ganz offenbar nicht mehr. Die geringe Mobilisierung ist auch deshalb überraschend, weil die Bundesregierung mit ihren Inititativen zur Reform der Abtreibungsgesetzgebung der Lebensschutz-Bewegung eigentlich eine denkbar einfache Vorlage geliefert hat.

Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hatte bereits im Jahr 2022 das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche (§ 219a StGB) abgeschafft. Außerdem wurde eine „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ eingesetzt, die im Frühling 2024 ihren Abschlussbericht vorgelegt hatte. Dass die Empfehlungen der Kommission noch in dieser Legislatur zu Reformen führen werden, gilt unter Beobachter:innen zwar als unwahrscheinlich, aber mit der Angst vor der Entkriminialisierung des Schwangerschaftsabbruchs müsste die Lebensschutz-Bewegung eigentlich mobilisieren können. Im Vorfeld ähnlicher Gesetzgebungsvorhaben waren in Spanien, Frankreich und Polen jeweils hundertausende Menschen in großen Demonstrationszügen auf die Straßen gegangen.

Ein Grund für die momentane Schwäche der Bewegung in Deutschland dürfte in der weitgehenden Abkehr der Kirche von den Veranstaltern zu finden sein. In Polen und Frankreich rufen Bischöfe regelmäßig zu Demonstrationen gegen „Genderismus“ und Liberalisierungen der Abtreibungsgesetzgebung auf. Der Liebesentzug, insbesondere durch die römisch-katholische Kirche, bekommt dem „Marsch für das Leben“ in Deutschland nicht gut.

Kein schöner Gruß

Nur noch zwei römisch-katholische Ortsbischöfe haben am vergangenen Wochenende am „Marsch für das Leben“ teilgenommen. Bischof Rudolf Voderholzer aus Regensburg, der im vergangenen Jahr beim gemeinsamen Marschieren mit Rechtsextremen abgelichtet wurde, und Bischof Gregor Maria Hanke aus Eichstätt reisten zum Berliner Marsch an. Dort waren auch die Weihbischöfe Matthias Heinrich (Erzbistum Berlin), Josef Graf (Bistum Regensburg) und Florian Wörner (Bistum Augsburg) zugegen. Wörner zelebrierte die Messe im Vorfeld der Kundgebung. In Köln nahm Weihbischof Dominikus Schwaderlapp (Erzbistum Köln) als einfacher Teilnehmer an Kundgebung und Marsch teil.

In Berlin sprach als Hauptredner der Veranstaltung Pablo Muñoz Iturrieta, ein rechtsradikaler Aktivist mit Verbindungen zu neo-faschistischen Bewegungen in Nord- und Südamerika, der auf dem „Marsch für das Leben“ als „Ethikexperte“ angekündigt wurde. Seine Verkündigung ist geprägt von Fake News und Verschwörungsmythen. Er ruft zu einem „Kulturkampf“ gegen die liberalen Demokratien auf. Das gute Abschneiden der AfD bei der Landtagswahl in Brandenburg feierte er online als Erfolg. In den ersten Reihen des Marschs war in diesem Jahr auch die AfD-Politikerin Beatrix von Storch präsent.

Die Nähe zur AfD und die mangelnde Abgrenzung gegenüber rechtsextremen Akteur:innen aus Identitärer Bewegung und White-Pride-Bewegung, dokumentiert im Foto-Fauxpas um Bischof Voderholzer 2023 und seit Jahren von Expert:innen beschrieben, dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass Vertreter der römisch-katholischen Kirche auf Abstand zum Marsch und seinen Veranstaltern gehen. Im Frühjahr hatte sich die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) einstimmig gegen die AfD positioniert und von einer Wahl der Partei abgeraten (s. #LaTdH vom 25. Februar & 3. März 2024).

Die Abkehr der Kirche(n) vom „Marsch für das Leben“ wird vor allem offensichtlich, wenn man auf die Grußworte schaut, mit denen die Veranstalter in den vergangenen Jahren offensiv und selbstbewusst für sich warben. Zahlreiche Kirchenvertreter schrieben den Teilnehmer:innen Grüße auf – auch dann, wenn sie selbst nicht an den Demonstrationszügen teilnehmen konnten. Die Bischofskonferenz selbst veröffentlichte jedes Jahr eine, wenngleich recht lieblose und uninspirierte, nach dem Copy-und-Paste-Verfahren erstellte Grußbotschaft.

In diesem Jahr hat die DBK darauf zum ersten Mal verzichtet. Eine Bitte der Veranstalter nach einem offiziellen Grußwort sei bei der Bischofskonferenz nicht eingegangen, erklärte der Pressesprecher der DBK, Matthias Kopp, gegenüber der Kirche + Leben. Auf der Website des „Marsch für das Leben“ wird gegenwärtig überhaupt nur ein einziges Grußwort ausgestellt, nämlich der Brief des Apostolischen Nuntius in Deutschland, Erzbischof Nikola Eterović. In seinem Schreiben bedient der Papstbotschafter selbst rechtsradikale Verschwörungsmythen (wir berichteten).

Die Eule hat bei einigen Kirchenvertretern nachgefragt, die in den vergangenen Jahren Grußworte an die Teilnehmer:innen des Marschs übermittelt hatten. Das Erzbistum Köln bestätigte gegenüber der Eule, dass Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki in diesem Jahr kein Grußwort geschrieben hat. Ebenso das Bistum Speyer für Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Und auch die Evangelische Allianz (EAD) teilte auf Nachfrage der Eule mit, dass es in diesem Jahr weder ein gesprochenes noch geschriebenes Grußwort des Netzwerks der evangelikalen Bewegung gibt. Der Generalsekretär der EAD, Reinhardt Schink, sei in Köln dabei gewesen, habe dort aber nicht gesprochen. Ein Sprecher einer evangelischen Freikirche erklärte gegenüber der Eule, es habe wohl eine Bitte um ein Grußwort gegeben, aber man sei „auf Grund vieler Termine und Verpflichtungen“ nicht dazu gekommen, dieser Bitte nachzukommen.

Bischof Voderholzer als Katalysator

Beim „Marsch für das Leben“ hatte sich auch in den vergangenen Jahren stets nur eine kleine Minderheit der am Lebensschutz interessierten Menschen aus den Kirchen versammelt. Die beständige Berichterstattung über die „Unterwanderung“ der Bewegung durch Rechtsradikale trägt womöglich nach Jahren des Ignorierens solcher Warnungen durch die Bischöfe Früchte. Zur Besinnung beigetragen hat sicher die neuerliche Aufmerksamkeit für den Extremismus der AfD, aber im besonderen das Agieren eines einzelnen katholischen Bischofs.

Bischof Rudolf Voderholzer sorgte im Jahr 2022 dafür, dass die rechtsradikalen Umtriebe auf den „Marsch für das Leben“-Demonstrationen in der römisch-katholischen Kirche unbestreitbar aktenkundig wurden: Während einer Aussprache bei der 4. Vollversammlung des Synodalen Weges lud er die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, und die Teilnehmer:innen der Vollversammlung explizit zum nächsten Marsch ein. Diese Einladung provozierte mehrere junge Mitglieder des Synodalen Weges dazu, im Plenum über den Charakter des „Marsch für das Leben“ aufzuklären (wir berichteten).

Ein Jahr später wurde Voderholzer dann auf dem Marsch in Berlin neben einem Teilnehmer fotografiert, der das White-Power-Zeichen in die Kamera zeigte. Das Bistum Regensburg distanzierte sich auf X auch im Namen von Voderholzer „von diesem Foto“. „Leider mischen sich unter die friedlichen Teilnehmer auch Menschen mit unredlichem Gedankengut“, erklärte das Bistum weiter. Auf dem Foto sind auch weitere römisch-katholische Priester zu sehen, die allesamt offenbar blind dafür waren, wer sich da „unter die friedlichen Teilnehmer“ gemischt hatte.

Womöglich haben das Presseecho auf das Bild und die kontinuierliche Berichterstattung über den „Marsch für das Leben“ in den vergangenen Jahren nun in den Bistümern dafür gesorgt, sich von den Veranstaltern deutlicher distanzieren zu wollen. Bemerkenswert ist, dass auch Bischöfe wie Stefan Oster (Passau), Bertram Meier (Augsburg) und Wolfgang Ipolt (Görlitz), denen der Lebensschutz ein großes Anliegen ist, nicht mehr im Umfeld des Marsches in Erscheinung treten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Versuch Rudolf Voderholzers, den Marsch weiter zu popularisieren, daran mittelbar wohl einen erheblichen Anteil hat.

Ist die Lebensschutz-Bewegung am Ende?

Der Bedeutungsschwund des „Marsch für das Leben“ gerade in einer Zeit, in der in der Berliner Politik über das weitere Vorgehen bei der Abtreibungsgesetzgebung diskutiert wird, ist bemerkenswert. Womöglich haben Politiker:innen der Ampel-Koalition und der Unionsparteien das Verhetzungspotential einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung und „Entkriminalisierung“ des Schwangerschaftsabbruchs massiv überschätzt. Aus Sorge davor, die AfD könne das Thema als weiteren „Triggerpunkt“ identifizieren, hatten die zuständigen BundesministerInnen Buschmann (Justiz, FDP), Lauterbach (Gesundheit, SPD) und Paus (Familie und Frauen, Grüne) bei der Präsentation der Ergebnisse der Regierungskommission (s.o.) explizit keine Gesetzesnovellen angekündigt (s. #LaTdH vom 21. April 2024).

Die AfD hat mit der fortgesetzten Hetze gegen Flüchtlinge und Migrant:innen – also jenseits komplizierter ethisch-moralischer Fragen wie dem Schwangerschaftsabbruch – ohnehin ein einträgliches Thema gefunden, das ihr große Wahlerfolge beschert. Ein verstärktes Interesse zum Schulterschluss mit rechten Christen gibt es in der Partei derzeit nicht. Der christlich-reaktionäre Parteiflügel um Beatrix von Storch ist in der Partei zunehmend marginalisiert. Die AfD ist in der Kirche nachhaltig in Verruf geraten und zeigt selbst keine Bemühungen, auf kirchliche Akteur:innen vertrauensbildend zuzugehen.

Der Anti-Gender-Diskurs und radikale Abtreibungsgegnerschaft sind als frauen- und LGBTQI+-feindliche Narrative enttarnt worden. Daran hat auch die Bildungsarbeit in den Kirchen und der Theologie einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Nicht zuletzt wollen sich offenbar auch viele Christ:innen, die ein hohes Interesse am Thema Lebensschutz haben, weil sie gegen eine Liberalisierung der Sterbehilfe und für den Schutz von behinderten Menschen eintreten, nicht mit den kompromittierten Akteur:innen im Bundesverband Lebensrecht gemein machen. Mit ihrer Selbstbindung an rechtsradikale Bewegungen hat sich die Lebensschutz-Bewegung in eine Sackgasse manövriert.

Rechtsradikale Partner von einst aus der Identitären Bewegung und anderen neo-faschistischen Vereinigungen sind derweil weitergezogen. Nur die kleinste Minderheit, die zugleich katholisch-traditionalistisch tickt, vermag der „Marsch für das Leben“ noch zu begeistern. Der Großteil der Bewegung hat insbesondere im Internet andere Wege gefunden, anti-gender und anti-feministische Botschaften zu verbreiten. „Tradwife“-InfluencerInnen und der Diskurs über Frauen- und Familienbilder tragen auf TikTok, Instagram & Co. keine klaren konfessionellen Signaturen mehr, sondern drehen sich ganz im Sinne einer dem Anschein nach entpolitisierten Selbstverharmlosung darum, „wie Frauen zu sein haben“.

Der Beitrag der christlichen Lebensschutzbewegung zur Popularisierung dieser oftmals ahistorischen, gender- und frauenfeindlichen Narrative gerade unter jungen Menschen ist womöglich kleiner als gedacht. Jedenfalls ist in dieser Propaganda kaum mehr von einer „Theologie des Leibes“ (Papst Johannes Paul II.) und der „unantastbaren Würde des Menschen“ die Rede.

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