Das kann gut werden
Evangelische Kirche und Diakonie haben eine neue Richtlinie für die Anerkennung des Leides von Betroffenen sexualisierter Gewalt beschlossen. Zum 1. Januar 2026 soll das neue Verfahren stehen.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und Diakonie haben sich auf eine neue Richtlinie für einheitliche Anerkennungsleistungen für Betroffene sexualisierter Gewalt geeinigt (PDF-Download & FAQ). Wie die EKD heute mitteilte, haben auch der Rat der EKD und die Kirchenkonferenz (KiKo) der zuvor bereits im Beteiligungsforum (BeFo) beschlossenen Richtlinie zugestimmt. Die Richtlinie muss nun von den Landesverbänden der Diakonie und den evangelischen Landeskirchen umgesetzt werden. Zum 1. Januar 2026 soll es Betroffenen möglich sein, Anerkennungsleistungen nach dem neuen System zu beantragen.
Gelingen die Umsetzung in kirchliches Recht und die Einsetzung der neuen Kommissionen bis Januar 2026, werden Evangelische Kirche und Diakonie zwei Jahre nach Veröffentlichung der „ForuM-Studie“ zum ersten Mal überhaupt ein verlässliches, nach einheitlichen Standards funktionierendes System für die Zuerkennung von Anerkennungsleistungen haben. Zugleich wird es das fortschrittlichste und betroffenenfreundlichste Anerkennungsleistungssystem in Deutschland sein.
Detlev Zander, einer der Sprecher:innen der Betroffenen im Beteiligungsforum, zeigt sich nach der Verabschiedung der Richtlinie zufrieden: „Die neue Richtlinie ist das Ergebnis intensiver Verhandlungen, die durch vehementes Einfordern und der Forderung nach zügiger Umsetzung durch das Beteiligungsforum geführt wurden.“
Wie ist die Richtlinie entstanden?
Vorausgegangen waren der Verabschiedung eines neuen einheitlichen Systems für die Anerkennungsleistungen jahrelange Verhandlungen mit Betroffenen. Bereits der von der EKD im Jahr 2020 eingesetzte und 2021 ausgesetzte Betroffenenbeirat (wir berichteten) befasste sich mit der Vereinheitlichung der Leistungen in Anerkennung erlittenen Leids, die bis heute von den Landeskirchen und der Diakonie nach einer Vielzahl, häufiger defizitärer Ordnungen zugesprochen werden (wir berichteten).
In einer Arbeitsgruppe des im Juli 2022 gestartete Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt (BeFo, wir berichteten), in dem Betroffenenvertreter:innen mit Vertreter:innen aus Diakonie und Kirche gemeinsam beraten und beschließen, wurde bis Herbst 2024 ein Entwurf für die Richtlinie verhandelt. Dieser Entwurf wurde von Rat und Kirchenkonferenz zwar begrüßt, um jedoch die einhellige Zustimmung aller Landeskirchen sicherzustellen zunächst in ein sog. Stellungnahmeverfahren eingebracht. Im Rahmen eines solchen Verfahrens müssen alle Landeskirchen, d.h. insbesondere deren Jurist:innen, schriftlich zum Entwurf Stellung beziehen und können Veränderungswünsche und Bedenken einbringen.
Der um die Vorschläge der Landeskirchen ergänzte Entwurf, der durch das aufwendige Verfahren noch einmal an Rechtssicherheit und Qualität gewonnen haben soll, wurde dann im BeFo nochmals verabschiedet. Bei ihren Sitzungen in dieser Woche haben die Kirchenkonferenz der EKD, der die leitenden Geistlichen und Jurist:innen der 20 EKD-Gliedkirchen angehören, und der Rat der EKD der Richtlinie nun, nach Informationen der Eule, jeweils einstimmig zugestimmt.
Wie auch bei anderen gesamtkirchlichen Reformvorhaben – z.B. der Klimaschutzrichtlinie – stellt die Richtlinie kein geltendes Kirchenrecht dar, sondern muss von den EKD-Gliedkirchen und Diakonischen Landesverbänden zunächst in ein neues Kirchengesetz überführt werden. Diese Gesetze sollen dann für die jeweilige Landeskirche, ihre diakonischen Werke und auch für die Jugendverbände gelten. Prinzipiell haben die gesetzgebenden Organe der Landeskirchen (die (Landes-)Synoden) Spielraum, wie sie Richtlinien adaptieren, in einer umfassenden Erläuterung der neuen Richtlinie wird ihnen jedoch eine „unveränderte Übernahme des Texts empfohlen“.
Was steht in der Richtlinie?
Die Anerkennungsrichtlinie regelt Verfahren und Umfang der Anerkennungsleistungen, die wegen der „besonderen Verantwortung der Institution gegenüber betroffenen Personen“ zugesprochen werden können. Der Richtlinie liegt dabei die Definition von sexualisierter Gewalt aus der EKD-Gewaltschutzrichtlinie zugrunde, die auch Taten umfasst, die nicht vom Strafrecht umfasst werden (wir berichteten). Und ausdrücklich ist in ihr auch festgehalten, dass Menschen aufgrund von Unterlassen, z.B. von Dienst- oder Aufsichtspflichten, zu Betroffenen sexualisierter Gewalt werden konnten und können.
„Anerkennung des erlittenen Leides“
Beim Anerkennungsleistungsverfahren handelt sich nicht um ein Entschädigungsverfahren, in dem Betroffene Tat und Folgen beweisen müssten, sondern um „ein Verfahren eigener Art“, das Kirche und Diakonie aus „Verantwortung für das Unrecht“, das Betroffenen zugefügt wurde, und „aufgrund des Fehlens geeigneter staatlicher Systeme“ einführen.
Betroffene sollen die von ihnen erlittene sexualisierte Gewalt nicht nachweisen müssen, ihre Schilderungen, z.B. von beschuldigter Person, Tatort, Tatzeit und Tathergang, werden nur auf ihre Plausibilität hin überprüft. Die Plausibilitätsprüfung soll sogar ganz entfallen, wenn die Tat bereits in staatlichen oder kirchlichen Verfahren nachgewiesen wurde oder die betroffene Person Entschädigungsleistungen erhält.
Anträge können der neuen Richtlinie zufolge von allen Menschen gestellt werden, die in Gemeinden, Einrichtungen und Werken der evangelischen Landeskirchen und der Diakonie von sexualisierter Gewalt betroffen waren. Das Alter der betroffenen Person zum Tatzeitpunkt ist dabei genauso unerheblich wie die Strafbarkeit der Tat zum Tatzeitpunkt oder heute. „Hinzu kommt, dass endlich auch nicht-verjährte Fälle in den Kommissionen behandelt werden können“, erklärte Nancy Janz, Sprecherin der Betroffenen im BeFo.
Auch Betroffene, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt Anerkennungsleistungen beantragt und/oder erhalten haben, können erneut Leistungen beantragen. Diese können sowohl eine weitere individuelle Prüfung ihres Falles beantragen als auch, im Falle einer Strafbarkeit der Tat, eine Aufstockung ihrer bisherigen Leistungen.
Betroffene sollen ihren Antrag mit einem bundesweit einheitlichen Formular und einer schriftlichen Schilderung der Tat und ihrer Folgen stellen können. In dem neuen Verfahren haben Betroffene auch das Recht auf eine persönliche Anhörung bei der Kommission, bei der sie sich von einer Vetrauensperson begleiten lassen können. Sie dürfen sich auch von einer von ihnen bevollmächtigten Person vertreten lassen.
Dieses Verfahren räumt Betroffenen deutlich mehr Rechte bei der Mitwirkung am Verfahren ein als das seit dem Jahr 2021 bestehende Pendant in der römisch-katholischen Kirche. Bei der bundesweiten Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) werden Leistungen, trotz anhaltender Kritik von Betroffenen, einzig auf Grundlage einer schriftlichen Schilderung zugesprochen. Ein weiterer Lernfortschritt im Vergleich zur katholischen Kirche ist die in der EKD-Richtlinie von Beginn an implementierte Möglichkeit einer erneuten Prüfung („Gegenvorstellung“) und eines Widerspruchs (bei der UKA erst seit 2023 möglich).
Neue Kommissionen in regionalen Verbünden
Die Beantragung soll bei Kommissionen erfolgen, die von den Landeskirchen und diakonischen Landesverbänden in neuen Verbünden eingerichtet werden. Die bisherigen Kommissionen in den evangelischen Landeskirchen und der Diakonie werden bei Inkrafttreten der neuen Regelung aufgelöst. Vorbild für den Zuschnitt der Verbünde sind die Unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAK), die sich in diesem Frühjahr konstituieren sollen. Demnach soll es also ab 1. Januar 2026 für den gesamten Bereich der Evangelischen Kirche und Diakonie neun regionale Kommissionen für die Prüfung von Anerkennungsleistungen geben.
Die Kommissionen müssen aus mindestens drei Personen bestehen, von denen eine Person die Befähigung zum Richteramt und eine Person eine traumatherapeutische Ausbildung haben muss. Mitarbeiter:innen von Diakonie und Kirche dürfen nicht Mitglied einer Kommission werden. Ein entscheidender Fortschritt zu Kommissionen für Anerkennungsleistungen, wie sie bis heute in den evangelischen Kirchen bestehen. Ehemalige Mitarbeiter:innen und nicht bei der Kirche beschäftigte Kirchenmitglieder dürfen Mitglied in einer Kommission werden.
Neues Modell für Anerkennungsleistungen
Wie bereits seit anderthalb Jahren diskutiert, sollen sich die neuen Anerkennungsleistungen aus zwei Komponenten zusammensetzen:
Einer individuellen Leistung, die die Tat, ihre Folgen sowie das Verhalten der Institution berücksichtigt. Die Leistungshöhe soll sich – wie bereits bisher – an den Entscheidungen von Zivilgerichten in vergleichbaren Fällen orientieren. Eine Obergrenze soll es dabei nicht geben. In die individuelle Bewertung sollen auch erlittene Traumata und eine Würdigung des „Unrechts“ eingehen, das Betroffene durch „durch den Umgang der Institution mit der Tat“ erlebt haben, heißt es in der Begründung zur neuen Richtlinie, die der Eule vorliegt.
Wenn die Tat zum Tatzeitpunkt und/oder zum Zeitpunkt der Kommissionsentscheidung eine Straftat darstellt(e), soll zudem eine pauschale Leistung von 15.000 Euro gezahlt werden. Betroffene, denen in vormaligen Verfahren trotz der Strafbarkeit der an ihnen verübten Taten nur (Pauschal-)Beträge von 5000 Euro zugesprochen wurden, können mit dem neuen Verfahren also auf eine erhebliche Aufstockung hoffen.
Da die individuellen Leistungen nicht mit den pauschalen Leistungen verrechnet werden sollen, werden sich die Gesamtbeträge der Anerkennungsleistungen mit der neuen Richtlinie insgesamt wohl deutlich erhöhen. Alle zugesprochenen Leistungen sollen je nach Wunsch der betroffenen Person als Einmalzahlung oder in Teilbeträgen (vulg. Ratenzahlung) ausgezahlt werden können. Im Sterbefall können zuvor benannte Angehörige die Leistungen erhalten. Die Leistungen werden nicht auf Sozialleistungen angerechnet.
Es könnte gut werden
Mit der neuen Richtlinie sei die „Grundlage“ gelegt, „um endlich den nicht hinnehmbaren Zustand zu beenden, dass Anerkennungsverfahren für ähnliche Taten in verschiedenen Landeskirchen zu verschiedenen Ergebnissen führen“, erklärte die Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, zur Verabschiedung der Richtlinie im Rat. „Es kommt nun vor allem auf eine einheitliche und flächendeckende Umsetzung der Standards der Richtlinie an,“ mahnt Rüdiger Schuch, der Präsident der Diakonie Deutschland, und hofft: „Wir werden mit allen verantwortlichen Personen hierfür die notwendigen Entscheidungen veranlassen. Mit vereinten Kräften und einem klaren Ziel kommen wir so einem einheitlichen Vorgehen einen großen Schritt näher.“
Noch aber ist es nicht soweit und der auf Betreiben der Betroffenenvertreter:innen im Beteiligungsforum hin gesetzte Stichtag 1. Januar 2026 ist mindestens ambitioniert. Das Heft des Handelns liegt nun bei den 20 evangelischen Landeskirchen und den Landesverbänden der Diakonie.
Mit dem heutigen Tag endet für die EKD-Organe und insbesondere das Beteiligungsforum (BeFo) eine Zeit intensiver Verhandlungen, in der – wie die Betroffenensprecher:innen immer wieder betonen – auch heftig gestritten wurde. Bei ihren Berichten auf den EKD-Synodentagungen 2023 und 2024 warben die BeFo-Mitglieder immer wieder um Geduld, gute Lösungen bräuchten Zeit. Die heute veröffentlichte Anerkennungsrichtlinie setzt dieses Vorgehen ins Recht.
Die Forderungen vieler Betroffener nach einem einheitlichen Verfahren, mehr Rechten bei der Antragsstellung und nach einer deutlich spürbaren finanziellen Anerkennung ihres Leides wurden im BeFo und auf den Leitungsebenen von Kirche und Diakonie gehört. Viele der nun verabredeten Regelungen wurden schon seit über zwei Jahren diskutiert, wie z.B. das Recht auf ein Gespräch vor der Kommission und die zwei Säulen der Anerkennungsleistungen. Weitgehend haben sich hier die Betroffenenvertreter:innen durchgesetzt. Was Rat und Kirchenkonferenz der EKD beschlossen haben und nicht zuletzt auf dem Weg des Stellungnahmeverfahrens von den Landeskirchen bereits ausführlich mitberaten wurde, darf nun auf landeskirchlicher Ebene nicht zerredet oder verwässert werden.
Die Landessynoden der 20 evangelischen Landeskirchen stehen nun vor der Herausforderung, die Richtlinie in geltende Kirchenrecht zu überführen. So sie dies erst auf ihren regulären Herbsttagungen machen wollen, muss in den Landeskirchen in enger Abstimmung mit ihren diakonischen Werken parallel an der Aufstellung der Kommissionen und ihren Geschäftsstellen gearbeitet werden: Geschäftsleitungen und Kommissionsmitglieder müssen gesucht, gefunden und geschult werden. Nicht zuletzt müssen die neuen Verbünde sich bezüglich der Antragsbewertung und Öffentlichkeitsarbeit koordinieren. Ist dies alles bis Januar 2026 zu schaffen?
Wenn es klappen sollte, würde die Evangelische Kirche all jene, die in ihrem Föderalismus vor allem ein Relikt vergangener Zeiten und Managementproblem sehen, Lügen strafen. Es wäre auch ein Zeichen dafür, dass Kirche und Diakonie den versprochenen Kultur- und Strukturwandel in Sachen Aufarbeitung wirklich anpacken.
Zeit wäre es, zwei Jahre nach Veröffentlichung der „ForuM-Studie“, sowieso längst. Und nicht ohne Beispiel: Mit der Implementierung des Beteiligungsforums quer zu allen kirchenrechtlichen Regelungen und kirchenamtlichen Gewohnheiten ist der Evangelischen Kirche bereits einmal ein gewaltiger Sprung gelungen. Wie man heute sieht, zahlt sich das aus.
Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.
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