Der letzte Feind: Sterben während Corona
60 000 Menschen sind in Deutschland an Covid-19 verstorben. In der Corona-Pandemie rücken uns Tod und Sterben bedrohlich nahe. Was bedeutet das für die Frage nach dem guten Sterben?
Seit wenigen Tagen diskutieren vornehmlich evangelische Theolog:innen über den Umgang mit dem assistierten Suizid. Zwei Gruppen von Bundestagsabgeordneten haben darüber hinaus inzwischen Vorschläge für eine gesetzliche Neuregelung gemacht. Das alles ist notwendig, weil das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das seit 2015 geltende Verbot der „geschäftsmäßigen“ Suizidassistenz für nichtig erklärt hat.
Seitdem ist klar, dass sowohl der Gesetzgeber als auch die Wohlfahrtsverbände erneut klären müssen, wie mit dem assistierten Suizid verfahren werden soll. Darum sind auch die Kirchen gefragt. Für Caritas und Diakonie ist nicht allein entscheidend, auf welcher gesetzlichen Grundlage sie agieren, sondern welchen Ethos Patient:innen, Pflegeheimbewohner:innen und ihre Angehörigen von diakonischen Einrichtungen erwarten können.
Sowohl die politische als auch die kirchliche Diskussion über die Hilfe beim Suizid wurde nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor einem Jahr hinausgezögert. Die Corona-Pandemie bestimmte in beiden Systemen die Diskussionen und den Arbeitsalltag, das Thema Suizidassistenz blieb in der Schublade. Tatsächlich wird den Initiator:innen der Diskussion, die nun während der zweiten Welle der Pandemie geführt wird, von einigen Debattenteilnehmer:innen vorgeworfen, die Frage nach der Hilfe beim Suizid würde zum falschen Zeitpunkt gestellt.
Isolde Karle, die mit ihrem Beitrag in der FAZ die Debatte evangelischerseits angestoßen hat, stellt hingegen im Interview mit der Eule fest, das Thema komme „immer zur Unzeit, ist immer unangenehm“. Tatsächlich stellt sich die Frage nach dem guten Sterben während der Pandemie nicht weniger drängend, sondern hat an Bedeutung gewonnen. Pandemie und Diskussion finden dabei in einer Gesellschaft statt, die sich Tod und Sterben vom Leib halten will. Das gilt für die gesellschaftliche Auseinandersetzung, aber auch ganz praktisch.
Sterben am Rand der Gesellschaft
Die (zumeist) hervorragende Pflege am Lebensende, die in Deutschland in Krankenhäusern und Pflegeheimen unter schwierigen Umständen geleistet wird, ist ein zivilisatorischer Fortschritt, der jedoch auch dazu geführt hat, dass Sterben und Tod in der arbeitsteiligen Gesellschaft aus den Familien outgesourced wurde. Immer weniger Menschen nehmen an der Pflege sterbender Menschen aktiv teil, sind auch nach dem Tod in die anstehenden Aufgaben praktisch involviert. Ein Besuch beim Bestatter für die nötigen Absprachen und eine Trauerfeier, darin erschöpft sich für nicht wenige die praktische Trauerarbeit.
Eine bittere Realität ist es, dass viele Pflegeheimbewohner:innen schon vor den Besuchsverboten nur selten Besuch von Angehörigen bekamen. Pfarrer:innen, die vor Ort für die Seelsorge in Pflegeheimen zuständig sind, berichten, dass es nur wenig Nachfrage nach Besuchen gibt. Das Leben in Pflegeheimen bleibt der restlichen Gesellschaft wie sonst auch verborgen. Das Sterben dort ist häufig ein einsames, der soziale Tod geht dem Ableben manchmal Jahre voraus.
Während der Corona-Pandemie rücken an den Rand gedrängte Orte wie Pflegeheime und Friedhöfe in den Fokus, und damit auch die Menschen, die an ihnen leben und arbeiten. Das möchte man jedenfalls meinen. Tatsächlich umgehen auch in der Pandemie viele Menschen den unangenehmen Themenkomplex. Das gilt auch für die Kirchen. Die Corona-Toten und ihre Angehörigen spielen nach wie vor eine untergeordnete Rolle im Vergleich mit anderen, insbesondere binnenkirchlichen Themen wie dem Gottesdienst.
Die Beschäftigung mit den Toten, ihren Angehörigen und den Folgen für Mitarbeiter:innen in der Diakonie wird, symptomatisch für die todesvergessene Gesellschaft, an die Betroffenen selbst delegiert. Natürlich können sich Kirchen und christliche Wohlfahrtsverbände nicht monothematisch nur auf die Sterbenden fokussieren. Andere soziale und gesellschaftliche Folgen der Krise bedürfen der Aufmerksamkeit von Theologie, Kirche und Diakonie-Praktiker:innen. Ein kurzer Blick über die Pressemitteilungen der Diakonie Deutschland zeigt: Die Krisenfolgen werden in ihrer Breite verstanden und bearbeitet.
Die Realität des Sterbens in Krankenhäusern und Pflegeheimen bleibt hingegen vielen Menschen verborgen. Auch die zahlreichen Meldungen über Infektionen in Pflegeeinrichtungen haben daran wenig geändert. Das Sterben findet eben nicht daheim, sondern an Orten statt, die dafür „zuständig“ sind. Nur selten, wie im Falle des Hanns-Lilje-Heims in Wolfsburg findet eine intensive mediale Auseinandersetzung statt, die es vermag, breitere Teile der Gesellschaft für das Schicksal der Heimbewohner:innen und Mitarbeiter:innen zu interessieren.
Das Schicksal der Pflegeheime
Vorausgegangen waren in Wolfsburg jedoch Medienberichte, die das Sterben im Heim unnötig skandalisierten. Im Frühjahr 2020 wussten wir in der Tat noch viel weniger als jetzt darüber, wie man sich mit dem Virus infizieren kann und wie die Covid-Erkrankung verläuft. Notwendige Schutzausrüstung blieb über Wochen Mangelware. Für ein System, das sowieso schon am Anschlag läuft, eine kaum zu bestehende Herausforderung.
Noch heute gilt allerdings viel zu häufig: Hast Du das Virus erst einmal in der Einrichtung, dann wird gestorben. Der Plan, die Pflegeheime zu isolieren und die Bewohner:innen damit vor einer Infektion zu schützen, während die restliche Bevölkerung „normal“ weiterlebt, ist insbesondere dort wo er eine Zeit lang politisch verfolgt wurde, in Schweden und Großbritannien zum Beispiel, spektakulär gescheitert. Die sozialen und gesundheitlichen Langzeitfolgen einer langen Isolation sind dabei noch nicht einmal mit eingerechnet. In Schweden, dessen „Modell“ monatelang als Gegenentwurf zur deutschen Regierungspolitik propagandiert wurde, durften Angehörige erst Anfang Oktober wieder in die Pflegeheime.
Das Infektionsgeschehen in den Pflegeheimen treibt bis heute die Inzidenzwerte insbesondere in ländlichen Landkreisen in die Höhe. Die Ansteckungen in Pflegeheimen und an anderen Orten, wo gefährdete Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen, wie Flüchtlingsunterkünften, sind mitursächlich für die Einschränkungen, die wir alle auf uns nehmen müssen. Wir haben nach einem Jahr Corona-Pandemie keinen anderen Weg gefunden als die kollektive Kraftanstrengung eines „Lockdowns“ und das „Herausimpfen“ aus der Krise, um dem Sterben an Covid-19 Einhalt zu gebieten. Vielleicht gibt es auch keinen anderen.
Darum ist es beruhigend, dass wenigstens das Impfen gegen den Virus in den Pflegeeinrichtungen des Landes Fortschritte macht. Die Priorisierung der Heimbewohner:innen und -Mitarbeiter:innen nützt uns allen, denn sie wird mittelbar helfen die Inzidenzen zu drücken und damit eine schrittweise „Normalisierung“ des gesellschaftlichen Lebens ermöglichen.
Vom Pflegeheim ins Krankenhaus
Doch wäre es fatal, würden wir der Verlockung erliegen, auch die Realität des Sterbens aus dem kollektiven Bewusstsein „wegzuimpfen“. Jedes Menschenleben ist gleich viel wert, und darum auch erhaltenswert. Doch zeigt der Umgang mit Kranken und Sterbenden in den Pflegeheimen einen Mangel der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben an. Dafür stehen exemplarisch Schicksale wie das einer Patientin, die nur wenige Stunden nach Verlegung in ein Krankenhaus verstarb. Ihre Verlegung erfolgte, trotzdem sie Wiederbelebungsmaßnahmen und eine Intubation im Vorfeld ausgeschlossen hatte.
Immer wieder, so berichten es Pflegekräfte und Seelsorger:innen, werden Bewohner:innen kurz vor dem Sterben aus den Heimen in Krankenhäuser verlegt. Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe:
Zunächst einmal das ehrliche Bemühen darum, das Leben der Patient:innen zu erhalten. Der Krankheitsverlauf bei Covid-19 ist heimtückisch. Viele Patient:innen fühlen sich noch wohl, obwohl ihre Sauerstoffwerte schon kritisch sind. Die Erkrankung verläuft ruckartig und bedarf der permanenten Beobachtung. Das kann in Pflegeeinrichtungen mit Personalnot kaum geleistet werden.
Hinzu kommt: Auch unter Normalbedingungen werden Pflegeheimbewohner:innen häufig „für das Sterben“ in Krankenhäuser verbracht. Das dient nicht allein einem letzten Kampf gegen den Tod, sondern auch der Entlastung des Pflegepersonals, das die besondere Aufmerksamkeit für einen sterbenden Menschen häufig nicht leisten kann. Diese Dynamik hat sich in der Corona-Pandemie verschärft, da noch weniger (gesundes) Personal zur Verfügung steht. Die Sterbebegleitung ist ein personal- und ressourcenintensives Geschäft, dessen sich einige Pflegeeinrichtungen nicht selten entledigen.
Und noch ein dritter Beweggrund spielt nach Recherchen der Eule eine Rolle: Aus mehreren Städten und Landkreisen berichten Seelsorger:innen und Pflegekräfte davon, dass Bewohner:innen, die vermutlich sterben werden, in Krankenhäuser verlegt würden, um die Zahl der Todesfälle zu drücken, die mit der Pflegeeinrichtung assoziiert werden. „Todesheim“-Schlagzeilen, wie sie bei der BILD üblich sind, will man nicht riskieren. Eine hohe Sterbezahl gilt nach wie vor als Skandal, als Zeichen dafür, dass sich Träger und Mitarbeiter:innen „nicht richtig angestrengt“ hätten.
Auf diese Weise werden Heimbewohner:innen aus der ihnen vertrauten Umgebung gerissen, ihnen wird für wenige Stunden oder Tage eine intensive medizinische Behandlung zugemutet. Eine Verlegung ins Krankenhaus bedeutet außerdem, dass Angehörige nur im Ausnahmefall Zugang zu den Patient:innen erhalten. Um jedes Leben soll und darf gekämpft werden, doch zeigen diese Fälle deutlich, dass unsere Vorstellung vom guten Sterben eindimensional ist. Sie wird viel zu häufig allein durch die Möglichkeiten der modernen Medizin bestimmt.
Selbstbestimmt am Lebensende
Immer mehr Menschen in Europa werden immer älter und leben oft viele Jahre mit schweren Krankheiten in Pflegeheimen. Was soll mit mir oder meiner Oma oder meiner Mutter einmal geschehen, wenn in einer solchen Situation eine Lungenentzündung hinzukommt? Das ist sowieso schon nicht selten, weil vorerkrankte, alte und bettlägerige Menschen häufiger krank werden.
Für solche Situationen kann man zum Beispiel mit einer Patientenverfügung vorsorgen, und erleichtert damit den Pflegenden, Ärzten und Angehörigen die Entscheidung. Beim Einzug in ein Pflegeheim werden solche Entscheidungen heute eigentlich für alle Pflegenden und Ärzte festgehalten. Für eine Patientenverfügung gibt es Regeln, einmal ordentlich verfasst ist sie rechtlich bindend. Sie wahrt die Patientenautonomie selbst dann, wenn ich nicht mehr bei Bewusstsein bin.
Es geht nicht darum, das sei noch einmal deutlich gesagt, an Covid-19 erkrankte Pflegeheimbewohner:innen „einfach sterben zu lassen“. Eine differenzierte Auseinandersetzung damit, was gutes Sterben bedeutet, kann jedoch Betroffenen und ihren Angehörigen sowie den Mitarbeiter:innen einen anderen ebenso konstruktiven Umgang mit dem Sterben ermöglichen.
Der Verzicht auf eine Intensivbehandlung bedeutet nicht, dass weniger getan werden muss. Eine gute palliative Versorgung in der Pflegeeinrichtung erfordert vielmehr einen großen Ressourceneinsatz, den viele Einrichtungen unter den gegebenen Umständen nicht leisten können. Die Gründe dafür sind allerdings nicht allein im Pandemiegeschehen zu finden, sondern ebenso im Personal- und Finanzierungsmangel, der unter dem Schlagwort Pflegenotstand summiert wird.
Der letzte Feind
Befragt man Menschen – junge und alte, gesunde wie kranke – danach, wie sie sich ein gutes Sterben vorstellen, werden immer wieder ähnliche Wünsche formuliert: Schmerzfrei soll das Sterben sein, in einer vertrauten Umgebung geschehen und nicht einsam. Diese vielfach und doch leise geäußerten Wünsche spielen für unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Sterben eine zu geringe Rolle, nicht selten dominieren hier Nützlichkeitserwägungen und wirtschaftliche Zwänge.
In der Corona-Pandemie rücken uns Sterben und Tod bedrohlich nahe. Wieviel Leid am Lebensende muten wir einander zu? Wie können wir körperliche und psychische Schmerzen am Lebensende lindern, Sterbende und Hinterbliebene trösten?
In den vergangenen Tagen haben Kirchenvertreter:innen wie der EKD-Ratsvorsitzende Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm auf ein Bibelwort aus dem Ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth verwiesen: „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.“ (1. Kor 15,26). Andreas Heller, Professor für Palliative Care am Institut für Pastoraltheologie der Universität Graz, erinnert in einem Artikel bei feinschwarz.net daran, dass damit unmöglich gemeint sein kann, „den Tod besiegen zu können“. Paulus meint mit der Vernichtung des Todes nicht sein Aufschieben oder gar die Hybris eines endlosen irdischen Lebens, sondern die Auferweckung von den Toten: „Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind.“ (1. Kor 15,20)
Eine gewaltige Popularisierung hat das Pauluszitat von der Vernichtung des Todes als letztem Feind durch die Harry-Potter-Buchreihe erlebt. Es befindet sich auf dem Grabstein von Harrys Eltern, die durch ein Attentat zu Tode gekommen sind. Der Attentäter tötet, um sich selbst ein endloses Leben zu ermöglichen. Natürlich scheitert er. Weil er sich exzessiv an sein irdisches Leben bindet, nimmt er Schaden an seiner Seele, wird grausam und mörderisch.
Sich der eigenen Endlichkeit und der Vorläufigkeit allen Lebens bewusst zu werden, kann helfen, dereinst im Frieden zu gehen und andere gehen zu lassen. Dass es einen Unterschied macht, wie wir dem Tod begegnen, zeigen nicht allein die Beobachtungen von Sterbebegleiter:innen und Angehörigen, sondern ist inzwischen auch Forschungsgegenstand von Neurowissenschaft und Psychiatrie. Den Tod zu grüßen „wie einen alten Freund“, ist auch eine Frage der christlichen Lebenskunst. Denn darin wird dem Tod die Macht genommen, dass wir uns vor ihm nicht fürchten müssen. „Schließlich ist der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer.“