Am Rand – Die #LaTdH vom 18. Oktober

Wie müssen sich die Kirchen in Zukunft verändern, und hilft der allgegenwärtige Reformdruck? Außerdem: Bischofsschicksale, Drei Könige² und ein Versöhnungswunsch.

Debatte

In der Debatte präsentiere ich am heutigen Sonntag einen bunten Blumenstrauß von evangelischen Kirchennachdenklichkeiten, zusammengehalten vom schmalen Band namens „Reformdruck“. Fürchtet euch nicht! Auch wenn die Perspektiven auf den ersten Blick nur wenig verbindet, zeigt sich doch in der Zusammenschau ein zutreffendes Bild des deutschsprachigen Protestantismus:

Systemrelevanz und Resonanzkrise – Wolfgang Huber (zeitzeichen)

Der längste und komplexeste Beitrag stammt vom ehemaligen Bischof der EKBO und ehem. EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber (@Prof_Huber). Er liefert eine in meinen Augen sehr zutreffende Analyse der gegenwärtigen Situation des Protestantismus – aber auch ökumenische Beobachter:innen können sich hier was abgucken:

Die im kirchlichen Kontext üblich gewordene Aussage, die Kirchen seien „nicht mehr“ systemrelevant, läuft im Blick auf Herkunft und Verlauf der Debatte über Systemrelevanz vollständig ins Leere. Zwar weichen die zugänglichen Listen bei der Beschreibung der Branchen und ihrer besonders unentbehrlichen Tätigkeiten im Einzelnen voneinander ab. Aber eine Liste, in der die Kirchen zu den systemrelevanten Bereichen gehört haben und aus der sie entfernt wurden, gibt es nicht.

Die These, seit der Corona-Krise gehörten die Kirchen nicht mehr zum systemrelevanten Bereich, ist deshalb ein Beispiel für die protestantische Neigung zur Selbstverzwergung, die zu Unrecht von manchen sogar als Ausdruck christlicher Demut angesehen wird; es handelt sich jedoch eher um ein Beispiel für christlichen Masochismus.

Die Konsequenzen, die Huber aus seinem Analysedurchgang ableitet, sind leider ein wenig mono-dimensional auf den Gottesdienst (wieder als „Zentralveranstaltung“ der Christen?) beschränkt, aber immerhin klarer in ihrer Formulierung als die neuesten Elf-Leitsätze (Text). Bei Huber weiß man, woran man ist: Bei „Kirche der Freiheit“ (PDF).

Ganz unberechtigt ist die Frage nicht, was der jüngere Reformpapier-Jahrgang nun dem älteren eigentlich voraus hat – außer dass die 11 Leitsätze deutlich knapper daher kommen als das Reformpapier von 2006. Die „Kirche der Freiheit“ feiert 2020 tatsächlich schon Konfirmation. Sie werden so schnell groß!

Religion am Rand – Stephan Jütte (RefLab)

Mit einer speziellen Form des „christlichen Masochismus“ setzt sich Stephan Jütte (@StJutte), Leiter des RefLab (@ref_lab), ebenda auseinander: Was er für den schweizerischen Kontext beobachtet, findet sich so auch in den Religionsdebatten dieses Landes wieder.

Religion ist für viele zur Beilage geworden. Als Kultur bleibt sie geniessbar. Als Ideologie ist sie bitter. Vom Rand aus müsste es leicht sein, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Dort könnte Religion das leisten, was jede gute Beilage schafft: Die Hauptsache besser zur Geltung bringen. Die Hauptsache ist eine gemeinsame, auf Verständigung ausgerichtete Kultur.

Für mein Verständnis tastet sich Jütte ein my zu weit an die „Systemrelevanz“ heran, aber der Hinweis auf eine positiv zu verstehende „Randständigkeit“ der Kirchen ist wertvoll.

Drei Bilder statt elf Thesen – Thomas Jakob (Schwergläubig)

Auf ähnlichen Pfaden ist auch Thomas Jakob (@Thomas_Jakob) auf seinem Blog unterwegs, wo er den 11 Leitsätzen des EKD-„Z-Teams“ 3 Bilder entgegenstelt. Daraus:

Wir sprachen darüber, wie man sich sinnvoll verhält, wenn man beim Schwimmen im Meer in eine Strömung gerät. Nicht dagegen an kämpfen, weil man sich dabei erschöpft, sondern seitlich raus, oder sich treiben lassen und versetzt zurück schwimmen. Das passt sowohl für heutige Situation meiner Kirche als auch für mein Verhalten.

Was jetzt stattfindet, ist die Rückströmung aus einer Welle der Mitgliedergewinnung in einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Diese Strömung führt raus aus der geschützten steuerfinanzierten Badebucht der Volks- und Amtskirche mit -zig Mio. Mitgliedern. Das verursacht zunächst mal Ängste, besonders wohl bei denen, die bei Kirchens ihr Geld verdienen, aber natürlich auch bei Menschen, die das Gewohnte lieben und denen es Halt gibt. Aber es ist wohl auch hier nicht empfehlenswert, dagegen mit aller Energie anzukämpfen und sich dabei zu erschöpfen.

nachgefasst

Erzbischof Heße und die Kölner Gang

In der FAZ berichtet Daniel Deckers unter Rückgriff auf die Berichterstattung eines anderen Mediums ausführlich über den Fall des Hamburger Erzbischofs Stefan Heße, der im Zentrum der Diskussion über Verschleppung und Verhinderung der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen steht (wir berichteten). Und in der taz führt Philipp Gessler ein interessantes Interview mit dem Missbrauchs-Betroffenen und Ex-Priester Alf Spröde, der ebenfalls aus dem Kölner Erzbistum stammt und erzählt:

Es ist nicht an mir, einen Rücktritt, von wem auch immer, zu fordern, aber Heße hat als hochrangiger Vertreter des Systems definitiv Schuld auf sich geladen – und bisher ist noch kein Verantwortlicher oder gar Bischof wegen des Missbrauchsskandals zurückgetreten. Das wäre ein wichtiges Signal für die Opfer des Missbrauchs. Aber seine öffentlichen Äußerungen zu diesem Thema lesen sich zwischen den Zeilen zum Teil wie Drohungen: Wenn ich zurücktrete, packe ich aus und erzähle, wer noch alles im Erzbistum Köln in Sachen Missbrauch Schuld auf sich geladen hat.

Unter der Woche ist hier in der Eule eine Analyse der Diözesanbischöfe in Deutschland erschienen, die eine Grafik zu Kölner Karrierewegen enthielt.

Carsten Rentzing wird Beauftragter der VELKD für die lutherischen Kirchen in Mittel- und Ost-Europa (EVLKS)

Der ehemalige sächsische Landesbischof Carsten Rentzing hat nach seinem Rücktritt (wir berichteten) eine Wiederverwendung gefunden. In seiner neuen Funktion für die Vereinigte Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) wird er eng mit dem Martin-Luther-Bund zusammenarbeiten und deshalb auch vom Sitz des Bundes in Erlangen aus arbeiten. Für die auf sechs Jahre befristete Aufgabe wird Rentzing von der sächsischen Landeskirche (EVLKS) abgeordnet.

Er bleibt somit Pfarrer der EVLKS, die weiterhin für seine Besoldung aufkommt. Die Höhe der Besoldung entspricht den rechtlichen Bestimmungen, denen zufolge er nicht mehr das Gehalt eines Landesbischofs erhält, jedoch eine Zulage auf A 16 (vergleichbar mit dem Gehalt eines Chefarztes oder Kapitäns zur See).

Was immer noch aussteht: Eine öffentliche Erklärung seiner damaligen Verstrickungen in die Neue Rechte und des Umstands, warum er vor seinem Rücktritt so eine Salamitaktik, inkl. Verschweigen und Täuschung von Kolleg:innen, hingelegt hat.

Cardinal George Pell meets with Pope Francis for first time since child sexual abuse convictions quashed (Australian Broadcasting Corporation, englisch)

Die Bilder vom herzlichen Wiedersehen Papst Franziskus‘ mit Kardinal George Pell von Anfang der Woche müssen auf Missbrauchs-Betroffene in aller Welt wie der blanke Hohn wirken. Zwar wurde Pell schlussendlich und letztinstanzlich vom Vorwurf des Missbrauchs freigesprochen, an seiner Unschuld bestehen, nicht zuletzt in seiner Heimat Australien, aber Zweifel. In ihm gewinnt der Papst jedenfalls einen Mitstreiter gegen die Finanzschwurbeleien des Vatikans zurück. Na dann.

Buntes

Macht und Gewaltenteilung fängt in den Bistümern an – Felix Neumann (katholisch.de)

Felix Neumann (@fxneumann) hat auf katholisch.de Hebel ausfindig gemacht, um die gesetzgebende Gewalt der Bischöfe zu kontrollieren. Dabei handelt es sich um Reformen, die zwar eindeutig weniger sexy als die heißen Eisen des Reformkatholizismus sind, die aber in der Kirchenpraxis durchaus Relevanz haben:

Transparenz und Anhörungsverfahren für diözesanes Recht: Das sind zwei Vorschläge, die weder kirchenrechtlich noch ekklesiologisch problematisch sind, die ohne großen Ressourceneinsatz umgesetzt werden können – und die wirklich zur Gewaltenteilung beitragen. Es braucht nur Bischöfe, die bereit dazu sind – und Laien, die das einfordern.

EKD-Kulturbeauftragter kritisiert Debatte um schwarze Krippenfigur – Stephan Cezanne (epd, evangelisch.de)

Hoffentlich das letzte Wort in der leidigen Debatte um eine rassistische Krippenfigur im Ulmer Münster hat Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der EKD: Er lobt das besonnene Vorgehen der Verantwortlichen vor Ort, die über den weiteren Umgang mit der schwarzen Königsfigur, die rassistisch überzeichnet dargestellt wird, in Ruhe nachdenken und debattieren wollen, und kritisiert die skandalisierende Berichterstattung:

Großer Schwachsinn aber ist, dass einige Medien versuchen, aus der Ulmer Geschichte einen Skandal zu machen, und aufgeregt berichten, dass an Heilig Abend in Ulm die Weihnachtsgeschichte nach Lukas gelesen wird, weil darin die Heiligen Drei Könige nicht vorkommen“, so Claussen. An Heilig Abend werde aber immer die Weihnachtsgeschichte nach Lukas vorgelesen, „die nach Matthäus ist erst am 6. Januar dran“.

Diese „politisch inkorrekte Überreaktion“ zeige nur, dass die „meisten Menschen, sogar vermeintlich konservative, mit christlichen Traditionen gar nicht mehr vertraut sind und deshalb beim kleinsten Kram durchdrehen“.

Allen, die sich ausführlich mit Rassismus in der Kunst vor christlichem Hintergrund beschäftigen wollen, sei „Heft 126“ des Magazins Tà katoptrizómena anempfohlen, in dem sich Andreas Mertin (auch ein Eule-Autor) produktiv an meinem Artikel über christlichen Rassismus abarbeitet (besonders gut und passend hier).

Kindermissionswerk Sternsinger: „Wir empfehlen, die Kinder nicht zu schminken“ – Rudolf Gehrig (CNA)

Und weil wir gerade bei heute doppeldeutigen (und darum missverständlichen) europäischen Weihnachtstraditionen sind: Bis auf den Autor dieses kurzen Berichts, den „Chief Correspondent for German speaking Europe“ der Catholic News Agency (CNA) und EWTN-Redakteur Rudolf Gehrig (@RudolfGehrig) (mehr zu EWTN hier), haben – so hoffe ich – alle aufmerksamen Zeitgenoss:innen verstanden, was die Deutsche Bischofskonferenz auf Facebook noch einmal klarstellte:

In den Weihnachtskrippen zeigen die drei Weisen oder Könige, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und aus unterschiedlichen Völkern Christus verehren. Deshalb gibt es in vielen Krippen mit Melchior auch einen schwarzen Weisen oder König. Krippendarstellungen mit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe spiegeln die Vielfalt der Kirche wieder. […] „Wenn die Darstellung dieses Königs jedoch klischeehaft oder diskriminierend ist, sollte sie durch andere Darstellungen ersetzt werden, in denen dunkelhäutige Menschen sich wiedererkennen können“.

Damit ist vor allem das sog. „Blackfacing“ gemeint, das von People of Color nicht nur als Diskriminierung wahrgenommen wird, sondern auch schlechtes Schmierentheater ist. Die alte Tradition, erklärte die Sternsinger-Organisation, habe zwar ursprünglich nichts mit dem „Blackfacing“ zu tun gehabt,

„[g]leichwohl geht die Gleichsetzung von Hautfarbe und Herkunft heute nicht mehr auf. Wir glauben, dass der ursprüngliche Sinn der Tradition besser deutlich wird, wenn Kinder als Sternsinger so gehen, wie sie eben sind: vielfältig in ihrem Aussehen.“

Theologische Ausbildungsstätten im Spannungsfeld – Markus Till (Aufatmen in Gottes Gegenwart)

Während binnen weniger Tage an gleich zwei evangelikalen Bibelschulen Corona-Ausbrüche zu beklagen sind, widmet sich der evangelikale Blogger Markus Till (@Markus_Till) einem Missstand in der Lehre, die an den vielzähligen kleinen und kleinsten evangelikalen Ausbildungsstätten verabreicht wird, und dem er gerne abhelfen möchte. Ich sehe die Probleme ganz woanders als Till, aber von seiner Ehrlichkeit in der Analyse der Spaltung(en) innerhalb der evangelikalen Bewegung können sich viele eine Scheibe abschneiden.

Mein Wunsch ist: Bitte seid in Bezug auf eure Ausrichtung transparent gegenüber Spendern, Studenten und Gemeinden! Ich habe inzwischen zu viele Geschichten gehört von Studenten, die in Bezug auf die Lehrinhalte an ihrer Bibelschule völlig andere Erwartungen hatten.

Predigt

Jom Kippur und Mansfeld-Südharz – Margot Runge (Queerpredigen)

Margot Runge ist Pfarrerin in Sangerhausen im Mansfelder Land (von wo auch Luther stammte), ganz in der Nähe von Lutherstadt Eisleben, wo ich von 2016 bis 2019 gewohnt habe. In einer zugleich persönlichen wie politischen Predigt geht sie auf den Anschlag von Halle im vergangenen Jahr ein und auf die Bedeutung, die Versöhnung mit Gott auch für Christ:innen spielen kann:

Ein Versöhnungstag könnte auch uns gut tun. Ein Tag der Versöhnung und Reue, an dem wir über unsere kollektive Verantwortung nachdenken, um Verzeihung bitten und überlegen, wie wir uns als Gemeinschaft anders verhalten können. An so einem Tag könnten wir uns bewußt machen, wo unter uns Abwertung und Vorurteile gedeihen und welche Konsequenzen sie haben. Es gehört Mut dazu, wenn wir Schuld nicht auf einen einzelnen abschieben und ihn zum Täter machen, sondern uns eingestehen: wir alle haben versagt. Als Menschen im Landkreis, in unseren Dörfern und Städten, als Zivilgesellschaft.

Und in den Kirchengemeinden wollen wir uns damit auseinandersetzen, wie christliche Verkündigung zum Antisemitismus beigetragen hat, z.B. wie wir über Altes Testament reden, welche Klischees wir von Pharisäer*innen verbreiten. Und wir können überlegen, wie wir zukünftig so von Gott oder von Jesus reden, daß niemand abgewertet und diskriminiert wird.

Darum sei zum Schluss das Interview mit Klaus Holz, dem Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschlands, empfohlen, das wir am vergangenen Montag in der Eule gebracht haben. Darin werden die vielen unterschiedlichen antisemitischen Quellen innerhalb des Protestantismus ausführlich besprochen.

Ein guter Satz

Und es bedarf der Zuversicht und des Vertrauens auf Gottes Verheißungen.

– aus den „Elf Leitsätzen für eine aufgeschlossene Kirche“