Bild: Screenshot aus dem Propaganda-Film der ukrainischen Armee

Auf in den Heiligen Krieg?

Seit Kriegsbeginn unterstützt die Russisch-Orthodoxe Kirche unter Patriarch Kyrill den russischen Krieg in der Ukraine mit religiöser Propaganda. Nun wird auch von Seiten der Ukraine zum „Heiligen Krieg“ gerufen. Ein Kommentar.

Während man sich an die religiöse Begründung und Überhöhung des russischen Feldzugs gegen die Ukraine durch den Moskauer Patriarchen Kyrill und Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) fast schon gewöhnt hat, ist man dergleichen von Seiten der Ukraine bisher weniger gewohnt. Zwar gab es in den vergangenen Monaten dafür auch in der umfänglichen Bibliothek der ukrainischen Kriegspropaganda einzelne Beispiele, Memes und Reden, aber allein schon der Narrativ vom Kampf der Ukraine um ihre europäische Zukunft als Teil des Westens verunmöglichte wohl eine allzu affirmative Bespielung christlicher Kriegsmetaphorik.

Unter „dem Westen“ versteht man auch in Lwiw und Kiew die Gemeinschaft liberaler Demokratien, in denen Religion und Staat voneinander getrennt sind. Das Gemeinwesen westlicher Demokratien fußt sowohl auf der Mitwirkung der Religionen an Wohlfahrt, Bildung und Bewusstseinsbildung der Bürger:innen als auch auf der Tradition der dezidiert kirchenkritischen, säkular denkenden europäischen Aufklärung. Dass das Christentum aus seiner 2000-jährigen Geschichte genügend Bilder und Sprachformeln („deus vult“) mitführt, die man sehr wohl zur Motivation kriegsführender Truppen und zur Erbauung von Soldat:innen gebrauchen – und missbrauchen – kann, ist unbestritten.

Kyrill auf Kriegspfaden

Ein ungebrochen positives Verhältnis zu diesen Traditionsgehalten zeichnet weite Teile der russischen Orthodoxie und ihre Kirchenleitung um Patriarch Kyrill aus. In der Russisch-Orthodoxen Kirche wird ein Priester wie Ioann Kowal, der in einem Gottesdienst statt für den russischen Sieg in der Ukraine für den Frieden betete, aus dem Klerikerstand entlassen und geächtet. Wo sich überhaupt noch Menschen gegen den Krieg oder zumindest für einen baldigen Frieden positionieren, werden sie in der ROK rasch sanktioniert.

Das öffentliche Bild der ROK wird von Propagandisten wie dem Priester Andrej Tkatschow geprägt, von dem man tatsächlich nichts anderes als gotteslästerliche Hetze gewohnt ist. Ein Blick auf dieses kurze Video von Tkatschow aus dem russischen Fernsehen lohnt trotzdem, um sich das Ausmaß des Hasses vor Augen zu führen. Darin spricht er offen von der Vernichtung von „Unkraut“ in der Ukraine, natürlich nicht ohne zu Gebeten für einen russischen Sieg aufzufordern. Tkatschow wurde 1960 in Lwiw geboren, war einmal Leiter der Missionsabteilung der Kiewer Diözese der damals noch zum Moskauer Patriarchat gehörenden Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK). Seit 2014 lebt er in Moskau, um sich der Verfolgung durch die ukrainischen Behörden zu entziehen.

Im Heiligen Krieg gegen Russland?

Seit Samstag zirkuliert nun aber auch ein Musterbeispiel religiöser Kriegspropaganda aus ukrainischer Produktion durch die Sozialen Medien. Auf die Reise geschickt hat das Video General Valerii Zaluzhnyi, Commander-in-Chief der ukrainischen Streitkräfte. Allein auf seinem Twitter-Kanal wurde der kurze Film inzwischen 6 Millionen Mal abgespielt und über 75 000-fach geliked. So sieht ein Propagandaerfolg aus:

Der ganze Film ist ein einziges martialisches Gebet, in dem Segen für die eigenen Waffen erbeten wird: „Herr, himlischer Vater, segne uns!“ Ein heiliger Schwur im Stile eines liturgischen Wechselgesangs, aus vielen Mündern um Stärke und Waffengewalt, für die Zerstörung des Feindes und für einen „heiligen Sieg“. Nach der Veröffentlichung am Samstag fand das Video unter den Unterstützer:innen der Ukraine im Netz großen Anklang.

„Gott mit uns“, der alte Slogan preußischer und deutscher Armeen, hat sich offenbar immer noch nicht erledigt. Bereits die Soldaten Gustav Adolfs riefen ihn während des Dreißigjährigen Krieges, im deutschen Kaiserreich wurde der Spruch, der dem Juditbuch entwendet wurde, auf Münzen geprägt, die Reichswehr und Wehrmacht trugen ihn auf ihren Koppelschlössern. Es dauerte bis in die 1970er Jahre, bis er in der Bundesrepublik vollständig aus der staatlichen Verwendung genommen wurde.

Ein ökumenischer Konsens – oder nicht?

In diesen Tagen diskutieren Christ:innen über die richtige Haltung zum Ukraine-Krieg und über grundlegende friedensethische Überzeugungen. Kann es einen gerechten Krieg geben? Wann ist rechtserhaltende Gewalt auf dem Weg zu einem gerechten Frieden notwendig und gerechtfertigt? Welche Rolle sollen Christ:innen und Kirchen im Krieg spielen? (Zur Debatte um die Friedensethik mehr hier & hier in der Eule.)

Zugleich bemühen sich sowohl der Vatikan als auch der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK, Weltkirchenrat) um Vermittlung zwischen den Kriegsparteien oder doch zumindest zwischen den orthodoxen Kirchen in der Ukraine und Russland. Ein schwieriges Unterfangen, bei dem weder Papst Franziskus noch die Akteur:innen des ÖRK immer glücklich agieren (s. hier, hier & hier). Kritiker:innen weisen zu Recht darauf hin, dass die Vermittlungsversuche der Kirchen von Kyrill und der ROK als Propagandaerfolge ausgeschlachtet werden.

Jerry Pillay, der neue ÖRK-Generalsekretär, blickt aus einer dezidiert nicht-europäischen Perspektive auf den Krieg in der Ukraine, der ja keineswegs der einzige heiße Konflikt auf der Welt ist. Er legt Wert auf die Feststellung, der ÖRK vertrete als ökumenische Gemeinschaft keine „politischen“ Ziele, sondern höre allein auf Jesu Aufforderung zum Friedenstiften. Ob man Pillays Agieren nun als politisch naiv oder ungeschickt empfindet, oder gar als absichtliche Verharmlosung des Aggressors wahrnimmt, schlechte Absichten wird man ihm wie auch Papst Franziskus kaum unterstellen können.

Papst Franziskus hat offenbar vor, je einen hochrangigen Emissär nach Kiew und Moskau zu Gesprächen zu entsenden. Und der ÖRK will gerne im Oktober auf neutralem Boden im schweizerischen Genf, dem Sitz des Weltkirchenrates, einen „Runden Tisch“ mit den beiden ukrainischen orthodoxen Kirchen und der ROK durchführen. Kyrill versprach Pillay bei dessen Moskau-Besuch vor ein paar Tagen immerhin, man werde intern über den ÖRK-Vorschlag beraten (s. #LaTdH von gestern).

Ziel der Bemühungen der Kirchen ist das möglichst baldige Schweigen der Waffen. Franziskus wird nicht müde zu betonen, wie sündhaft der Krieg ist, und die Akteur:innen der Ökumene fühlen sich an den Gründungsappell des Weltkirchenrates von 1948 gebunden. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, hieß es vor 75 Jahren mit den Verheerungen und Verbrechen des 2. Weltkrieges im Rücken. Wie man am schnellsten und nachhaltigsten aus dem Krieg aussteigt und den Frieden gewinnt, darüber allerdings wird unter Christ:innen gestritten. Auch darüber, ob man sich gezwungenermaßen mit Waffengewalt gegen einen Angreifer verteidigen darf, und wie weit ein solches Mandat für einen Verteidigungskrieg reicht.

Die weltweite Christenheit ist weit davon entfernt, selbst gerechtfertigte Verteidigungskriege heilig zu sprechen. Die immensen Kriegsschäden für Soldat:innen, Zivilbevölkerung, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sowie die Umwelt stehen der Ökumene vor Augen. Bereits mehrfach haben Akteur:innen wie die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus dem Moskauer Patriarchen Kyrill wegen seiner Kriegsprogaganda Gotteslästerung attestiert.

Die Ökumene hat einen weiten Weg zum Frieden zwischen den Kirchen in der Ukraine und Russland vor sich. Ein Weg, der wohl erst nach einem Waffenstillstand in Angriff genommen werden kann. Die christliche Friedensbewegung will „im Krieg den Frieden vorbereiten“. Dazu gehört sicher, der religiösen Vereinnahmung und Begründung des Krieges deutlich und immer wieder zu widersprechen: Egal, ob nun Kyrill oder die ukrainische Armee zum Heiligen Krieg ruft.


Gebet für den „heiligen Sieg“: Fragen an den Theologen Tobias Graßmann


Eule: Beim Video des ukrainischen Streitkräfte-Chefs handelt es sich um ein Gebet. Eine Bitte um den Segen und Beistand Gottes bei der Verteidigung der Heimat. Bisher hat man solche Töne vor allem von der Russisch-Othodoxen Kirche unter Patriarch Kyrill gehört. Darf man so beten?

Graßmann: Der Anschluss an Sprachformen der Rachepsalmen und Segensliturgien ist eindrücklich und suggestiv. Er führt vor Augen, wie religiöser Kultus auch sozialpsychologisch funktioniert. Und erinnert daran, dass nicht erst seit Leni Riefenstahls Parteitagsliturgien dieses Potential fleißig genutzt – oder sollte man sagen: missbraucht wird. Von den Guten und den Bösen. Den USA, China, Russland und aktuell besonders virtuos von der Ukraine mit ihrem medial so anschlussfähigen David vs. Goliat-Narrativ. Das ist nicht überraschend, sicher verständlich und im Rahmen eines gerechtfertigten Verteidigungskrieg vielleicht auch legitim. Aber man sollte sich nicht einfach daran gewöhnen.

Eule: In meiner Kinderbibel ruft David Goliat entgegen: „Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Speer. Aber ich komme zu dir im Namen des starken Gottes, den du verhöhnt hast.“ Dort ist ganz klar, auf wessen Seite Gott steht. In der Ukraine ist klar, dass die Aggression von Russland ausgeht. Macht es nicht einen Unterschied, ob man Gott aus der Position des Angegriffenen anruft?

Graßmann: Man sollte trotzdem erst einmal Erschaudern und einen Moment zurückzucken, wenn der Name Gottes wieder einmal über den Schlachtfeldern und den geladenen Waffen ausgerufen wird. Weil diese Form kriegerisch-heroischer Religion eben immer ein Spiel mit dämonischen Kräften ist, die schnell gerufen und dann nur schwer wieder gebannt sind. Die Eigendynamik eines Heiligen Krieges interessiert sich nicht dafür, ob sie von den Guten oder Bösen entfesselt wird.


Tobias Graßmann (@luthvind) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen und Pfarrer in der Gethsemanegemeinde auf dem Heuchelhof bei Würzburg.


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