Die Schwächen der Konservativen

Ist die Kirche „linksgrünversifft“? Welche Rolle spielen Konservative überhaupt (noch)? Woran scheitert ihre Kritik an der Institution und was müssen sie dringend lernen?

Alle Jahre wieder wird zum Weihnachtsfest über „politische“ Predigten debattiert und damit – wie Hermann Diebel-Fischer gestern hier in der Eule gezeigt hat – eigentlich die Frage, ob „die Kirche“ zu weit links stehe. Ist sie gar, um den AfD-Sound zu bemühen, „linksgrünversifft“?

Die Diskussion darüber, ob und wie die Kirche politisch sein darf, wird für gewöhnlich in den Feuilletons bürgerlicher Medien geführt und von AutorInnen bestritten, denen am Konservatismus gelegen ist. Dabei haben sich einige einer Öffnung oder Grenzverschiebung des Konservativen nach rechts verschrieben, andere sind angesichts von AfD und Rechtsradikalismus auf den Straßen umso mehr um eine Abgrenzung bemüht. Allen fällt es schwer, positiv zu bestimmen, was konservativ in unserer Zeit eigentlich bedeuten kann jenseits der Forderung, mit „Politik“ oder gar „linken“ Überzeugungen nicht auch noch beim Kirchgang behelligt zu werden.

In den vergangenen Jahren haben sich AutorInnen wie Benjamin Hasselhorn, WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt, der Theologieprofessor Ulrich Körtner und in diesem Jahr kurz vor Weihnachten die Publizistin Liane Bednarz in der ZEIT kritisch mit der politischen Positionierung „der Kirche“ auseinandergesetzt. Nicht alle Akteure wird man wie Bednarz von der Unterstellung eines Hanges zum Rechtspopulismus freisprechen können.

Was wollt ihr eigentlich?

Man könnte als nicht-konservativer Beobachter die Debatte sowieso mit dem Hinweis ad acta legen, dass „die Kirche“ sowieso immer schon politisch gewesen sei. Dass es nicht darum gehen kann, ob, sondern wie die Kirche politisch handelt. Dass eine Rückkehr zum Nationalprotestantismus des 19. Jahrhunderts, wie er sich bis in die Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durchgezogen hat, selbst konservative Christen kaum befriedigen dürfte, weil für sie heute zumeist andere Themen obenauf liegen.

Auch, dass die Abkehr beider Kirchen von Nationalismus, Rassismus und christlichem Chauvinismus eine Lerngeschichte ist, die maßgeblich über die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte während des Nationalsozialismus forciert wurde. Und welche:r anständige Konservative:r wünscht sich eine Abkehr von dieser heilsamen Geschichtspolitik? Zuletzt, dass im Lichte des Evangeliums sowieso weder Jude noch Grieche, Mann und Frau und eben auch nicht Rechts oder Links mehr sei, sondern allein die Frage maßgeblich, wie wir als Kinder Gottes verantwortlich diese Welt zu gestalten haben.

Allein, die Frage nach der polititschen Orientierung durch einen Rückgriff auf das Evangelium oder Bekenntnisse auszuschalten, funktioniert in unserer Zeit ersichtlich nicht (mehr). Die Auslegung der Schrift ist selbst Kampfplatz der Auseinandersetzung von rechten und liberalen Christen, die nicht ganz zu Unrecht, jedoch arg verkürzt als Konflikt zwischen evangelikalen und nicht-evangelikalen Christen gesehen werden kann. Dabei wird recht eigentlich darum gestritten, was unter Bibeltreue heute zu verstehen ist – übrigens auch innerhalb der evangelikalen Bewegung, vornehmlich zwischen jüngeren Akteur:innen und ihren (Über-)Vätern.

„Unter dem Dach der Kirche versammeln sich Menschen verschiedener politischer Couleur, die im Bekenntnis vereint sind“, behauptet Hermann Diebel-Fischer in seiner Replik auf Liane Bednarz. So richtig er damit natürlich liegt, was die Versammlung von Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugungen angeht, sitzt er doch einem Irrtum auf. Küchen-soziologisch gesprochen: Die kirchlichen Bekenntnisse spielen – wenn überhaupt – nur für deren Religionsbedienstete eine Rolle. Christliche Bekenntnisse wie das Apostolicum sind natürlich im liturgischen Gebrauch, werden jedoch in beiden großen Kirchen kaum mehr als Richtschnur der Rechtgläubigkeit angewendet.

Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wird sich übrigens eingehender mit dem 16. Artikel der Confessio Augustana (CA) „Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment“ befassen. Kontext ist hier die Formulierung einer aktuellen friedensethischen Position. Doch ob sich die Christen „an der Basis“ die Mühe machen, die CA als Korrektiv eigener Überzeugungen oder gar als bleibenden Kanon evangelisch-lutherischer Positionen anzuerkennen?

Die Angst der Konservativen

In der Kirche sind die meisten nicht aufgrund der Lehre, sondern aus Gewohnheit, familiärer und biographischer Verbundenheit, weil man sich davon einen Nutzen verspricht oder die ungefähren Ziele der Organisation teilt (Frieden auf Erden, Nächstenliebe). Wo kirchliches Handeln mit diesem Bild in Konflikt gerät oder der konkrete Nutzen als Gegenleistung für den geleisteten Tribut (Kirchensteuer) nicht mehr wahrgenommen wird, trennen sich die Wege.

Nun könnte man einwenden, dass es gerade Konservative unter den Christen sind, die diesem Blick auf die Institution widersprechen. Dass sie es sind, denen Schrift, Bekenntnis, Institutionenloyalität, Gehorsam gegenüber der Hierarchie und ganz allgemein „die Kirche“ am Herzen liegen.

Da ist sicher etwas dran, wenngleich man sich hüten sollte, eine solche konservative Grunddisposition allein auf der Ebene von Wertfragen zu erörtern und nicht auch, wie die „liberalen“ Spielarten der Kirchennähe, auf handfeste soziologische Gründe zurückzuführen. Auch Konservative lesen keine EKD-Ratsberichte und EKD-Denkschriften nur äußerst selektiv.

Die Angst der Konservativen vor ihrer eigenen Marginalisierung allerdings korrelliert zuzeiten mit der Furcht der Institution, ihrer verlustig zu gehen. Man weiß, übrigens auch in der EKD, was man an ihnen hat. Deshalb bemühen sich Vertreter:innen wie der damalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm zum Beispiel um eine scharfe Abgrenzung vom Linksradikalismus, die im Kontext der Seenotrettung auf dem Mittelmeer nicht nur unzweckmäßig, sondern auch übertrieben erscheint. Die Kirche hat mit Sicherheit kein Linksradikalismus-Problem, weil auf einem Schiff, das maßgeblich von christlichen Spender:innen finanziert wurde, von den (natürlich) linken Aktivist:innen eine Antifa-Fahne gehisst wird.

Den Rechten nicht auf den Leim gehen

Auf der anderen Seite des Spektrums schaut das anders aus. Gelegentlich kommt einem bei der Beschäftigung mit dezidiert konservativen Positionierungen angesichts des Rechtsradikalismus das Nietzsche-Zitat in den Sinn: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Nicht alle Konservative, die rechte Christen und ihre Überzeugungen verstehen und erklären wollen, lassen es dabei bewenden: Es soll schon auch vermittelt werden.

Das ist inhaltlich nicht zuletzt daher verständlich, weil konservative Grundüberzeugung anschlussfähig an rechtes Denken sind, wie zuletzt Martin Fritz herausgearbeitet hat. Doch ist es nicht allein der Ton, in dem sie vorgetragen werden, der Konservative von Rechtspopulisten scheidet. Richtige Konservative gehen den propagandistischen Setzungen der Rechten nicht auf den Leim.

Dazu gehört „grün“ nicht gleich mit „links“ zu verknubbeln. Hierzu besteht überhaupt kein Anlass: viele Grüne von heute sind gute Konservative, wie nicht nur der Blick auf die Einlassungen des neuen stellvertretenden Bundeskanzlers zeigt. Was sind grüne Konservative anderes als Konservative, denen die Bewahrung der Schöpfung besonders am Herzen liegt? Worin unterscheidet sich der Heimatnarrativ Robert Habecks, außer im geweihten Ton, vom gemäßigten Patriotismus der Christdemokratie?

Ähnlich verhält es sich mit den „linken“ Ansichten einiger Akteur:innen, die sich – wenn man sie eben nicht durch die rechtspopulistisch gefärbte Brille betrachtet – als stinknormal sozialdemokratisch oder christsozial herausstellen. Für die Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung kann man eintreten, ohne eine Mao-Fahne im Wohnzimmer zu hissen.

Den Blick weiten

Der Propaganda von Rechts nicht auf den Leim zu gehen, bedeutet mit Blick auf die Kirchen vor allem, die Annahme kritisch zu prüfen, sie und insbesondere die EKD wären „linksliberal“. Zunächst zerschellt dieser Blick ja am heute selbstverständlichen ökumenischen Blick. „Die Kirche“ kann man nur für linksliberal halten, wenn man den römischen Katholizismus, die Orthodoxie und die evangelikalen und charismatischen Bewegungen aus dem Blick verliert. Das ist in jedem Fall intellektuell unredlich.

Weltweit ist „die Kirche“ keine progressive Kraft, sondern in zahlreichen Kontexten nach wie vor der Reaktion verpflichtet, fortschrittsfeindlich, misogyn, homophob und von identitärem Denken geprägt. Nicht zuletzt feiern während der Corona-Pandemie in allen christlichen Konfessionen rechtsradikale Verschwörungsideologen fröhliche Urstände. Es sind derer wenige Teile der weltweiten Christenheit, wo solche Positionierungen problematisiert und aktiv bekämpft werden. Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gehören dazu, zumindest was ihre Funktionärsschichten angeht. Nur soll man das bitte nicht in kleindeutscher Perspektive als „linksliberale“ Hegemonie missverstehen.

Gelegentlich wird behauptet, an den deutschsprachigen Universitäten lehrte ja nicht mal ein gescheiter Rechtspopulist. Abgesehen davon, dass mir das Urteil darüber zu schnell gefällt erscheint, geht eine solche Polemik an der Tatsache vorüber, dass im katholischen und evangelischen Lehr- und Wissenschaftsbetrieb sehr wohl dezidiert konservative AkteurInnen unterwegs sind. Desgleichen gilt für die gemeindliche und übergemeindliche Bildungsarbeit, von der traditionellen publizistischen Macht ganz zu Schweigen. Anders als noch vor 20 Jahren aber stehen sie in ihren Institutionen nun auch Akteur:innen gegenüber, die ihre Positionen – gelegentlich launig im Ton – in Frage stellen.

Es gibt Konservative wie Liane Bednarz oder auch den Publizisten Andreas Püttmann, die diesen fröhlichen Austausch von Positionen – mithin also die plurale Gesellschaft – antizipiert haben, und die selbst in diesen Institutionen unterwegs, gern gelesene Autor:innen und aufmerksam gehörte Referent:innen sind. Übrigens weit über das konservative Stammpublikum hinaus. Ihre Kritik am „linksliberalen“ Mainstream fällt auch deswegen ausgewogener aus. Für solche konservative Differenzierung kassiert man allerdings massive Anwürfe von Rechts bis hin zu konkreten Gewaltandrohungen.

Schließlich hat sich während der Corona-Pandemie das Lagerbild noch einmal verschoben, weil sich weniger Linke und Rechte, Konservative und Progressive gegenüberstehen, sondern die große Mehrheit der Vernünftigen sich einer lauten Minderheit von Verschwörungsideologen samt ihrer Mitläufer sowie den rechtsradikalen Niesnutzern des Aufruhrs erwehren muss. Wo Demokraten gemeinsam zu Felde ziehen, sind Binnenkonflikte weniger wichtig.

Die „linksgrünversiffte“ EKD

Selbst in der vielgescholtenen EKD sieht „linksgrünversifft“ erstaunlich schwarz aus. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Anti-EKD-Masche einiger rechter und vornehmlich evangelikaler Akteure in den vergangenen 30 Jahren auch innerhalb der evangelischen Kirchen in Deutschland verfangen hat. Ein publizistischer Erfolg von Idea! De facto ist die Lage doch komplexer, als uns weisgemacht werden soll.

Im Kirchenamt und in den Kammern und Arbeitsgruppen der EKD ist in der Tat ein bunter Mix von Menschen in Haupt- und Ehrenämtern am Werkeln, der sich mit einfachen politischen Zuschreibungen nicht fassen lässt – ein Spiegelbild unser pluralen Gesellschaft. So arbeiten an den Denkschriften und „Gemeinsamen Worten“ Menschen mit christ- und sozialdemokratischem, grünem und liberalem parteipolitischen Hintergrund mit.

Wer das nicht glaubt, kann gerne einen gründlichen Blick in die Digital-Denkschrift der EKD aus diesem Jahr werfen, die erkennbar nicht übermäßig von linken Perspektiven auf die Digitalisierung und das Netz geprägt ist. Die Langatmigkeit und Unentschiedenheit kirchlicher Stellungnahmen ist geradezu das Produkt von Verständigungsprozessen zwischen unterschiedlichen politischen Überzeugungen, für die alle Akteur:innen im Lichte des Evangeliums streiten.

Schließlich wäre es den Konservativen gegönnt, sie würden im Blick auf öffentliche Stellungnahmen – wie das ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichte „Gemeinsame Wort der Kirchen zu Flucht und Migration“, das in der Tat sehr „progressiv“ daher kommt – ihre Schnappatmung einstellen und den darin formulierten – lehramtlich zwar unverbindlichen, aber eben doch kirchenhierarchisch legitimierten – Positionen zumindest die Funktion eines notwendigen Korrektivs eigener, langgehegter Überzeugungen zuschreiben. Das wäre jedenfalls ganz im Sinne der konservativen Loyalität gegenüber Kirche und Obrigkeit.

So jedenfalls werden die Erzeugnisse theologischen und kirchlichen Nachdenkens von denjenigen aufgefasst, die im Institutionengefüge selbst Verantwortung übernehmen. Ich denke da an so manche:n konfessionell-gefestigten Synodale:n, die das Banner des Luthertums hochhält. Übrigens häufig ganz ohne anderen gesellschaftlichen Konservatismen nahezustehen. Ich denke auch an die bibeltreuen Pietisten und Evangelikalen, die sich politisch und handgreiflich für die Anerkennung von Flüchtlingen und den Familiennachzug einsetzen. Die „Fronten“ sind längst nicht so einheitlich, wie es die Polemik gegen „die linksliberale Kirche“ vermuten lässt.

Die Schwächen der Konservativen: Ungenauigkeit in der Analyse. Unfähigkeit, sich ihrer eigenen Stärke in der Institution bewusst zu werden und strategische Allianzen zu bilden. Unsicherheit, das Eigene überhaupt auf griffige Begriffe zu bringen und zwar als positive Formulierungen, nicht als negative Abgrenzungen. Untadeligkeit im Umgang mit extremen Vertretern der eigenen Orientierung.

Funny enough sind das genau jene Schwächen, die man historisch der Linken zuschreibt.